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Merkel: "Wir hatten Meinungsverschiedenheiten - die haben wir auch nach wie vor" - Medwedjew: "Wir sind imstande, uns zu verständigen"

Pressekonferenz Deutsch-Russische Regierungskonsultationen in Sankt Petersburg

Sprecher: Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel, Präsident Dmitrij Medwedew *

(Hinweis: Die Ausschrift der fremdsprachlichen Ausführungen erfolgte anhand der Simultanübersetzung)

P MEDWEDEW: Sehr geehrte Damen und Herren, heute haben hier in Sankt Petersburg die zehnten Jubiläums-Konsultationen auf höchster Ebene stattgefunden, mit Beteiligung der Leiter der führenden Ministerien und Behörden Russlands und Deutschlands. Ich möchte von Anfang an sagen, dass das Leben selber und die Geschehnisse der letzten zwei Tage den Bedarf an diesem vollformatigen Dialog überzeugend bestätigt haben. Ich kann sagen, dass die Konsultationen der vergangenen Jahre zu einem effizienten Mechanismus der Zusammenarbeit geworden sind.

Ich möchte betonen, dass die heutigen Konsultationen, die heutigen Erörterungen vor dem Hintergrund einer ernsthaft veränderten Lage in der Weltpolitik und in der Weltwirtschaft stattgefunden haben. Wir sind der Auffassung, dass man gerade unter solchen Bedingungen die Reife der Partnerschaft aufzeigen kann, die in den Beziehungen zwischen Russland und Deutschland existiert. Der Faktor der Stabilität und Sicherheit in Europa ist für uns dabei ganz offensichtlich.

Leider haben die letzten Ereignisse im Kaukasus auch aufgezeigt, dass das aktuelle System der globalen Sicherheit heute nicht imstande ist, militärischen Aventüren vorzubeugen. Wir sollten alles daran setzen, eine moderne Architektur für die Sicherheit der Zukunft einzurichten. Wir haben bezüglich der Situation im Kaukasus natürlich die Zusammenarbeit mit der Europäischen Union und die Umsetzung der Vereinbarungen mit dem französischen Präsidenten angesprochen. Wir möchten den Beitrag Deutschlands zur Ausgestaltung der internationalen Beobachtermission in Georgien unterstützen. Das ist natürlich ein Instrument zur Sicherstellung, zur Gewährleistung der allgemeinen Stabilität.

Die Erzielung all dieser Entscheidungen sollte auch mit einem neuen Vertragswerk über die Sicherheit in Europa einhergehen. Diese Idee wurde von uns schon präsentiert, auch während meiner ersten Reise nach Berlin. In den darauf folgenden Kontakten mit der Frau Bundeskanzlerin habe ich entsprechende Materialien weitergeleitet. Ich hoffe, dass diese Frage auch weiterhin mit Interesse erörtert wird. Wir hoffen, dass die Anzahl der Anhänger dieser Idee weiter wachsen wird.

Eine weiteres wichtiges Thema, das wir erörtert haben, war die aktuelle Finanzkrise. Wir sind erneut zu der Schlussfolgerung gekommen, dass das existierende globale System der Finanzsicherheit wie auch der globalen Sicherheit insgesamt inadäquat gegenüber den heutigen Herausforderungen ist. Im Vordergrund der Diskussion über die aufgetretenen Probleme standen auch die fehlerhaften Entscheidungen in den USA, für die wir heute praktisch alle zahlen müssen.

Was die Wirtschaftsbeziehungen zwischen Russland und Deutschland anbetrifft, so werden wir dieses Jahr eine Rekordmarke von etwa 60 Milliarden Dollar erreichen. Wir sind bestrebt, dieses Wachstum auch weiterhin zu fördern. Wir haben im Laufe der Konsultationen einige Dinge vereinbart: Zum ersten wird die Zusammenarbeit in zwei prioritären Ausrichtungen intensiviert, und zwar zum einen hinsichtlich der Erhöhung der Effizienz der Energiewirtschaft und zum anderen im Gesundheitswesen. Es wurden hier einige Pilotprojekte vereinbart.

Was das Gesundheitswesen anbetrifft, so werden eine neue Unterarbeitsgruppe und ein regulärer Dialog auf der Ebene der Wirtschaftsminister und der Wirtschaftsberater der Kanzlerin und des Präsidenten eingerichtet. Wir hoffen, dass an diesem Dialog auch die führenden Unternehmer unserer beider Länder beteiligt werden. Das wird auch ein guter Mechanismus im Rahmen der von der Frau Bundeskanzlerin vorgeschlagenen Partnerschaft in der Forschung sein.

