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Kaliningrad sorgt in Moskau für Unruhe

Nervöse Reaktion nach Protestkundgebung

Von Irina Wolkowa, Moskau *

Die Organisatoren einer Protestkundgebung, die am vergangenen Sonnabend (30. Jan.) in Kaliningrad mehr als 10 000 Teilnehmer auf die Straße lockte, können mit dem Ergebnis zufrieden sein.

Am heutigen Donnerstag (4. Feb.) empfängt Kaliningrads Gouverneur Georgi Boos die Organisatoren, Dienstag schwebte bereits ein Krisenstab aus hochrangigen Vertretern der Regierungspartei »Einiges Russland« in der Exklave an der Ostsee ein. Der Präsidentenbevollmächtigte für Russlands Nordwestregion, Ilja Klebanow, war bereits am Montag gekommen. Und das Präsidentenamt in Moskau lud die Kaliningrader Führer der im Parlament vertretenen Parteien vor, um sich – in Einzelgesprächen! - ein »objektives und umfassendes Bild über die Lage« zu machen. Bisher hatte sich Moskau ausschließlich auf die Berichte von Boos verlassen, von dem manche munkeln, seine Tage als Verwaltungschef seien gezählt. Auch hat die Staatsanwaltschaft einen Antrag zur Rücknahme der Kfz-Steuererhöhungen eingebracht, über den das Gebietsgericht schon kommende Woche entscheiden will.

Höhere Kfz-Steuersätze, drastische Steigerungen der Wohnnebenkosten und hohe Arbeitslosigkeit hatten die Oppositionsparteien – von den Kommunisten über Liberale und »Gerechtes Russland« bis zu regionalen Bürgerbewegungen – zum Anlass für ihre Protestkundgebung genommen. Es war die größte, die in jüngerer Vergangenheit in Russland über die Bühne ging. Die Organisatoren sprachen sogar von über 12 000 Teilnehmern, die Behörden wollten nur 6000 gezählt haben. In Moskau oder St. Petersburg immerhin feiern Regierungskritiker schon 500 Demonstranten als Erfolg. Dort allerdings verweigern die Stadtregierungen regelmäßig die Genehmigung. Die Kundgebung in Kaliningrad aber war legal. Dort glaubte man bisher, nur Protest in den beiden Hauptstädten könne zum landesweiten Fanal werden. Jetzt ist man sich in Moskau dessen offenbar nicht mehr so sicher.

Der eingeflogene Krisenstab trommelte die Chefs der wichtigsten lokalen Medien und die Bezirksbürgermeister zusammen, um sie in Details einer Aufklärungskampagne einzuweisen. Sogar eine Gegendemonstration zur Unterstützung der Politik von Kreml und Regierung war im Gespräch, was die »Einheitsrussen« jedoch dementierten. Dafür wurden aus den Reihen der Regierungspartei Forderungen nach Rücktritt Sergej Mironows laut. Der Präsident des Föderationsrates, der die nicht ganz linientreue, sozial orientierte Partei »Gerechtes Russland« anführt, hatte die Antikrisenpolitik von Premier Wladimir Putin in einem Interview kritisiert. Auch das bringen Beobachter mit den Ereignissen in Kaliningrad in Verbindung.

Denn einige der Protestler hatten den Rücktritt Putins gefordert. Allen voran natürlich »Solidarnost«, ein loses Bündnis außerparlamentarischer liberaler Oppositioneller, das Ende 2008 entstand. Boris Nemzow, einer der »Solidarnost«-Führer, war zum Protestmeeting extra aus Moskau angereist. Der Name des Bündnisses spielt bewusst auf die polnische »Solidarnosc« an, die in den 80ern den Systemwechsel in Polen anstieß. Gdansk ist ganze 127 Kilometer von Kaliningrad entfernt und Russlands Exklave ohnehin eine Insel im Meer der EU, was den Protest zusätzlich auf Touren gebracht haben könnte.

* Aus: Neues Deutschland, 4. Februar 2010


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