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Nach Osten und Westen offen für neue Partner

Jahresbotschaft von Russlands Präsident Medwedjew

Von Irina Wolkowa, Moskau *

Die gestrige Jahresbotschaft von Präsident Medwedjew an das russische Parlament, vorgetragen im prunkvollen Georgensaal des Kremls vor rund 850 Gästen, war seine dritte und die siebzehnte insgesamt. Boris Jelzin hatte das Ritual – eine Mischung von Bestandsaufnahme und Ausblick – bereits in seiner ersten Amtszeit eingeführt.

Die Erwartungen hingen diesmal besondere hoch: Russlands Präsident Dmitri Medwedjew hatte vor einer Woche in seinem Videoblog gewarnt, Stabilität schlage in Stagnation um, das Niveau der politischen Konkurrenz müsse daher angehoben werden. Vor allem Bürgerrechtler und die liberale Opposition, die seit 2003 nicht mehr in der Duma vertreten ist, hatten daher gehofft, Medwedjew werde sich vor allem mit diesem Thema auseinandersetzen. Zum politischen Teil indes kam der Präsident erst in der 60. von insgesamt 74 Minuten Redezeit und konzentrierte sich dabei auf Außen- und Sicherheitspolitik. Russland sei bereit, mit interessierten Staaten an einer Raketenabwehr mitzuarbeiten, damit alle Länder Europas vor Angriffen geschützt werden. Darüber sei beim Russland-NATO-Gipfel in Lissabon Mitte November verhandelt worden. Ebenso über eine neue Qualität der Partnerschaft, was zu »vorsichtigem Optimismus« für das Schicksal eines Europäischem Sicherheitsvertrags berechtige, für den Medwedjew seit seinem Amtsantritt wirbt. Das sei gut, da Russland anderenfalls eine neue Runde des Wettrüstens drohe.

Fortschritte gibt es aus Sicht Medwedjews auch bei der Umsetzung von Plänen für eine Modernisierungspartnerschaft zwischen der EU und Russland, einschließlich des freien Verkehrs von Personen und Gütern. Beides müsse sich für die Bürger Russlands in konkreten positiven Ergebnissen niederschlagen. Darum werde es auch auf dem Russland-EU-Gipfel kommende Woche in Brüssel gehen. Bei der Modernisierungspartnerschaft nannte Medwedjew Deutschland an erster, Frankreich an zweiter Stelle.

Gleichzeitig machte er sich für die Wiederherstellung eines gemeinsamen euroasiatischen Wirtschaftsraums auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion stark. Anders als bei seinen Vorgängern rangierte die Wirtschaftskooperation mit den Staaten der UdSSR-Nachfolgegemeinschaft GUS jedoch hinter der Partnerschaft mit der EU.

Russlands Ressourcen, mahnte Medwedjew, müssten statt zum Stopfen der Löcher für wirtschaftliche und soziale Entwicklung eingesetzt werden, im Vordergrund müsse dabei die allseitige Förderung der Familie stehen. Auch weil es bisher nur in Teilen gelang, den demografischen Abwärtstrend zu stoppen. Zukunftsängste hatten in den Neunzigern eine ganze Generation dazu bewogen, auf Kinder zu verzichten.

Hauptaufgabe der Politik, so Medwedjew wörtlich, sei es, die heranwachsende Generation zu würdigen Bürgern und Erben eines Staates zu erziehen, der sich erfolgreich entwickelt. Familien mit drei Kindern müssten zur Norm werden.

Es sei auch nicht länger hinnehmbar, dass über die Hälfte aller Kinder bereits bei der Einschulung ernste Gesundheitsprobleme haben. Daher werde sich die Zentralregierung an der Finanzierung regionaler Programme zur Unterstützung junger und kinderreicher Familien sowie zur Verbesserung der medizinischen Versorgung von Müttern und Kindern beteiligen.

