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Moskau drängt auf Visafreiheit

Zweitägiger Gipfel EU-Russland in Rostow

Von Irina Wolkowa, Brüssel *

In der südrussischen Millionenstadt Rostow am Don findet diesmal der zweitägige EU-Russland- Gipfel statt, der am heutigen Montag (31. Mai) beginnt.

Immerhin halten sich die Reisekosten für den diesjährigen Gipfel Russland-EU in Grenzen. Frühere Treffen fanden in Sibirien oder gar im Fernen Osten statt, was Westeuropäer gern als demonstrative Zurschaustellung der Größe Russlands und daher als Einschüchterungsversuch deuteten. Nach Rostow dauert der Flug indes nur wenig länger als nach Moskau. Die Erwartungen, vor allem die russischen, sind hoch, der praktische Nutzwert dagegen dürfte sich in Grenzen halten. Verbindliche Abkommen hielt selbst der optimistische Sprecher der EUVertretung in Moskau für unwahrscheinlich, schon eine gemeinsame Deklaration, die niemanden verpflichtet, wäre aus seiner Sicht ein Erfolg.

Russland will für das erweiterte Rückführungsabkommen, das am 1. Juni in Kraft tritt und Moskau verpflichtet, auch Bürger aus Drittländern zurückzunehmen, die über Russland illegal ins EU-Gebiet eingereist sind, als Gegenleistung nicht mehr und nicht weniger als Visafreiheit für die eigenen Bürger. Einschlägige Regelungen, rügte Moskaus EU-Botschafter Wladimir Tschischow, habe Brüssel schon mit über 50 Staaten getroffen, von denen die meisten weit weniger intensive Kontakte zum EU-Raum haben als Russland, das sich um ein derartiges Abkommen schon seit acht Jahren bemüht. Bisher einigten sich beide Seiten jedoch nur auf Erleichterungen für einen sehr überschaubaren Personenkreis. Denn ein Abkommen setzt Gegenseitigkeit voraus, und mit der hapert es aus westlicher Sicht angesichts des strengen russischen Ausländergesetzes. Und außerdem seien Russlands Außengrenzen etwa in Asien undicht.

Moskau hat sich auf das Projekt jedoch ähnlich kapriziert wie auf einen Europäischen Sicherheitsvertrag, der aus Sicht der EU die NATO letztendlich überflüssig machen würde und dies aus russischer Sicht auch soll. Ähnlich problematisch ist eine Modernisierungspartnerschaft mit der EU. Dieses Zusammenwirken, erklärte Vizeaußenminister Alexander Gruschko am Freitag auf einem von der Nachrichtenagentur RIA-Nowosti veranstalteten Briefing für in Moskau akkreditierte Auslandskorrespondenten, werde Russland und die EU in der globalen Wirtschaft konkurrenzfähiger machen. Der Pferdefuß: Für erleichterten Zugang Russlands zu westlicher Technologie verlangt die EU politische Reformen, was nicht nur hiesige Nationalisten als unzumutbare Einmischung in innere Angelegenheiten kritisieren.

Zu außenpolitischen Dauerbrennern – Korea, Nahost und Irans Kernforschungsprogramm – dürfte beiden Seiten die Verständigung leichter fallen. Die Positionen der EU und Russlands seien ähnlich oder identisch, sagte der Diplomat in Anspielung auf Moskaus Zustimmung zu verschärften Sanktionen gegen Teheran.

Gesunkene Weltmarktpreise für Energie erleichtern auch beim Streit um Preisnachlass für russische Gaslieferungen nach Westeuropa einen Kompromiss. Womöglich sondieren beide Seiten angesichts gesunkener Nachfrage sogar die Fusion von South Stream – einer Gasleitung, mit der Russland über die Türkei Gas nach Südosteuropa pumpen will – und der NABUCCO-Pipeline, mit der die EU die Vorkommen der Kaspi-Region anzapfen will.

