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Blockade gelockert

Zeichnet sich eine strategische Partnerschaft zwischen Rußland und der EU ab? Eine Konferenz in Luxemburg

Von Rainer Rupp *

Zum sechsten Mal organisierte das Luxemburger Institut für Europäische und Internationale Studien (LIEIS) am vergangenen Freitag (15. April) in Kooperation mit russischen Institutionen ein Treffen europäischer Experten, das in diesem Jahr unter dem Titel »Rußland und das zukünftige geopolitische und geostrategische Gleichgewicht in Europa und der Welt« stand. Zum Auftakt begrüßte der russische Botschafter im Großherzogtum, Alexander Schulgin, daß die Europäische Kommission nun endlich von allen Mitgliedsländern das Mandat bekommen habe, in Kürze mit dem Kreml die Verhandlungen über eine strategische Partnerschaft zwischen der EU und Rußland zu beginnen. 80 Prozent dieser Verhandlungen würden sich ausschließlich mit wirtschaftlichen Aspekten beschäftigen, was die Diskussion von sicherheitspolitischen Aspekten jedoch nicht ausschließe.

Neue Europäer

Die Teilnehmer aus den EU-Ländern waren sich weitgehend darin einig, daß die USA in der internationalen Politik zunehmend eigene Wege gehen werde und deshalb auch Europa den seinen finden müsse. Rußland komme dabei eine besondere Rolle zu. Deutlich wurde, daß man sich von EU-Seite von einer strategischen Kooperation vor allem eine langfristige, berechenbare und sichere Energieversorgung mit russischem Gas erhofft. Davon, so hieß es, gebe es in den sibirischen Weiten genug, um selbst bei gesteigerter Produktion Lieferungen von dort noch hundert Jahre und mehr aufrechterhalten zu können. Ihrerseits machten die zum Teil hochrangigen russischen Teilnehmer klar, daß ihr Land im Westen einen technologisch fähigen und verläßlichen Partner sucht, der bei der dringend notwendigen Modernisierung von Wirtschaft und Gesellschaft Hilfe leistet, ohne mehr oder weniger versteckt Hegemonialbestrebungen zu entwickeln. Potential für eine solche wechselseitige Ergänzung ist auf jeden Fall vorhanden.

Allerdings, gab z.B. Schulgin zu bedenken, sei das Verhältnis zwischen EU und Kreml in der Vergangenheit immer wieder von Mißverständnissen getrübt gewesen. Der Botschafter spielte damit offensichtlich auf die Amtszeit von US-Präsident George W. Bush an. Zwischen 2001 und 2009 hatten »Falken« in Washington die russophobe Haltung der Länder des von Bushs Verteidigungsminister Donald Rumsfeld so bezeichneten »Neuen Europa«, d. h. die neuen osteuropäischen EU-Mitgliedsländer, bestärkt. Sie erreichten, daß Verhandlungen über die insbesondere von Deutschland und Frankreich angestrebte strategische Partnerschaft mit Rußland wegen »mangelnder Demokratie« blockiert blieben. Als jedoch die Obama-Administration einen Neuanfang ihrer Rußland-Politik versuchte, verloren die »Neuen Europäer« den Rückhalt aus Washington, gaben dem Druck der »kerneuropäischen« Länder nach und den Weg frei.

Modernisierungsstau

Den Wandel in dieser Hinsicht machten mehrere Beiträge deutlich. Der Direktor des LIEIS, Armand Clesse, der auch die Konferenz moderierte, warnte bereits einleitend davor, im Zusammenhang mit Rußland den politisch »abgegriffenen« Begriff der Demokratisierung zu strapazieren. Der Politikwissenschaftler Peter Schulze (Göttingen), von 1992 bis 2003 Leiter der Friedrich-Ebert-Stiftung in Moskau, schlug in die gleiche Kerbe: Wer von Rußland als einer gelenkten Demokratie spreche, der dürfe nicht vergessen, daß auch die Bundesrepublik Deutschland die größte Zeit ihres Bestehens eine solche gewesen sei. Rußland mache auf seine Weise stetige Fortschritte in Richtung rechtsstaatlicher und demokratischer Strukturen. Allerdings werde eine russische Demokratie niemals ein Abklatsch der westlichen sein, sondern der eigenen Geschichte und Erfahrungen entsprechen.