Auch müssten Kinder und Jugendliche besser vor Gewalt und Missbrauch geschützt werden. Ausdrücklich warb Medwedjew für die Wiedereinführung patriotischer Erziehung an den Schulen und für Bildungsfernsehen. Ebenso für eine Adoption der derzeit über 130 000 Waisen durch russische Eltern und für mehr Förderung von behinderten Kindern. Einschlägige Institutionen würden noch immer mehr für die Isolierung als für die Sozialisierung ihrer Zöglinge tun und sie daher denkbar schlecht auf das Leben vorbereiten.

Im Wirtschaftsteil setzte sich Medwedjew vor allem mit den Folgen der weltweiten Krise für Russland auseinander. Diese seien noch nicht restlos überwunden, dennoch werde es 2010 ein Wachstum von über vier Prozent geben. Auf vier Prozent soll mittelfristig auch die Inflation gedimmt werden.

* Aus: Neues Deutschland, 1. Dezember 2010


Moskauer Botschaft

Von Olaf Standke **

In gewisser Weise war die gestrige (30. Nov.) Jahresbotschaft von Dmitri Medwedjew auch ein Grußwort an den heute beginnenden OSZE-Gipfel. Der russische Präsident bekräftigte die Bereitschaft seines Landes zur Zusammenarbeit mit der NATO und der Europäischen Union, warnte aber auch vor der Gefahr eines neuen Rüstungswettlaufes, sollte die begonnene Annäherung scheitern. Er machte das vor allem an der angestrebten Einigung über ein europäisches Raketenabwehrsystem fest. Russland erhofft sich einen »wahren Mechanismus der Kooperation« in einem »konstruktiven Abkommen«.

Damit sind auch wichtige Prinzipien für die von Moskau gewünschte neue Gestaltung der europäischen Sicherheitsarchitektur genannt, sieht man doch im Kreml zwei Jahrzehnte nach Ende des Ost-West-Konflikts noch immer gravierende Ungleichgewichte. Und welcher Platz wäre besser geeignet, um sie auszutarieren, als die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. Gegründet in kalten Kriegszeiten, um unter dem Dach eines weit gefassten Sicherheitsbegriffs Konflikte zu verhindern und Vertrauen zwischen Ost und West zu schaffen, wurde sie von den vermeintlichen Siegern der Geschichte allerdings aufs Abstellgleis geschoben. Seit elf Jahren gab es keinen wirklichen Gipfel mehr. Nun bietet sich aus Moskauer Sicht für alle Mitgliedstaaten ein günstiges »Fenster der Möglichkeiten«, um die Kultur des politischen Dialogs in der OSZE auf höchster Ebene wiederherzustellen und Wege zur Bildung eines unteilbaren Sicherheitsraums zu konzipieren. Medwedjews Vorschlag für einen entsprechenden Vertrag wäre ein diskutabler Ansatz.

** Aus: Neues Deutschland, 1. Dezember 2010


Rede zur Lage der Nation: Medwedew setzt Schwerpunkt auf Sozialpolitik

Von Nikolai Troizki ***

In seiner mittlerweile dritten Jahresbotschaft hat Präsident Dmitri Medwedew vor allem über soziale Lage in Russland gesprochen.

Medwedew erinnerte daran, dass die politische Strategie im Mittelpunkt der letztjährigen Botschaft an die Föderalversammlung stand. Seitdem hat sich daran nicht viel geändert, weshalb der Präsident dieses Mal auch nicht näher darauf eingegangen ist.

Aufgabe Nummer eins

Die diesjährige Rede zur Lage der Nation war weder der Politik noch der Wirtschaft oder der Modernisierung gewidmet, obwohl diese Themen ebenfalls angeschnitten wurden. Medwedews Jahresbotschaft war denjenigen gewidmet, ohne die es keine Politik, Wirtschaft und selbstverständlich keine Modernisierung geben wird: der Nachwuchsgeneration. Hätte man der Jahresbotschaft eine Überschrift gegeben, hätte man sie „Das Beste für die Kinder“ nennen können.

