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Europas Öl- und Gastank

Beim EU-Rußland-Gipfel dominierten ökonomische Fragen. Doch es gibt kaum Bewegung, die einseitigen Austauschbeziehungen zu überwinden

Von Tomasz Konicz *

Im Grunde ging es um Ökonomie. Rußlands Medien gaben sich bei der Einschätzung des jüngsten europäisch-russischen Gipfels am 3./4. Juni alle Mühe, diese Seite der zuletzt arg ramponieren Beziehungen zwischen Moskau und Brüssel zu betonen. Die »Wirtschaft diktierte die Prioritäten« des Gipfeltreffens in Jekaterinburg, bemerkte der staatsoffizielle Rundfunksender Stimme Rußlands in einem Beitrag und thematisierte die zunehmende wirtschaftliche Verflechtung zwischen EU und Russischer Föderation. Daraus resultiere eine »enge gegenseitige Abhängigkeit (…) in Handel und Wirtschaft«, die sich in der »Krisenzeit nur verstärkt« habe, hieß es.

Von einem neuen »Pragmatismus« sprach die Deutsche Welle. Alle Gipfelteilnehmer hätten sich bemüht, die »politischen und wirtschaftlichen Trennlinien klein erscheinen zu lassen«. Auch EU-Kommissionspräsident Jose Manuel Barroso lobte die »exzellenten Handelsbeziehungen«, zwischen beiden Wirtschaftsräumen, die »noch tiefer und umfassender« werden sollen.

Tatsächlich belegen neuste Zahlen der EU-Statistikbehörde Eurostat diese Einschätzung. Demnach erreichte der gegenseitige Warenaustausch 2012 mit 336 Milliarden Euro einen neuen Rekordwert, der den vom Vorabend der Weltwirtschaftskrise 2008 (283 Milliarden Euro) deutlich überflügelt hat. Rußland weist wegen seiner Energieexporte im Umfang von 213 Milliarden Euro einen klaren Bilanzüberschuß zur EU auf. Diese liefert lediglich Waren im Wert von 123 Milliarden in die Russische Föderation. Der mit weitem Abstand wichtigste innereuropäische Partner Rußlands ist Deutschland, gefolgt von Italien und Frankreich. Er halte es für realistisch, daß das Handelsvolumen bald die Marke von 500 Milliarden Euro überschreite, erklärte Präsident Wladimir Putin in Jekaterinburg.

Trotz dieser ungebrochenen Dynamik und vorsichtiger Umschiffung der meisten politischen Streitthemen (Syrien, russische Anfragen nach EU-Flugpassagierdaten, europäische Visapflicht für Russen, das Vorgehen des Kremls gegen westliche Nichtregierungsorganisationen, etc.), konnten in Jekaterinburg auch in Wirtschaftsfragen keine substantiellen Verhandlungserfolge erreicht werden. Putin blieb auch bei diesem Gipfel nichts anders übrig, als etwa auf einen baldigen Abschluß der Verhandlungen zu einem neuen europäisch-russischen Partnerschaftsabkommen zu drängen. Diese stocken schon seit Jahren.

Für Unmut sorgt im Kreml auch eine Neuregelung des Energiesektors innerhalb der EU, die mit dem »dritten Energiepaket« umgesetzt werden soll. Die Regelungen sehen eine Trennung von Energielieferanten und Leitungsbetreibern vor. Damit soll in erster Linie der halbstaatliche russische Monopolist Gasprom genötigt werden, sein Pipelinenetz für (westliche) Konkurrenten zu öffnen. Das dritte Energiepaket werde »diskriminierend gegenüber russischen Konzernen angewandt«, beschwerte sich Putins Berater Juri Uschakow vor dem Gipfeltreffen. Ähnlich verhalte es sich mit den »an den Haaren herbeigezogenen Kartellverfahren der EU gegen Gasprom«. Dies alles ziele darauf ab, eine strategische Zielsetzung russischer Energiepolitik zu unterminieren: die Kontrolle der gesamten Wertschöpfungskette.

Diese schwelenden Konflikte machen nur zu deutlich, daß die zunehmende wirtschaftliche Verflechtung zwischen Europa und Rußland unter den gegebenen kapitalistischen Produktionsverhältnissen nicht zur Kooparation, sondern zur Konfrontation beiträgt. Das Konfliktpotential wird schon an den Disparitäten in der russisch-europäischen Handelsstruktur deutlich: Knapp 79,5 Prozent aller russischen Exporte in die EU bestehen aus Energieträgern wie Öl und Gas. Während die Union zu 87,3 Prozent – hauptsächlich deutsche – Industriewaren mit hoher Wertschöpfung Richtung Osten liefert. Das beschränkt Rußland auf die Rolle eines reinen Rohstofflieferanten. Zugleich bemüht sich die EU weiterhin, sich als Konkurrent Moskaus im postsowjetischen Raum zu etablieren, um so die Abhängigkeit von russischen Energieimporten zu senken. Die Bemühungen zur Einbringung der Ukraine in europäische Institutionen und der Versuch, mit einer eigenen Pipeline (Nabucco) unter Umgehung Rußlands die Ressourcen Zentralasiens anzuzapfen, haben die Skepsis des Kremls weiter genährt. Man könne 2020 in etwa die »Hälfte des europäischen Gasbedarfs« decken, doch scheint die »Politik der Europäischen Union gerade in der Energiesphäre das Ziel zu verfolgen, nicht mit Rußland zusammenzuarbeiten, sondern es zu bestrafen«, beklagte der staatliche Rundfunksender in einem Beitrag zum Gipfel.

Nachdem die unter Präsident Dmitri Medwedew forcierten Bemühungen gescheitert sind, in Kooperation mit dem Westen – hier insbesondere mit Deutschland – eine längst überfällige »importierte« Modernisierung der russischen Wirtschaft einzuleiten, hat der Kreml unter Putin eine strategische Neuausrichtung Richtung Fernost und Pazifik vorgenommen. Das Land bemüht sich um eine Brückenkopffunktion, will »Europas Fenster nach Asien« werden, wie es die Wirtschaftswoche (WiWo) formulierte. In dieser Hinsicht hat die Wahl Jekaterinburgs als Gipfelort, das nur 40 Kilometer entfernt von der geographischen Grenze zwischen Europa und Asien liegt, großen Symbolcharakter. Putins Ziel seiner Geopolitik sei die Errichtung einer unabhängigen »großen Eurasischen Wirtschaftsunion«, so WiWo. Diese würde als ein Gegengewicht zur EU fungieren – und wird deshalb von Brüssel nach Kräften bekämpft.

* Aus: junge Welt, Donnerstag, 6. Juni 2013


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