Der britische Historiker Mark Almond (Oxford) verteidigte den Kreml gegen die in jüngster Zeit von »Neuen Europäern« und deren Unterstützern im Westen wieder erhobenen Beschuldigungen, Rußland setze seinen Energiereichtum als Erpressungspotential ein. Das Gegenteil sei der Fall, so Almond, denn Rußlands Verhalten gegenüber den Abnehmerländern während der sogenannten Gaskrisen in den letzten Jahren sei von nachvollziehbaren, »rein kommerziellen« Interessen geleitet gewesen. Diese seien jedoch von Rußlands Nachbarn als Großmachtbestreben interpretiert und dargestellt worden. In der Tat folgten die beiden anwesenden Vertreter (west-) ukrainischer Denkfabriken diesem Muster und warnten wegen Rußlands Energiepolitik vor dessen »imperialen Verhaltensweisen«.

Dagegen zeichnete der ehemalige russische Vizeaußenminister Anatoli Adamischin, derzeit Leiter der Vereinigung für Euro-Atlantische Zusammenarbeit in Moskau, die zukünftige Lage seines Landes mehr schwarz als grau, wobei ihm seine Kollegen mit leitenden Funktionen in russischen Denkfabriken beipflichteten. Der Modernisierungsstau, so Adamischin, sei ungeheuer groß. Rußland müsse sich von einem reinen Rohstofflieferanten zu einer modernen Ökonomie mit einer breit aufgestellten, technologisch fortgeschrittenen Industrie und einem entsprechenden Servicesektor entwickeln. Dem stehe gegenüber, daß drei Millionen russische Wissenschaftler seit 1991 das Land verlassen hätten. Zugleich funktionierten die unter der Präsidentschaft Wladimir Putins 2000 bis 2008 wieder eingeführten administrativen Lenkungsmechanismen nicht mehr, während westliche, auf marktwirtschaftlichen Anreizen beruhende Systeme zur wirtschaftlichen Steuerung nicht vorhanden seien. Das Gros der russischen Konferenzteilnehmer vertrat sogar die Auffassung, das »System Putin« behindere Rußlands Zukunft. Sie hoffen auf eine weitere Amtszeit Präsident Dmitri Medwedews und auf verstärkte marktwirtschaftliche Reformen.

* Aus: junge Welt, 20. April 2011

Hintergrund: Das System Putin

Das fast einstimmige Urteil der Vertreter russischer Denkfabriken, die an der LIEIS-Konferenz teilnahmen, über das »System Putin« lautete: Es behindert Rußlands Zukunft. Mit den vom damaligen Präsidenten Wladimir Putin vor einem Jahrzehnt wieder eingeführten zentralen Befehlssträngen ließe sich die notwendige Modernisierung der Wirtschaft nicht bewerkstelligen. Marktwirtschaftliche Anreize zu deren Steuerung seien aber auch nicht vorhanden. Daher setzten die in Luxemburg anwesenden Kritiker auf Modernisierungshilfe aus der EU und insbesondere aus Deutschland und im Innern auf eine zweite Amtszeit des angeblich weitaus reformorientierteren Präsidenten Dmitri Medwedew.

Allerdings stammt ein großer Teil der Berater Medwedews noch aus dem Umfeld des Präsidenten der 90er Jahre, Boris Jelzin, und des liberalen Politikers Grigori Jawlinski. Deren neoliberale Experimente endeten für die russische Wirtschaft katastrophal, bei der Mehrheit der Bevölkerung sind sie diskreditiert und finden nur in Teilen der sich entwickelnden russischen Mittelschicht Unterstützung. Zudem erfreut sich Putin mit 69 Prozent Zustimmung in Umfragen weiterhin großer Popularität.

Putin sprach auch mit seiner Kritik am »mittelalterlichen« NATO-Kreuzzug gegen Libyen den meisten Russen aus der Seele. Medwedew dagegen rügte ihn öffentlich, während Putins Sprecher wiederum klarstellte, daß der Präsident für die russische Stimmenthaltung im UN-Sicherheitsrat verantwortlich war. Medwedew wies wenig später Putin ultimativ an, seine Regierungsmitglieder aus ihren Leitungspositionen in staatlichen Großbetrieben bis zum Herbst zu entlassen – ein offensichtlicher Versuch, Putins Hausmacht zu beschneiden. Nicht nur ausländische Beobachter sehen in all dem den Auftakt zum Präsidentschaftswahlkampf 2012. Die Regierungspartei »Vereintes Rußland« erklärte bereits, daß sie »sich bei den Wahlen 2012 an Wladimir Putin als Spitzenkandidat orientiert«. (rwr)




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