Chloponin steht vor schwerer Aufgabe
Das Morden im Nordkaukasus soll durch Investitionen gestoppt werden
Von Irina Wolkowa, Moskau *
Mit Investitionen, für die der russische Staat bürgt, sollen im strukturschwachen Nordkaukasus bis
2025 rund 400 000 Arbeitsplätze geschaffen werden. Das Bruttosozialprodukt der Region soll sich
bis dahin verdreifachen, der Durchschnittslohn verdoppeln. Alexander Chloponin,
Präsidentenbevollmächtigter für die Krisenregion und russischer Vizepremier, stellte das Projekt im
Föderationsrat persönlich vor.
Beifall gab es nicht, dafür jede Menge Fragen. Denn zeitgleich war in der Republik Dagestan, wo
seit Anfang des Jahres bisher 40 Menschen bei Terroranschlägen und Überfällen auf Mitarbeiter von
Rechtsschutzorganen starben, die zweite Sonderoperation in nur zehn Tagen gegen islamische
Extremisten angelaufen. 14 Untergrundkämpfer waren dabei allein am Mittwoch getötet worden. Der
unabhängige Politikwissenschaftler Enver Chizrijew sprach bereits von bürgerkriegsähnlichen
Zuständen. Die Gewalt eskaliere nach dem Dominoprinzip, weil jeder Tote – Polizist oder Extremist
– nach dem nordkaukasischen Gewohnheitsrecht durch Blutopfer gerächt wird.
Was er zu tun gedenke, um das Morden auf offener Straße zu stoppen, wollte daher Nikolai
Kondratenko, lange Gouverneur der Schwarzmeerregion Krasnodar, von Chloponin wissen. Derzeit,
konterte dieser kühl, sei es leichter, Terroristen zu »liquidieren als abzuurteilen«.
Chloponin stehe im Nordkaukasus vor einer unlösbaren Aufgabe, glaubt Tatjana Lokschina von
Human Rights Watch. Obwohl er sowohl als erprobter Verwaltungsfachmann wie auch als
krisengestählter Manager gilt. Dem Kreml und der Regierung verantwortlich, müsse er die liberalen
Losungen von Präsident Dmitri Medwedjew unter einen Hut mit der Realpolitik Wladimir Putins
bringen, der im Kaukasus weiter auf Gewalt setzt. Dazu kommen Widerstände der regionalen
Verwaltungschefs, auch jener, die bereits von Medwedjew berufen wurden, wie in Dagestan. Sie
sehen sich in erster Linie als Sachwalter der Interessen ihrer ethnisch organisierten Clans. Große
Teile der Fördergelder, die Moskau in die Region pumpt, landen daher in den Taschen korrupter
Beamter.
So macht, wer in Dagestan aus der Kaspi-Ebene ins Hochgebirge fährt, eine Zeitreise ins frühe 19.
Jahrhundert. Befestigte Fernverkehrsstraßen – derzeit ganze zwei – enden irgendwann im Nichts,
ganze Dörfer haben weder Festnetztelefon nach fließend Wasser. Obwohl dieses überreichlich und
im Wortsinn vor der Haustür sprudelt. Staat und Kommunen bringen es jedoch nicht fertig, ein paar
Meter Rohre bis in die Häuser zu verlegen. Die Bewohner selbst haben kein Geld dafür. Ganze
Großfamilien halten sich mit Renten, Kindergeld und Verkauf gelegentlicher Überschüsse aus der
Almwirtschaft über Wasser, während die dünne Oberschicht sich in den Städten der Ebene Paläste
wie die Osmanensultane bauen lässt.
Da die nordkaukasische Gesellschaft in egalitären Traditionen steht und daher weder steile
Hierarchien noch signifikante Einkommensunterschiede kennt, entlädt sich Unzufriedenheit über die
wachsende soziale Kluft zwischen Oben und Unten in Zulauf für islamische Extremisten. Bisher vor
allem im Hochgebirge aktiv, dehnen diese ihre Präsenz zunehmend auf die Städte der Ebene aus,
deren Bevölkerung bisher einem moderaten, aufgeklärten Islam anhing. Chloponins
Entwicklungsprogramm, das keine politische Lösung für die Probleme der Region bietet, könnte sich
daher als grandiose Fehlspekulation entpuppen.
* Aus: Neues Deutschland, 1. Oktober 2010
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