Medwedew versprach den Kindern, Eltern und Lehrern viel Gutes. Dabei schlug er etliche konkrete Maßnahmen zur Erhöhung der Geburtsrate vor. So wird jede Familie bei der Geburt eines dritten Kindes ein Grundstück für den Bau eines Hauses oder einer Datscha bekommen. Zudem erhalten die Eltern die Steuerermäßigungen.

Medwedew verkündete außerdem, dass demnächst entsprechende Gesetzentwürfe in die Staatsduma (Parlamentsunterhaus) eingebracht werden: von Steuerermäßigungen für Unternehmer und Organisationen, die sich mit der Wohltätigkeit in Sachen Familie befassen, bis zur strafrechtlichen Verantwortung für den Verkauf von Tabakwaren und Alkohol an Jugendliche.

Medwedew sicherte zu, eines der aktuellsten Probleme in den Großstädten zu lösen: der Mangel an Kindergartenplätzen. Bereits während der Schwangerschaft müssen Plätze im Kindergarten reserviert werden - wie die Adligen im 18. Jahrhundert ihre Säuglinge in die Offiziersliste eintrugen.

Was kann man tun? Medwedew zufolge müssen in allen Regionen neue Kindergärten gebaut oder alte wiederaufgebaut werden. Dieses Vorhaben werde er persönlich kontrollieren. Zudem beleuchtete er die Situation um die Schulen, Hochschulen und Kinderheime. Wie Medwedew betont, darf es in Russland keine Kinder geben, um die sich niemand kümmert.

Damit waren wohl obdachlose Kinder gemeint, deren Zahl in den letzten 20 Jahren rasant anstiegen ist. Nach amtlichen Schätzungen gibt es in Russland zwischen 500.000 und 2,5 Millionen Straßenkindern. Diese Situation ruft Empörung hervor. Diese Kinder sind ebenfalls Russlands Zukunft. Wie Medwedew betonte, ist die Sorge um die Kinder die wichtigste Aufgabe Russlands.

Kampf gegen Korruption

Der russische Präsident ließ auch einige politische Fragen nicht unbeantwortet. Medwedew schlug vor, das Wahlgesetz zu verändern. Im vergangenen Jahr hatte er ein Programm zur Entwicklung eines Mehrparteiensystems in Russland vorgestellt. In den Regionalparlamenten wurde die Sperrklausel für die Parteien von sieben auf fünf Prozent gesenkt. Außerdem mussten sich die regionalen Parlamente verpflichten, die Vertreter der Parteien, die die Fünf-Prozent-Hürde nicht übersprungen haben, regelmäßig zu Wort kommen zu lassen.

Jetzt wird ein weiterer Schritt in dieser Richtung unternommen. Alle Wahlen zu den Kommunalorganen mit mehr als 20 Mitgliedern werden gemäß den Parteilisten abgehalten.

Damit soll eine Annäherung zwischen den Parteien und dem Volk erreicht werden. Der Wahlkampf zu den Dumawahlen im kommenden Jahr soll bereits auf dem neuen politischen System basieren.

Der Antikorruptionskampf (dieses Thema zieht sich in den letzten Jahren wie ein roter Faden durch alle Auftritte Medwedews) stand ebenfalls im Mittelpunkt seiner Jahresbotschaft. Zwar redeten immer wieder alle russischen Staatschefs darüber, doch das Problem ist nach wie vor aktuell. Die Zahl der Bestochenen und die Höhe des Schmiergelds nehmen zu. Die Behörden müssen dieses Problem kreativ lösen.

„Die Erfahrung der letzten Jahre zeigt, dass eine Haftstrafe von zwölf Jahren einige Verbrecher nicht zurückhält“, sagte Medwedew. Deswegen könne eine Geldstrafe eine wirksamere Maßnahme sein. Dabei können die Strafen hundertfach höher sein als der Schmiergeldbetrag.

Der Staatskasse wird das zusätzliche Geld aus dem Anti-Korruptionskampf sicherlich gut tun.

Die Meinung des Verfassers muss nicht mit der von RIA Novosti übereinstimmen.

*** Aus: Russische Nachrichtenagentur RIA Novosti, 1. Dezember 2010; http://de.rian.ru



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