Wir haben auch über Nord Stream und über neue hochtechnologische Projekte gesprochen, wie zum Beispiel die Einrichtung eines Lasers in Hamburg und die Einrichtung eines Zentrums für die Forschung mit Ionen und Antiprotonen. Wir möchten uns auch an diesen Themen beteiligen.

Zum Abschluss unserer Arbeit wurden wichtige Vertragswerke unterzeichnet, eines über die Zusammenarbeit im Bereich des Erdgasvorkommens Juschno-Russkoje, an dem sich deutsche Firmen und die russische Gazprom beteiligen. Es geht hierbei um die Mitbeteiligung des deutschen Unternehmens E.ON AG. Wir haben auch eine Vereinbarung über die Einrichtung eines gemeinsamen Instituts für Wissenschaft und Technologie erreicht. Es wurde die Deklaration über die Zusammenarbeit im Bereich des europäischen Zentrums für die Forschung mit Ionen und Antiprotonen zwischen dem ROSATOM und dem Ministerium für Bildung und Forschung der Bundesrepublik Deutschland unterzeichnet. Es wurde auch eine Intensivierung der Zusammenarbeit im Bereich des Gesundheitswesens vereinbart.

Wir haben uns heute auch an dem Petersburger Dialog beteiligt. Er ist ein gutes Forum, das bereits mehrere Male zusammengekommen ist. Dieses Forum ist wirklich eine gute Plattform für vertrauensvolle Zusammentreffen zwischen den gesellschaftlichen Organisationen, den Politikern und anderen Organisationen. Diese Plattform sollte sich auch weiterhin entwickeln.

Ich möchte der Frau Bundeskanzlerin und den hier anwesenden deutschen Kollegen sowie allen Bürgern der Bundesrepublik Deutschland nochmals zum morgen anstehenden Feiertag, dem Tag der Deutschen Einheit, gratulieren. Die Vereinigung zwischen der DDR und der Bundesrepublik Deutschland ist natürlich eines der wichtigsten Ereignisse des 20. Jahrhunderts, das aufgezeigt hat, dass auch die kompliziertesten internationalen Probleme auf friedlichem Wege gelöst werden können, wenn der politische Wille vorhanden ist und wenn alle Beteiligten das unterstützen.

Ich möchte Frau Merkel für eine umfassende Erörterung aller anstehenden Fragen danken. Ich möchte mich auch bei allen anderen deutschen Partnern bedanken. Ich hoffe, dass dieses Zusammentreffen in Sankt Petersburg einer der wichtigen Bestandteile des fruchtbaren deutsch-russischen Dialogs sein wird.

BK'IN DR. MERKEL: Danke schön, Herr Präsident, auch für die Glückwünsche zum morgigen Feiertag. Ich kann persönlich sagen, dass ich ohne den Prozess der Deutschen Wiedervereinigung gar nicht Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland sein könnte. Insofern habe ich diese Glückwünsche natürlich sehr gerne aufgenommen.

Danke schön auch für die Gastfreundschaft hier in Sankt Petersburg. Die Veranstaltung des Petersburger Dialogs, auch als Ergänzung der deutsch-russischen Regierungskonsultationen, hat noch einmal gezeigt, in welch breiter Fächerung inzwischen bis weit in die Gesellschaft hinein die Dialoge geführt werden. Mich hat heute insbesondere das Jugendparlament und die beiden jungen Leute, die uns berichtet haben, was für Vorstellungen sie über die deutsch-russischen Beziehungen haben, beeindruckt. Ich glaube, wir können auf die zukünftige Generation sehr setzen.

Wir haben hier heute auch die Gelegenheit gehabt, mit Vertretern der deutschen Wirtschaft zu sprechen. Das war hilfreich.

Natürlich hat das Thema der Außenpolitik einen wichtigen Raum eingenommen. Die Außenminister haben sehr lange miteinander gesprochen. Wir werden das heute Abend beim Abendessen auch noch fortsetzen.

