Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Schein trinkt wieder Saft

Astrachan: Hungerstreik nach Wahlunregelmäßigkeiten beendet

Von Andreas Korn, Moskau *

In Astrachan ist am Dienstag (24. Apr.) ein Hungerstreik abgebrochen worden. 39 Tage hatten die Teilnehmer nur Wasser und Kohletabletten zu sich genommen. Die kremlkritische Novaja Gazeta wertete das Ergebnis des Hungerstreiks, an dem sich 39 Personen beteiligten hatten, als »Beinahe-Sieg«. Der Grund: Am vergangenen Mittwoch hatte Wladimir Tschurow, der Leiter von Rußlands Zentraler Wahlkommission nach dem Ansehen der Webcam-Videos aus den Wahllokalen erklärt, daß es in 129 von 203 Wahllokalen Unregelmäßigkeiten, aber keine Fälschungen habe. Wegen dieses Eingeständnisses hofft der unterlegene Kandidat Schein nun, daß das Gericht im Kirow-Bezirk von Astrachan die Bürgermeisterwahlen der Stadt für ungültig erklärt.

Bereits am 16. April hatte Schein bei dem Gericht eine Klage wegen Wahlfälschung eingereicht. Grundlage der Klage sind die Webcam-Videos aus den Wahllokalen, die man erst während des Hungerstreiks von der Zentralen Wahlkommission erhalten hatte. Am heutigen Donnerstag soll es nun eine erste öffentliche Anhörung in dem Verfahren geben.

Wladimir Putin persönlich habe ja empfohlen zu klagen, erklärte Schein in Anspielung auf eine Äußerung des designierten Präsidenten. Putin hatte Schein vorgeworfen, er habe den Hungerstreik begonnen, ohne sich vorher an ein Gericht zu wenden.

In Rußland wollen Beobachter nicht ausschließen, daß die Wahl in Astrachan tatsächlich wiederholt wird. Allerdings werde man in diesem Fall für eine Neuwahl einen anderen Anlaß suchen, um das Gesicht zu wahren.

Bei der Bürgermeisterwahl am 4. März hatte Oleg Schein, der bis 2011 für die Gerechtes Rußland in der Duma saß, Prozent der Stimmen bekommen, der Amtsinhaber Michail Stoljarow bekam 60 Prozent. Schein hatte Stoljarow nach den umstrittenen Wahlen »kriminelle Machenschaften« und die Zusammenarbeit mit der örtlichen Mafia vorgeworfen.

Eigentlich sollte der Hungerstreik schon Ende letzter Woche, nach dem Eingeständnis des Leiters der Zentralen Wahlkommission, beendet werden. Doch Schein brach die Aktion erst am Dienstag ab, weil am Sonnabend Unterstützer des unterlegenen Kandidaten bei einer Protestaktion festgenommen worden waren. Er könne den Hungerstreik nicht eher abbrechen, bis alle Festgenommenen wieder frei seien, erklärte eder ehemalige Bürgermeisterkandidat. Am Dienstag wurden dann die letzten Festgenommenen freigelassen.

Der Übergang zu normaler Ernährung dauert nach Meinung von Experten jetzt mindestens zwei Wochen. Die Angst der kritischen Öffentlichkeit in Rußland, bei dem Hungerstreik in Astrachan, könnte jemand sterben, war groß gewesen. Am Montag veröffentlichte die kremlkritische Novaja Gazeta unter der Überschrift »Oleg, wir brauchen dich lebend« einen Aufruf zum Abbruch des Hungerstreiks. Schein, der vor dem Hungerstreik 78 Kilogramm wog, hatte während der Aktion 14 Kilogramm Gewicht verloren. Zudem erklärte er, infolge des Hungerstreiks Herz-Rhythmus-Störungen bekommen zu haben.

Der Hungerstreik war in den letzten Wochen zum Thema in ganz Rußland geworden. Am 14. April hatte es in Astrachan zwei fast gleich große Demonstrationen mit jweils mehreren tausend Teilnehmern gegeben, eine für den amtierenden Bürgermeister Stoljarow und eine für den unterlegenen Kandidaten.

* Aus: junge Welt, Donnerstag, 26. April 2012


Zurück zur Russland-Seite

Zurück zur Homepage