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Chodorkowski – vom Messias zur Marionette?

Die Urteile gegen den russischen Oligarchen und seinen Juniorpartner Lebedjew sollen jetzt auf Rechtmäßigkeit geprüft werden

Von Irina Wolkowa, Moskau *

Die Nachricht schlug in Russland wie eine Bombe ein. Die Urteile gegen den kürzlich begnadigten Oligarchen Michail Chodorkowski und seinen Juniorpartner Platon Lebedjew werden geprüft.

Das Präsidium des Obersten Gerichtshofes will die Urteile, die gegen Chodorkowski und Lebedjew ergingen, auf Rechtmäßigkeit prüfen. Beide hatten 2005 wegen Betrugs und Steuerhinterziehung jeweils 8 Jahre Lagerhaft und 2010 wegen Diebstahls von Rohöl und Geldwäsche weitere Freiheitsstrafen von jeweils 13 bzw. 11 Jahren kassiert. Regimekritiker im In- und Ausland vermuteten politische Motive. Chodorkowski hatte die Opposition unterstützt und war den Geschäftsinteressen der Freunde von Präsident Wladimir Putin in die Quere gekommen. Chodorkowski und Lebedjew hatten gegen die Urteile zunächst Berufung in Russland eingelegt und dann den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte angerufen. Dieser verweigerte ihnen zwar die Anerkennung als Häftlinge aus Gewissensgründen, rügte in seiner Entscheidung vom Sommer 2013 aber den unfairen Prozess, den die Justiz den Oligarchen gemacht hatte.

Russland ist seit 1996 Mitglied des Europarates und daher verpflichtet, Auflagen des Gerichtshofes zu erfüllen. Doch das Justizministerium raffte sich nach dem Urteil aus Straßburg nur zu vagen unverbindlichen Zusagen auf. Bei der Dienstaufsichtsbeschwerde der Verteidigung beim Obersten Gericht ging es ähnlich schleppend voran. In dem Schriftsatz hatten die Anwälte auf Kassation der von Moskauer Stadteilgerichten in erster Instanz verhängten und später vom Stadtgericht in zweiter Instanz nur geringfügig gemilderten Urteile geklagt. Begründung: Die Verdikte würden einander widersprechen. Der Vorwurf der Steuerhinterziehung setze voraus, dass der Beschuldigte Erlöse aus dem Verkauf von Rohöl erzielt hat, das ihm gehört. Der Vorwurf des Diebstahls im zweiten Verfahren sei absurd, er laufe darauf hinaus, dass beide Angeklagte sich selbst bestohlen hätten.

Zwar ließ das Präsidium des Obersten Gerichts die Beschwerde im vorigen August zu, verringerte das Strafmaß jedoch nur um wenige Monate. Die Verteidigung wandte sich daher an die letzte Instanz. An Gerichtspräsident Wjatscheslaw Lebedjew – Namensvetter von Chodorkowskis Juniorpartner, aber nicht mit diesem verwandt. Und der verfügte jetzt die Prüfung beider Urteile auf Rechtmäßigkeit. Das läuft faktisch auf Wiederaufnahme der Ermittlungen hinaus, die vor mehr als zehn Jahren begannen. Der Ausgang, darin sind sich Beobachter weitgehend einig, wird in jedem Fall Präzedenzrecht schaffen und weitreichende politische Folgen haben.

Sollten die Prüfer Unrechtmäßigkeit feststellen, so Staranwalt Genri Resnik bei Radio Echo Moskwy, könne Chodorkowski auf Entschädigung klagen. Steuernachforderungen hatten seinen Ölkonzern Jukos 2005 in den Konkurs getrieben, dessen Filetstück Juganskneftegas ersteigerte der Staatskonzern Rosneft – Erzkonkurrent von Jukos – 2006 über Strohleute zu Dumpingpreisen. Steigen würden dann auch die Erfolgschancen von Klagen westlicher Jukos-Miteigentümer vor internationalen Schiedsgerichten gegen Russland.

Chodorkowski selbst begrüßte die Entscheidung in einem Interview für die Moskauer Tageszeitung »Kommersant« und hofft vor allem auf Kassation von Nachforderungen der russischen Steuerbehörde in Höhe von 17,4 Milliarden Rubel (ca. 380 Millionen Euro), die derzeit Haupthindernis für seine Rückkehr nach Russland seien. Schuldner dürfen zwar einreisen, können bei der Wiederausreise jedoch vom Grenzschutz gestoppt werden.

Über Putins Motive für den Umgang mit der Causa Chodorkowski streiten russische Experten nach wie vor wie die Kesselflicker. Dem Kremlchef gehe es nicht nur um ein besseres Investitionsklima und ein positives internationales Russlandbild vor den Olympischen Winterspielen in Sotschi, hieß es in einem Kommentar bei Echo Moskwy. Unfähig, selbst mehrheitsfähige Ideen zu generieren und ohne charismatische Führer, habe die liberale Opposition alle Hoffnungen auf Chodorkowski gesetzt. Das habe sich nun erledigt. Mit der Begnadigung habe Putin aus dem Messias eine Marionette gemacht.

* Aus: neues deutschland, Freitag, 27. Dezember 2013


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