Dieser Sommer war natürlich durch den Kaukasus-Konflikt geprägt, auch durch Divergenzen, die noch nicht ausgeräumt sind. Wir glauben, dass die territoriale Integrität Georgiens weiterhin nicht verhandelbar ist. Wir sind aber froh, dass wir jetzt durch den Sechs-Punkte-Plan schrittweise Fortschritte erzielen können, einmal was den Abzug der Truppen aus Kern-Georgien anbelangt, jetzt, was die Beobachtermission der OSZE anbelangt, und auch, was die Zusage anbelangt, dass zum 10. Oktober die russischen Truppen in den Pufferzonen durch die Beobachter ersetzt werden. Wichtig wird dann sein, dass die Genfer Gespräche Mitte Oktober, die sicherlich sehr schwierig werden, den politischen Prozess noch einmal in Gang setzen; denn ich glaube, dass das zur Lösung dieses Konfliktes noch von großer Bedeutung ist.

Wir stehen auch vor einer Vielzahl von anderen politischen Herausforderungen, die wir im Blick behalten müssen. Ich nenne hier zum Beispiel nur die Frage bezüglich Moldawiens und Transnistriens. Wir sollten versuchen, das, was man als eingefrorene Konflikte betrachtet, einer Lösung zuzuführen, damit nicht wieder Konflikte ausbrechen, mit denen wir uns dann auseinandersetzen müssen. Dennoch hat der Prozess der Verhandlung des Sechs-Punkte-Plans durch die französische Präsidentschaft und die Europäische Union einen Weg aufgezeigt, auch durch Gespräche zumindest ein Stück voranzukommen, wenngleich noch längst nicht alle Konflikte gelöst sind.

Wir haben einen weiteren Schwerpunkt in der wirtschaftlichen Kooperation gehabt. Ich sagte, dass Vertreter der deutschen Wirtschaft hier heute beim Mittagessen anwesend waren. Die beiden Schwerpunkte sind schon genannt worden: zum einen die Kooperation im Gesundheitswesen und zum anderen der umfassende Bereich der Energiezusammenarbeit. Wir haben gesagt, wir wollen die strategische Arbeitsgruppe, die die gesamten wirtschaftlichen Kontakte seit Jahren in sehr guten Händen hält, durch eine Unterarbeitsgruppe erweitern, in der wir auch unsere Verantwortlichen mit einbringen, um die Zusammenarbeit voranzubringen. Dazu brauchen wir Leuchtturmprojekte. Ein solches Leuchtturmprojekt könnte eine Stadt sein, in der einmal die gesamte Frage der Energieeffizienz beleuchtet wird.

Wir haben heute auf der anderen Seite die Unterzeichnung des wichtigen Abkommens zwischen E.ON und Gazprom gehabt, bei der auch die Zusammenarbeit im Energiebereich deutlich wurde. Auch die deutsche Seite steht zu dem Projekt Nord Stream. Dass wir dieses Projekt brauchen, sehen wir auch, wenn wir uns anschauen, dass unsere europäischen Kollegen im südlichen Raum mit der südlichen Pipeline in analoger Weise mindestens so schnell sind wie wir im nördlichen Bereich. Das ist nicht nur für Deutschland wichtig, sondern auch für viele andere europäische Länder.

Wir werden viele unserer Energieeffizienzmaßnahmen auch im Bereich des Klimaschutzes sehen. Insbesondere das Gebiet "Joint Implementation" – also gemeinsame Projekte – eröffnet uns hier Spielräume. Wir werden auch die Verhandlungen zu den internationalen Klimaschutzabkommen vernünftig und gemeinsam weiter gestalten; denn nächstes Jahr wird es diesbezüglich in Kopenhagen zu wirklich wichtigen Entscheidungen über ein Abkommen für die Zeit nach dem Kyoto-Abkommen kommen.

Wir haben auch sehr intensiv über den Infrastrukturbereich gesprochen, etwa über das Thema Bahninfrastruktur. Hier gibt es bereits herausragende deutsch-russische Kooperationen.

Natürlich ist es auch nicht möglich, in diesen Tagen zusammenzusitzen, ohne sich über die Krise auf den Finanzmärkten zu unterhalten. Hier besteht Übereinstimmung, dass die internationalen Finanzmärkte Regeln brauchen und dass diese Regeln jetzt auch implementiert werden müssen – wir können uns nach dieser Krise nicht mehr mit theoretischen Diskussionen abgeben. Ich glaube, auf diesem Gebiet wird die Kooperation mit Russland sehr gut funktionieren.

Wir wissen leider, dass die Finanzmarktkrise die sogenannte Realwirtschaft nicht völlig unbeeinflusst lassen wird und dass sie Auswirkungen sowohl auf die russische Wirtschaft als auch auf die deutsche Wirtschaft haben wird. Deshalb ist es jetzt auch sehr wichtig, die Kooperationsmöglichkeiten zu nutzen und zu suchen, um in den Bereichen, in denen wir die Dinge gemeinsam gestalten können, die entsprechenden Kooperationen zu finden und auszubauen.