Auch die Turbulenzen in der Eurozone, die auf Russland als größten Handelspartner der EU durchschlagen, stehen auf der Tagesordnung. Moskau sieht Staatsschulden und die Zukunft der Gemeinschaftswährung allerdings sehr viel gelassener als Brüssel. Die Krise, sagte Finanzminister Alexej Kudrin, habe zwar die Probleme blank gelegt, diese würden jedoch dank der von den europäischen Regierungen inzwischen getroffenen Maßnahmen beigelegt werden und die Integration an Tempo zulegen.

* Aus: Neues Deutschland, 31. Mai 2010


Russland-EU-Gipfel: Eurokraten fürchten Visafreiheit

Von Dmitri Babitsch *

Der 25. Russland-EU-Gipfel in Rostow am Don ist unter besonderen Bedingungen, doch ohne besondere Ergebnisse geendet.

Die Journalisten und Diplomaten sind bereits daran gewöhnt, dass die EU-Oberhäupter sich einmal im Halbjahr mit dem russischen Präsidenten treffen. Doch dieses Treffen fällt aus dem Rahmen. Im Verlauf des Gipfels trat das Rückführungsabkommen in Kraft, das den EU-Behörden erlaubt, illegale Einwanderer aus Drittländern nach Russland abzuschieben. Außerdem handelt es sich um den ersten Gipfel nach dem Inkrafttreten des Lissabon-Abkommens zur EU-Reform.

Deswegen stand nicht nur EU-Kommissionschef José Manuel Barroso, sondern auch EU-Ratspräsident Herman van Rompuy bei den heutigen Verhandlungen (2. Juni) an der Spitze der EU-Delegation. Dieser wird von der europäischen Presse oft als EU-Präsident bezeichnet, obwohl der stille Beamte so gar nicht als ein mit Vollmachten ausgestatteter Chef eines Superstaatenbundes anmutet.

Die Europäische Kommission, der Europäische Rat und der Europarat sind nicht leicht auseinander zu halten. Doch es sind völlig unterschiedliche Organisationen. Was sie vereint, ist die Möglichkeit, sich zu verzweigen und auszuwachsen. Dabei schaffen sie einen bürokratischen Dschungel, in dem die offensichtlichsten Entscheidungen verloren gehen.

Russlands vorgeschlagene Visafreiheit mit der EU gehört zu diesen Offensichtlichkeiten. Präsident Dmitri Medwedew sagte vor dem Gipfel, dass Russland von dem einen Tag auf den anderen bereit sei, zum visafreien Reiseverkehr überzugehen. Er bot auch an, die Frage über die Gewährung von kurzfristigen visafreien Besuchen an Russen zu diskutieren. Doch die EU-Spitzenvertreter fassten diesen Vorschlag beim Gipfel nicht gerade begeistert auf.

Die Vorteile des visafreien Verkehrs liegen auf der Hand. Es geht um die Ausweitung der Kontakte, Impulse für den Tourismus (in erster Linie aus Russland in die EU, was den verarmten Südländern der Eurozone zu Gute kommen würde) und anderes mehr. Die Nachteile sehen wie folgt aus.

Der Grund für die Erhöhung der Visumhürde zwischen der EU und deren östlichen Nachbarn war ab den 1990ern Jahren die Angst vor einer Welle armer Einwanderer aus dem Osten. Doch es stellte sich allmählich heraus, dass die Auswanderungswelle aus slawischen Ländern in die EU ausblieb.

Selbst nach dem EU-Beitritt Polens und der Abschaffung aller Auswanderungseinschränkungen wandern die Polen nur in den Westen aus, wenn bereits Arbeitsplätze auf sie warten und sie Geld für den Weg haben. Es gab auch keine Emigrationswelle aus Weißrussland, der Ukraine und Russland, obwohl die Ukrainer ein Schengen-Visum nach Polen kostenlos erhalten können.

Der russische EU-Botschafter Wladimir Tschischow sagte, dass die Europäer zwar eine Einwanderungswelle bekommen haben, doch nicht aus dem Osten, sondern aus dem Süden. Die Menschen fliehen nach Spanien, Italien und auf die Kanarischen Inseln, manchmal mit Schlauchbooten, aus afrikanischen Ländern. Dabei hat die EU formell mit vielen von ihnen visafreien Verkehr.

