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Russland-EU-Gipfel: Gasgeruch über Nizza

Von Andrej Fedjaschin *

Der größte Erfolg des 22. Russland-EU-Gipfels bestand darin, dass er nach einer längeren Pause überhaupt stattgefunden hat.

Allein das war schon von großer symbolhafter Bedeutung, was in der Diplomatie sehr geschätzt wird. Denn all das, was jetzt in Nizza geschah, war im Voraus bekannt. Nach dem Kaukasus-Krieg hatte Europa den Dialog „auf Eis gelegt“, jetzt wurde er aber an der Stelle, wo er abgebrochen worden war, weiter geführt. Wir befinden uns nun wieder in einem Dialog über ein neues Partnerschaftsabkommen, was beim Gipfel verkündet wurde.

Bei allem Respekt vor den Ideen der neuen europäischen Sicherheitsarchitektur, die Präsident Dmitri Medwedew nach Nizza gebracht hat, wurden diese nicht zum Hauptthema des Gipfels - allein schon aus dem Grund, dass sie noch nicht detailliert genug konzipiert sind und Europa nur als Denkstoff vorgelegt werden konnten. Völlig klar ist auch, dass ein neues System der europäischen bzw. euroatlantischen Sicherheit nicht ohne die USA diskutiert werden kann.

Klar war das auch den Teilnehmern des Gipfels. Der französische Präsident Nicolas Sarkozy stimmte der Idee des russischen Kollegen Medwedew zu, einen weiteren Gipfel, diesmal allerdings gemeinsam mit US-Präsident Barack Obama, bereits im Februar abzuhalten. Er unterstützte auch den Vorschlag Medwedews, 2009 eine Konferenz über die europäische Sicherheit zu veranstalten.

Zugleich machte der Gipfel auch deutlich, was Europa von Russland in erster Linie will und vor allem befürchtet. Es will hauptsächlich stabile Beziehungen auf dem Gebiet der Energielieferungen und befürchtet etwaige Störungen dieser Stabilität.

Bemerkenswerterweise hatte die Europäische Kommission buchstäblich am Vorabend des Treffens in Nizza einen strategischen Plan für die Gewährleistung der Energiesicherheit der EU gebilligt, der für nahezu 20 Jahre im Voraus kalkuliert ist.

Der Plan enthält sechs Punkte. Drei davon betreffen unmittelbar Russland. Europa hat nämlich erklärt, dass es bereit ist

a) den Süd-Korridor der Gaslieferungen aus dem Raum des Kaspischen Meeres und dem Nahen Osten in die EU zu entwickeln;

b) enge Kontakte zwischen der EU und den Mittelmeerländern auf dem Gebiet der Gas- und Stromlieferungen herzustellen und

c) zusätzliche Nord-Süd-Routen für den Gastransport nach Mittel- und Osteuropa zu eröffnen.

Unter dem „Süd-Korridor“ versteht man etwaige direkte Gaslieferungen aus Turkmenien und Kasachstan sowie aus Aserbaidschan. Die EU hat vor, zu diesem Zweck eine Gaspipeline über den Kaspischen Raum, die Türkei und den Balkan bis nach Österreich zu bauen. Das Projekt soll 2013 umgesetzt werden.

Am 2. Dezember startet die Europäische Kommission das Verfahren zur Annahme eines provisorischen Handelsabkommens mit Turkmenien, das die Möglichkeit bieten soll, Gas direkt bei diesem Land zu kaufen. Für das kommende Jahr plant Brüssel die Gründung eines Konsortiums von fünf bis sechs europäischen Unternehmen - das so genannte Caspian Development Corporation (CDC) - für den Erwerb von Gas aus dem Kaspischen Raum.

Das Konsortium soll sich mit dem Transport und Weiterverkauf von Gas sowie mit der Schaffung der entsprechenden Infrastruktur befassen. Das Planziel für CDC: Erwerb von 60 bis 120 Milliarden Kubikmeter Gas im Jahr. Das macht 12 bzw. 25 Prozent des gesamten Gasverbrauchs in der heutigen EU aus.

Der den Mittelmeerraum betreffende Teil des Plans sieht vor allem einen Ausbau der Öl- und Gas-Kooperation mit Libyen vor. Nicht ausgeschlossen ist auch eine Zusammenarbeit mit dem Irak, wenn auch in fernerer Zukunft.

Unter den „zusätzlichen Nord-Süd-Routen“ wird der Anschluss der baltischen Länder an die Pipelines aus Norwegen und dem Mittelmeerraum verstanden.

Nach dem heutigen Stand importieren die EU-Länder 42 Prozent des gesamten Gases, ein Drittel des Erdöls und ein Viertels der Kohle aus Russland. Laut Berechnungen der Europäischen Kommission wird Europa 2030 faktisch völlig vom Gasimport abhängen: Im Ausland werden 84 Prozent der erforderlichen Gasmengen erworben gegenüber den heutigen 61 Prozent.

Laut dem Dokument wäre die EU sogar bereit, Russland zu einer „gemeinsamen Nutzung der geplanten Pipeline aus dem Kaspischen Raum“ aufzufordern. Konkrete Bedingungen für diese Kooperation wurden allerdings nicht genannt. Moskau meint indes, dass dieses Projekt nicht rentabel ist, weil es nicht von der wirtschaftlichen Notwendigkeit, sondern von politischen Überlegungen diktiert ist.

Es entsteht der Eindruck, dass die EU einen neuen Partnerschafts- und Kooperationsvertrag mit Russland ausschließlich dazu braucht, um unsere Beziehungen im Energiebereich strikt zu regeln: Wer, bei wem, wie viel Gas (bzw. Öl und überhaupt Energie) und zu welchen Bedingungen kauft und auf welche Weise diese befördert. In dem 2007 abgelaufenen Russland-EU-Abkommen, das nun jährlich prolongiert wird, bis ein neues geschlossen wird, fanden all diese Aspekte keinen Niederschlag.

Selbstverständlich ist es günstiger, Gas aus Russland und nicht aus Libyen nach Europa zu befördern. Turkmenien ist indes zunächst an einen Vertrag mit Russland gebunden, laut dem es sein gesamtes Gas in die Gazprom-Rohre einpumpen muss. Die Europäische Union wird insofern noch lange auf die russischen Energiequellen angewiesen sein. Insofern wird der Gasgeruch - genauso wie diesmal in Nizza - auch bei weiteren EU-Russland-Gipfeltreffen in der Luft deutlich zu spüren sein.

Die Meinung des Verfassers muss nicht mit der von RIA Novosti übereinstimmen.

* Aus: Russische Nachrichtenagentur RIA Novosti, 17. November 2008; http://de.rian.ru


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