Insgesamt gibt es also eine breite Palette von Gemeinsamkeiten in der Zusammenarbeit und vor allen Dingen ein Gesprächsklima, in dem auch unterschiedliche Meinungen ausgetauscht werden können. Vom Petersburger Dialog wurde gesagt, dass es manchmal auch laut zuging. Ob laut oder leise, ist aber egal - jedenfalls ist die Grundlage dafür da, dass man miteinander reden kann. Das finde ich sehr wichtig. Nur über das Gespräch lassen sich unterschiedliche Meinungen auch wieder zu einer gemeinsamen Position bringen.

Herzlichen Dank noch einmal, dass wir hier zu Gast sein durften.

FRAGE: Ich habe eine Frage an die Frau Bundeskanzlerin: Nach der Krise in Südossetien hören wir immer mehr über die Erweiterung der NATO gen Osten. Sie haben auch darüber gesprochen, dass Georgien und die Ukraine so schnell wie möglich in den Membership Action Plan aufgenommen werden müssen. Haben Sie auch über das neue System der kollektiven Sicherheit in Europa gesprochen? Das ist die Initiative des Präsidenten Medwedew, die er während seines Besuchs in Berlin vorgestellt hat. Ist es möglich, dass diese Initiative auch von der deutschen Seite Unterstützung erfährt?

BK'IN DR. MERKEL: Was diese Initiative anbelangt, haben wir Dokumente bekommen und werden auch heute Abend beim Abendessen noch einmal darüber sprechen - dazu hatten wir durch das dicht gedrängte Programm einfach noch keine Möglichkeit. Ich habe natürlich Interesse daran, zu erfahren, wie diese Initiative funktionieren kann und wie sie sich auch in die bestehenden Strukturen einbauen lässt, die wir heute schon haben.

Zu der Frage der NATO-Mitgliedschaft von mittel- und osteuropäischen Staaten - Sie haben Georgien und die Ukraine genannt - hat Deutschland folgende Position, die sich seit dem NATO-Gipfel in Bukarest übrigens nicht geändert hat: Erstens. Die Länder können und werden, wenn sie es wollen, Mitglieder der NATO sein. Was den konkreten Schritt der Aufnahme in den Membership Action Plan betrifft, haben wir von deutscher Seite die Position vertreten, dass die Zeit dafür noch nicht reif ist. Im Dezember wird es auf der NATO-Außenministerkonferenz eine erste Bewertung geben - ich sage bewusst: eine erste Bewertung. Deshalb glaube ich, dass Ihre Position einer möglichst schnellen Aufnahme in den Membership Action Plan nicht die deutsche Position war.

Dennoch sage ich auch: Es muss den Ländern möglich sein, von ihrer Seite aus frei zu entscheiden, ob sie Mitglieder der NATO sein wollen, und es muss der NATO dann möglich sein, frei darüber zu entscheiden, ob Länder aufgenommen werden oder nicht. Aber in den beiden genannten Fällen ist der Stand so, dass sie sich jetzt im Zustand des "Partnerships for Peace" befinden. Das ist ein Zustand auf dem Wege zur NATO-Mitgliedschaft. Wie gesagt, eine erste Bewertung auf dem Weg zum MAP wird es im Dezember geben - nicht mehr und nicht weniger.

FRAGE: Ich habe zwei Fragen zur Finanzmarktkrise. Herr Präsident, bisher ist Russland in internationalen Gesprächskreisen, jedenfalls in den Spitzengesprächskreisen - ich spreche die G7 an -, im Gegensatz zu den G8-Gesprächen nicht vertreten. Möchte Russland in diese Runde hinein? Wenn ja: Was versprechen Sie sich davon?
Eine Frage an die Frau Bundeskanzlerin: Wäre es nicht hilfreich, wenn auch Russland und zum Beispiel auch China als wichtiger Finanzakteur in diese Gesprächsrunde hineinkäme?
Eine weitere Frage: Eventuell gibt es am Sonnabend ein Treffen in Paris, wiederum in einem ganz anderen Format, und zwar dem der europäischen G8-Länder. Mit welchen Erwartungen fahren Sie dahin? Was soll dort besprochen werden?