Wenn die EU Angst vor Einwanderern aus Zentralasien, Afghanistan und China hat, so ist es auch ohne Visa möglich, ihre Identitäten festzustellen und ihre Wege zu verfolgen, sagt EU-Experte Timofej Bordatschow von der Moskauer Wirtschaftshochschule. Der Mensch gibt seine Identität an mehreren Stellen preis: Beim Kauf einer Flugkarte, im Hotel und so weiter. Wenn ein illegaler Einwanderer, der durch Russland in die EU gelangt ist, abgeschoben werden muss, so reicht es nach dem Inkrafttreten des Rückführungsabkommens am 1. Juni aus, ihn an den russischen Grenzschutz auszuliefern.

Es sieht so aus, als ob das Visum in der heutigen Welt eine unnötige Formalität sei, ein teures Stück Papier, das den Konsulaten und den Firmen, die mit ihnen in Verbindung stehen, zu zusätzlichen Einnahmen verhilft. Deswegen schränken sie auch die Fristen für den Aufenthalt im Land ein und vergeben sogar keine langfristigen Visa an Leute, die sich als finanziell und moralisch zuverlässig bewährt haben.

Wenn sich der russische Präsident Dmitri Medwedew für visafreien Verkehr zwischen Russland und der EU einsetzt, zeigt er sich als größerer Europa-Enthusiast als die Brüsseler Beamten. Wieso erscheinen Russland, Weißrussland, die Ukraine und andere GUS-Länder der Europäischen Union fremder als das arme und muslimische Albanien?

Dabei strebt Russland im Gegensatz zu Albanien weder EU- noch Nato-Mitgliedschaft an. Russland bietet der EU ein Einreiseverfahren an, das die EU mit etwa 50 anderen Ländern pflegt. Dieses Verfahren ist einfach: Dabei wird ein bis zu drei Monate langer visafreier Aufenthalt in der Schengen-Zone alle sechs Monate gewährt.

Russlands vorgeschlagene Abschaffung der Visapflicht gibt der Initiative „Partnerschaft durch Modernisierung", die im vergangenen November beim EU-Russland-Gipfel in Stockholm verabschiedet und bei diesem Treffen mehrmals erwähnt wurde, einen wahren Gehalt. Russland macht keinen Hehl daraus, dass es zur Modernisierung europäische Technologien und Fachleute braucht.

Für diese Gäste wird in Russland das russische Silicon Valley in Skolkowo (bei Moskau) geschaffen. Russland ist bereit, ihnen viel Geld zu zahlen und sie von der Mühsal in den Konsulaten zu befreien. Somit ist Russland offener als das superzivilisierte Europa. Dieses überlegt sich bereits neue Ausreden, um einer Zusammenarbeit aus dem Weg zu gehen.

Das Zentrum für europäische Reform (CER) hat beispielsweise empfohlen, europäische Technologien nicht an Projekte weiterzugeben, an denen der russische Staat teilnimmt. Eine Frage: Gibt es denn ein EU-Land, in dem der Staat keine Beteiligung an hochtechnologischen Projekten hat?

Der Gipfel fand bereits zum 25. Mal statt, doch die Treffen der russischen und europäischen Spitzenvertreter werden nicht zur Routine. Es gibt ständig neue Reizpunkte. Mal ist es der Krieg in Georgien, mal das polnische Veto gegen die Verhandlungen zum neuen Russland-EU-Vertrag, mal gibt es Probleme an der Fernwärmeleitung zwischen Sibirien und Deutschland.

Die Eurokraten und die meisten Pressevertreter klagen wie immer Russland an und trauern ständig, dass es nicht europäisch genug ist. Stattdessen wäre es angebracht, zuzugeben, dass all das in der Regel gemeinsame Probleme sind, dass beide Parteien daran Schuld tragen und dass Russland und die EU sie gemeinsam lösen müssten. Denn Russland ist längst ein Teil Europas, ob die Politiker in den europäischen Hauptstädten, darunter in Moskau, das zugeben wollen oder nicht.

Die Meinung des Verfassers muss nicht mit der der RIA Novosti übereinstimmen.

* Aus: Russische Nachrichtenagentur RIA Novosti, 2. Mai 2010; http://de.rian.ru



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