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Kudrins Fall

Kritik an Ausgabenpolitik hat Rußlands Finanzminister den Job gekostet

Von Andreas Korn, Moskau *

Seinen Arbeitsraum im Finanzministerium hat Exfinanzminister Alexej Kudrin bereits räumen lassen, sein Zimmer im Regierungsgebäude noch nicht. Eine Sekretärin von Kudrin verriet der Komsomolskaja Prawda Mitte der Woche, daß der entlassene Ressortchef alle seine Bücher aus dem Finanzministerium, auch »Das Kapital« von Karl Marx, mitgenommen habe.

Am Montag (26. Sept.) hatte Dmitri Medwedew das langjährigste russische Regierungsmitglied vor laufenden Fernsehkameras des Vertrauensbruchs bezichtigt. Drei Stunden später unterschrieb der Präsident die Entlassungsurkunde für den Minister, der während der letzten Monate wiederholt die Ausgabensteigerungen im Rüstungs- und Sozialbereich kritisiert hatte. Die Aufgaben von Kudrin übertrug Ministerpräsident Wladimir Putin dem Vizepremier Igor Schuwalow und dem bisherigen stellvertretenden Finanzminister Anton Siluanow.

Anlaß für die demütigende öffentliche Abkanzelung waren Kudrins Äußerungen vom Wochenende. Bei einem Besuch in den USA hatte er die steigenden Verteidigungsausgaben Rußlands kritisiert. Außerdem erklärte er, für das Regierungskabinett, welches Medwedew im Mai 2012, nach dem Auslaufen seiner Amtszeit als Präsident, bilden soll, »nicht zur Verfügung« zu stehen. Kudrins Stellungnahme folgte unmittelbar auf Putins beim Wahlkongreß von »Einiges Rußland« bekanntgegebene Entscheidung, Dmitri Medwedew solle in Zukunft die russische Regierung leiten. Der Zuschlag für Medwedew habe Kudrin verärgert, mutmaßen Beobachter in Moskau. Denn der Finanzminister war in den letzten Monaten als neuer Ministerpräsident im Gespräch gewesen.

Kudrin war einer der letzten einflußreichen Liberalen im russischen Machtgefüge. Wie er in einer am Mittwoch veröffentlichten persönlichen Erklärung formulierte, habe es in den letzten Monaten wegen der Ausgabenpolitik der Regierung Meinungsverschiedenheiten gegeben. Trotz seiner Einwände seien Entscheidungen getroffen worden, welche »die Risiken für den russischen Haushalt und die nationale Ökonomie erhöhen«. Im Februar hatte der damalige Finanzminister auf einem Wirtschaftsforum in Krasnojarsk zudem »gerechte und ehrliche Wahlen« gefordert.

Von einem politischen Schwergewicht und langjährigen Weggefährten wie Kudrin verabschiedet sich Putin nicht ohne Not. Offenbar planen er und Medwedew eine aktivere staatliche Investitionspolitik, welche die Folgen der weltweiten Wirtschaftskrise in Rußland auffangen soll. Seit 2000 gehörte Kudrin ohne Unterbrechung der Regierung als Finanzminister an. Als graue Eminenz im Hintergrund sorgte er dafür, daß der Haushalt von 2000 bis 2008 im Plus lag. Auf seine Weisung hin wurden etwa Gold- und Devisenreserven in Höhe von 200 Milliarden Dollar angehäuft. Mit diesem Sicherheitspolster konnte Rußland die schlimmsten Auswirkungen der Finanzkrise von 2008 abfedern.

Die Kommentare von Moskauer Wirtschaftsexperten zur Abberufung von Kudrin sind zurückhaltend bis negativ. Beobachter erwarten von dem neuen Finanzminister »ungedeckte Ausgabensteigerungen mit zwangsläufig negativen Folgen«, so die konservative Nesawissimaja Gaseta.

Unklar ist auch, was Kudrin selbst künftig machen wird. Nach Medienberichten hofft der Kreml immer noch, daß er die Leitung der kleinen, regierungsloyalen liberalen Partei Rechte Sache übernimmt. Doch in seiner persönlichen Erklärung bezeichnete Kudrin das Parteiprojekt als »künstlich« und als Diskreditierung »der liberal-demokratischen Idee«.

Der Miteigner des Großunternehmens Norilsk-Nickel, Michail Prochorow, kommentierte in seinem Blog, in der Machtelite Rußlands komme es zur Zeit zu einer Polarisierung zwischen »Konservativen« und »Modernisierern«. »Ich glaube wir stehen vor sehr wichtigen, vielleicht tektonischen Verschiebungen im Bewußtsein der Elite«, so Prochorow, der für kurze Zeit die Partei Rechte Sache leitete, bis er vom Kreml zurückgepfiffen wurde. Jetzt sieht er innerhalb der russischen Führungsschicht eine neue Ideologie, neue Konzepte und neue Personen. Diese könne man nicht mehr nach dem üblichen Koordinatensystem in Liberale, Konservative, Linke und Rechte unterteilen, so der Oligarch.

* Aus: junge Welt, 30. September 2011


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