P MEDWEDEW: Zur Frage bezüglich der derzeitigen Situation auf den Finanzmärkten und zu dem Modell der Finanzarchitektur: Wir haben das schon angesprochen, auch mit der Frau Bundeskanzlerin. Es ist verständlich, dass das System, das entstanden ist, heute nicht imstande ist, die Aufgaben zu meistern, die gemeistert werden müssen, um ein ausgewogenes Finanzsystem aufrechtzuerhalten. Es garantiert auch nicht, dass der eine oder andere Staat nicht Entscheidungen trifft, die dann in einer Kettenreaktion die internationalen Finanzbeziehungen beeinträchtigen.

Die Tatsache, dass Russland seit längerer Zeit nicht an den Gesprächen in diesen Fragen des Finanzbereichs auf G8-Ebene - es geht allerdings um verschiedene Formate, das ist also nicht so eindeutig - teilnehmen konnte, nützt der Diskussion zu diesen komplizierten Fragen natürlich nicht. Es nützt auch nicht der Entscheidungsfindung bei den schwierigsten Problemen, mit denen wir heute konfrontiert sind.

Gerade während der heutigen Konsultationen haben wir es angesprochen - unsere russischen Kollegen und auch ihre deutschen Partner haben das angesprochen -: Wenn man diese kompliziertesten Fragen heute schon besprechen muss, dann sollte man das nicht nur im G7-Format und sogar nicht nur im G8-Format tun, sondern sollte auch die anderen großen Länder einbeziehen, die ebenfalls ein wichtiges Wort in der Finanzwelt zu reden haben.

Ich weiß nicht, ob das vielleicht im Format G8 plus Outreach-Staaten oder in einem anderen Format diskutiert werden kann, aber es liegt auf der Hand, dass wir nur gemeinsam imstande sein werden, die neue Finanzarchitektur zu entwickeln. Ich glaube, das ist allen heute klar. Es ist nutzlos, sich hinter alten Schemen zu verstecken und zu sagen, man wolle das alleine lösen. Das wird man nicht tun können. Auch der schüchterne Versuch auf dem G8-Gipfel in Japan hat sein Ziel nicht erreicht.

Heute müssen wir ganz deutlich sagen, dass wir solche Entscheidungen viel schneller anstreben sollten. In diesem Fall hätte es vielleicht möglich sein können, dass die Krisen, die in den Vereinigten Staaten begonnen haben und sich dann in einer Kettenreaktion in anderen Staaten fortgesetzt haben, wenigstens teilweise abzuwenden. Das ist vielleicht die Lehre für die Zukunft.

BK'IN DR. MERKEL: Dieser Lehre schließe ich mich an. Was die G7- und G8-Struktur anbelangt, ist es so, dass es eine bestehende Diskussion auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs der G8 gibt. Das heißt, wenn wir unsere Wirtschaftsdiskussion im G8-Kreis haben, dann ist Russland selbstverständlich dabei. So war es auch in Toyako, wenngleich manche Bemühung dort eben nicht den Erfolg gezeigt hat, den ich mir gewünscht hätte.

Die Frage, ob die Finanzministergruppe, die als G7-Gruppe tagt, auf die G8 ausgeweitet werden soll, muss in einem umfassenderen Maß diskutiert werden. Wenn ich es richtig verstehe, ist der historische Grund für die Zusammensetzung dieser Gruppe, dass die Finanzsysteme sehr unterschiedlich strukturiert waren. In dem Maße, in dem Russland auch Börsenstrukturen, Aktienstrukturen usw. hat - das entwickelt sich schließlich -, wird diese Frage sicherlich auf die Tagesordnung kommen. Die gleiche Frage wird sich für das chinesische Finanzsystem und die asiatischen Börsen stellen. Wir erleben jetzt schon - deshalb haben wir auch das Outreach-Format -, dass viele Probleme nicht mehr ohne die Schwellenländer gelöst werden können. Wenn man über Ungleichgewichte oder über die Erlangung von Gleichgewichten im finanziellen Bereich spricht, wird sehr offensichtlich werden, dass auch andere Länder als die G8-Länder dabei sein müssen.

Bezüglich der Struktur der Finanzministergruppe will ich mich also nicht konkret festlegen. Ich will nur sagen: Es ist natürlich so, dass wir auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs gemeinsam darüber sprechen. Der russische und der deutsche Finanzminister zum Beispiel haben darüber auch sehr intensiv diskutiert.

