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Die Ernte verdorrt auf dem Halm

Russland wird von schlimmster Dürre seit einem Menschenalter heimgesucht

Von Irina Wolkowa, Moskau *

Die Luft über dem Weizenfeld bei Tambow in Zentralrussland flimmert förmlich vor Hitze. Voller Sorge betrachtet Wjatscheslaw Sal-jutin, was er im letzten Herbst ausgesät hat. Normalerweise müssten die Halme Anfang Juli bereits Ähren angesetzt haben und seine Hüften umspielen. Derzeit reichen sie ihm kaum bis zum Knie. In guten Jahren fährt der Mittvierziger im Durchschnitt 36 Doppelzentner pro Hektar ein. Dieses Jahr rechnet er mit maximal drei. Wenn es in den nächsten Tagen regnet. Wenn nicht, mit noch weniger und das wäre der Ruin. Denn mit den Erlösen kann er den Kredit, den die Bank ihm im Frühjahr für die Anschaffung von Maschinen und den Kauf von Düngemitteln gewährte, unmöglich zurückzahlen. Eigentlich, sagt Saljutin, könne er sich nur noch die Kugel geben.

Saljutin ist kein Einzelfall. Winde aus Südost drücken seit mehr als einem Monat heiße, trockene Luftmassen aus Zentralasien und den Steppen am Nordufer der Kaspisee nach Zentralrussland, wo die Sommer sonst eher feucht und nur mäßig warm sind. Mehr als 20 der über 80 Regionen Russlands leiden derzeit unter der schlimmsten Hitzewelle seit mehr als fünfzig Jahren. Darunter die Schwarzerde-Gebiete, Russlands Kornkammer. Im Gebiet Tambow fiel seit über einem Monat kein Tropfen Regen mehr. Ganze Regionen an der Wolga und im südlichen Ural könnten schon in den nächsten Tagen zu Notstandsgebieten erklärt werden. Denn dort verdorrt nicht nur die Ernte auf dem Halm. Es brennen die Steppen und das Schilf im Wolgadelta bei Astrachan, wo das Thermometer mit schöner Regelmäßigkeit die 40-Grad-Latte reißt. In der Teilrepublik Tatarstan, gut 1000 km flussaufwärts, ist ein ganzer Nebenfluss der Wolga ausgetrocknet. Allein dort summieren sich die Schäden der Trockenheit bereits auf über 16 Milliarden Rubel - rund 450 Millionen Euro. Und das Ende der Fahnenstange ist womöglich noch nicht erreicht. Umweltschützer befürchten in diesem Jahr auch einen Rekord bei Waldbränden.

Schon in »normalen« Jahren fallen in Russland im Durchschnitt jährlich um die 16 000 Quadratkilometer Wald - eine Fläche so groß Thüringen - den Flammen zum Opfer. Bisher vor allem in Sibirien und im Fernen Osten, wo das Kontinentalklima für kurze, aber extrem heiße Sommer sorgt. Dieses Jahr gilt auch in Zentral- und Nordwestrussland seit Anfang Juni die höchste Gefahrenstufe. Akut bedroht sind auch Regionen, die zum Weltnaturerbe gehören. Darunter ein Brutgebiet der Kraniche bei Moskau und die bewaldeten Inseln im Ladogasee bei St. Petersburg. Dort sind Patrouillen der Freiwilligen Gesellschaft der Waldbrandwächter seit Ende letzter Woche ständig mit Motorbooten auf Patrouillenfahrt unterwegs: Junge Leute mit grüner Lebensphilosophie und damit eine Spezie, die in Russland eher selten ist. Umwelt landete bei Umfragen zur Rangfolge von Wertvorstellungen bisher stets im letzten Drittel. Und der Faktor Mensch ist auch bei Waldbränden die Hauptursache. In über 90 Prozent, so selbst die offizielle Statistik, sind ein nicht ganz gelöschtes Grillfeuer oder eine liegengelassene Wodka-Flasche, die wie ein Brennglas wirkt, schuld.

Die Situation ist so dramatisch, dass sich sogar die russische Regierung Ende letzter Woche mit der Dürre auf einer Krisensitzung befasste. Gleich danach reiste Ministerpräsident Wladimir Putin nach Tambow, um sich selbst ein Bild von den Schäden zu machen. Dabei kam auch das Nationale Programm Landwirtschaft auf den Prüfstand, das in Putins Amtszeit als Präsident auf Kiel gelegt wurde. Die Bilanz ist sehr durchwachsen, wie sogar der Staatssender RTR Sonntag in seinem Wochenrückblick befand.

Mit insgesamt 331 Milliarden Rubel - 8,5 Milliarden Euro - griff der Staat Landwirten und Kollektivwirtschaften bisher unter die Arme. Damit stieg Russland zwar zum weltweit drittgrößten Exporteur von Brotgetreide auf, ist aber nach wie vor gezwungen, Fleisch aus Brasilien oder Milch aus Belarus zu importieren. Dabei hatte sich Putin schon vor Jahren und völlig zu Recht darüber erregt, dass bei Fahrten übers Land keine einzige Rinderherde seinen Weg kreuzte. Landwirte in Tambow hielten ihm vor, sie könnten sich selbst mit staatlichen Stützungen nicht über Wasser halten, Molkereien würden Kollektivwirtschaften pro Liter Milch zwölf Rubel zahlen, Einzelbauern dagegen höchstens neun. Ob das Kartellamt geschlafen habe, erkundigte sich Putin ungnädig und verlangte unverzügliche Korrekturen.

* Aus: Neues Deutschland, 6. Juli 2010


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