Übermorgen, am Samstag, geht es in der Tat um ein Treffen der der Staats- und Regierungschefs der europäischen G8-Länder, also Großbritannien, Italien, Frankreich und Deutschland. Wir hatten ein ähnliches Treffen - vielleicht erinnern Sie sich - schon einmal in London. Ich kann mich zeitlich nicht genau festlegen, glaube aber, dass dieses Treffen Anfang des Jahres oder im Frühjahr stattgefunden hat. Der Sinn dieses erneuten Treffens ist es, zu überlegen, welche Regeln wir haben sollten und wie wir diese Regeln in den G8-Club insgesamt einspeisen können. Der französische Präsident hat vorgeschlagen - ich habe das unterstützt -, dass wir auch auf der Ebene der G7 oder G8 mit den Outreach-Staaten - oder jedenfalls einigen davon - noch einmal zusammenkommen und die Lektion aus dieser Krise lernen.

Im Augenblick befinden wir uns in der Phase des Managements der Krise. Sicherlich werden wir auch in dieser Phase unsere Erfahrungen austauschen. Das wird aber im Wesentlichen auf dem Europäischen Rat Mitte Oktober erfolgen. Das Treffen am Samstag dagegen dient sozusagen der Abgleichung von Vorschlägen, die wir seitens der EU-Teilnehmer im G8-Bereich machen würden, um zu sagen: So müsste eine verbesserte Regelung der Finanzmärkte aussehen.

FRAGE: Herr Präsident, Frau Bundeskanzlerin, gerade haben die Konsultationen stattgefunden. Sie haben sich auch mit Teilnehmern des Petersburger Dialogs getroffen. Man kann Ihre Aussagen so verstehen, dass Sie zufrieden sind und dass Sie auch ähnliche Formen des Umgangs fördern möchten. Welchen praktischen Effekt haben die bestehenden Formate des deutsch-russischen Dialogs?

P MEDWEDEW: Ich glaube, dass wir hier die gleiche Position vertreten: Der praktische Effekt solcher Veranstaltungen besteht darin, dass wir zusammenkommen, dass wir diskutieren und dass wir verschiedene Probleme in wirtschaftlichen und humanitären Fragen lösen. Die zwischenstaatlichen Regierungskonsultationen sind ein einzigartiger Mechanismus, der es uns ermöglicht, im Beisein aller Schlüsselminister fast alle Bereiche durchzusprechen.

Wie dem auch sei, 60 Milliarden Dollar Handelsumsatz zwischen Russland und Deutschland ist eine gewichtige Zahl. Diese wird sozusagen von konkreten Vorhaben aufgefüllt. Heute haben wir uns getroffen und haben im bilateralen Format diskutiert. Wir haben in den Besprechungen mit den Unternehmen beim Mittagessen auch eine Reihe von neuen Vorhaben ins Leben gerufen, die wir in der nächsten Zeit umsetzen können - auf dem russischen Territorium wie auch auf dem deutschen Territorium. Das betrifft die Verkehrsinfrastruktur und den Eisenbahnverkehr. Eine Reihe von interessanten Ideen wurde auch im Bereich der Energieeffizienz vorgeschlagen. Das ist gerade für Russland besonders aktuell.

Natürlich entstehen nach solchen Diskussionen auch neue Verträge. Man kommt dann auch zu einer aktiven Phase der Ausarbeitung von diesen oder jenen Vereinbarungen, die in solchen Formaten getroffen worden sind. Kurzum: Ich halte diesen Mechanismus für sehr nützlich, hochaktuell und einzigartig. Dass wir in einem solchen Format zusammenkommen, bringt wirklich Nutzen.

Was den Petersburger Dialog anbelangt: Das ist wirklich ein guter Mechanismus, ein gutes Instrument, eine gute Plattform für die Erörterung von überaus verschiedenen Fragen, die die Öffentlichkeit sowohl in Russland als auch in Deutschland und auf der Welt besorgt machen. Deswegen sind die Themen beim Petersburger Dialog im Grunde die gleichen gewesen wie auch bei den Regierungskonsultationen. Man hat die internationale Finanzkrise angesprochen und man hat die Probleme angesprochen, die im August im Kaukasus entstanden sind. Das ist gut so, denn das ermöglicht den Organisationen unserer beiden Staaten, auch mit dem politischen Establishment zu sprechen, einander in die Augen zu schauen und die kompliziertesten Fragen frei auszudiskutieren.

Die Frau Bundeskanzlerin hat hier erwähnt, dass Sie einen guten Eindruck vom Dialog im Jugendparlament hat. Es ist wirklich sehr gut, dass die Jugendlichen unserer beiden Staaten einander treffen und die gleichen Themen besprechen - vielleicht unter einem anderen Blickwinkel. Das ist eigentlich das Unterpfand der künftigen intensiven Entwicklung der russisch-deutschen Beziehungen.

BK'IN DR. MERKEL: Ich glaube, dass wir nur über das Gespräch - egal auf welcher Ebene - zu einem gegenseitigen Kennenlernen und dann eventuell zum Verständnis und eventuell zu gemeinsamen Positionen kommen können. Wir haben zum Beispiel über den 3. Oktober 1990 gesprochen. Man muss konstatieren, dass sich, wenn man einmal die vielleicht dominierende Meinung in der russischen Gesellschaft und die dominierende Meinung in der deutschen Gesellschaft betrachtet, seitdem schon Widersprüche entwickelt haben über das, was 1990 passiert ist, und dass es gravierend unterschiedliche Einschätzungen bezüglich dessen gibt, was in der Folge bei der Erweiterung der Europäischen Union und der Erweiterung der NATO passiert ist.

Was hat der Zerfall der Sowjetunion bedeutet, welche Rolle spielt er? Ich denke, dass es sehr wichtig ist - ich habe das heute auch beim Petersburger Dialog gesagt -, dass wir das miteinander aufarbeiten; denn wenn die Sichtweise in diesen Fragen ganz unterschiedlich ist, dann führt das letztlich dazu, dass auch konkrete politische Ereignisse unterschiedlich interpretiert werden und wir dann auch zu sehr unterschiedlichen Einschätzungen kommen, wie jetzt zum Beispiel in der Frage des Georgien-Konfliktes.

Ich glaube, dass es, wenn wir solch einen breit angelegten gesellschaftlichen Dialog und auch die Zusammenarbeit der Regierungen haben, immer auch ein bisschen Zeit sein sollte, um über diese generellen Fragen zu sprechen; denn wenn sich das in unterschiedlicher Weise verfestigt, können daraus natürlich viele Interpretationen entstehen, die uns letztlich nicht weiterhelfen.

Deshalb ist es so wichtig, dass lange Gespräche geführt werden - wir haben als Politiker immer vergleichsweise wenig Zeit -, etwa beim Petersburger Dialog in zwei- bis dreitägigen Gesprächen zwischen Vertretern aller gesellschaftlichen Gruppen, auch über zivilgesellschaftliche Fragen und die Fragen der Nichtregierungsorganisationen. Die Jugendlichen haben darüber wohl gestritten. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob sie zum Schluss den gemeinsamen Schuldigen in der Presse gefunden haben, die alles falsch darstellen würde. Das ist jetzt nicht meine Meinung; vielmehr haben die jungen Leute, als ich sie gefragt habe, wie sie sich geeinigt hätten, gesagt, die Darstellung über das, was geschehen ist, sei so mangelhaft gewesen, dass es notwendig gewesen sei, dass sie sich direkt darüber unterhalten. Ob das schon der einzige Unterschied ist, wage ich zu bezweifeln. Man kann also vielleicht noch ein bisschen tiefer gehen.

Dennoch sage ich: Es lohnt sich und es ist notwendig, dass wir eine gemeinsame Basis finden. Diese Basis ist nicht in allen Fällen vorhanden. Es gibt sehr unterschiedliche Vorstellungen und zum Teil auch sehr unterschiedliche Gegebenheiten, mit ganz unterschiedlichen historischen Entwicklungen. Deshalb geht es nur über das Reden, nicht über das Pflegen von Vorurteilen, wenn man überhaupt vorankommen will.

FRAGE: Frau Bundeskanzlerin, würden Sie sagen, die Beziehungen zu Russland haben sich nach dem heutigen Tag ein Stück weit wieder normalisiert und es geht zwar jahreszeitlich, aber nicht mehr politisch auf einen Winter zu? Wird sich Deutschland beim bevorstehenden Europäischen Rat für eine Wiederaufnahme der Verhandlungen über das Partnerschaftsabkommen stark machen, oder sehen Sie die Voraussetzungen dafür noch nicht ganz gegeben?

BK'IN DR. MERKEL: Ich habe auch nach dem Aufenthalt in Sotschi die Meinung nicht geteilt, dass jetzt wieder der Kalte Krieg ausgebrochen sei. Wir hatten Meinungsverschiedenheiten - die haben wir auch nach wie vor. Wir haben dann versucht, aus diesen Meinungsverschiedenheiten irgendwie trotzdem einen Weg zu finden. Der Sechs-Punkte-Plan war richtig. Entlang dieses Plans wird jetzt gearbeitet. Insofern kann ich nur sagen: Es gibt Bereiche, in denen sind wir unterschiedlicher Meinung, aber es gibt auch Bereiche, in denen die Kooperation möglich ist und verbessert werden kann. Über die Bereiche, in denen es unterschiedliche Meinungen gibt, muss weiter gestritten werden.

Die Vielzahl der Gespräche ermöglicht es eben, dass auch ein solcher divergierender Meinungsaustausch möglich ist und man danach trotzdem wieder über ein Thema sprechen kann, das die gemeinsamen Interessen in konstruktiver Weise berührt. Aber ich bin auch nicht aus Sotschi weggefahren mit dem Eindruck, dass ich nun über Monate kein Gespräch mehr mit dem russischen Präsidenten führen würde. Insofern schließe ich nicht aus, dass es auch wieder harte Phasen mit unterschiedlichen Meinungen geben wird und dass es dann auch wieder Bereiche geben wird, in denen die Dinge sehr gemeinsam beurteilt werden.

Was das Partnerschaftsabkommen anbelangt, so haben wir uns im Europäischen Rat geäußert: Wenn die Fragen des Abzugs aus Kern-Georgien und der Pufferzone gelöst sind - manch einer in der EU wird vielleicht sagen: wenn auch noch der politische Prozess in Genf in Gang gekommen ist -, dann wird von unserer Seite aus weiter verhandelt. Es wird demnächst einen EU-Russland-Gipfel geben - ich glaube, in Frankreich. Sicherlich wird das der Zeitpunkt sein, an dem man wieder über genau dieses Thema spricht. Ich glaube, dass wir uns dem Punkt zumindest nähern, zu dem die Bedingungen, die wir im Europäischen Rat gestellt hatten, erfüllt sind. Ich finde, man sollte dann auch von unserer Seite, von der europäischen Seite, die Bedingungen einhalten und jetzt nicht noch etwas dazutun. Ich muss aber dazusagen, dass auch damit aus unserer Sicht noch nicht eine völlig zufriedenstellende Situation bezüglich der territorialen Integrität Georgiens erreicht ist.

P MEDWEDEW: Zwei Dinge möchte ich anmerken, wenn Sie gestatten. Ich bin der Meinung, dass alle Gipfeltreffen, besonders solche wie dieses hier in Sankt Petersburg, uns nicht teilen, sondern einander näherbringen. Was unsere Kontakte anbelangt, wurden sie niemals unterbrochen, weder vor Sotschi noch nach Sotschi. Ich glaube, es ist unsere Pflicht, stets in Kontakt zu sein und selbst die schwierigsten Fragen zu besprechen, auch diejenigen, mit denen die Russische Föderation im August nach der georgischen Aggression konfrontiert war.

Was die Zukunft der russisch-europäischen Beziehungen anbelangt: Das liegt alles in unseren Händen. In diesen Beziehungen haben alle ihre Interessen, sowohl die Europäische Union als auch die Russische Föderation, die übrigens auch ein Teil Europas ist. Wenn wir uns in die richtige Richtung bewegen werden und wenn wir uns nicht hinter Schwierigkeiten verstecken werden, dann werden wir auch näher an die Ziele kommen, die wir uns gesetzt haben. In diesem Sinne, glaube ich, hat sich nichts Dramatisches ereignet.

Die Bewegung läuft in die richtige Richtung und zeigt, dass wir fähig sind, uns über die schwierigsten Fragen auszutauschen - selbst unter den derzeitigen Bedingungen der internationalen Lage, die im Zusammenhang mit der Finanzkrise schwieriger geworden sind. Wir sind imstande, uns zu verständigen. Das ist die Aufgabe der Politiker: Sich nicht in den eigenen Ecken zu verstecken, sondern übereinzukommen und sich zu verständigen. Das ist auch der Auftrag der Bevölkerung, die die Politiker in ihre Ämter wählt, an die Politiker.

Ich glaube, auf diese Weise werden auch die europäischen Politiker vorgehen. So werden auch die russischen Politiker handeln. So werden wir weiter verfahren. - Vielen Dank, sehr geehrte Kollegen, für Ihre Aufmerksamkeit.

* Die Pressekonferenz fand am 2. Oktober 2008 in St. Petersburg statt.

Quelle: Website der Bundesregierung; 3. Oktober 2008; www.bundesregierung.de



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