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Wir provozieren niemanden ...

Igor Maxymitschew über Russland, den Westen, Raketen und Alternativen

Professor Igor Maxymitschew, Gesandter a.D. und Leiter des Institutsbereichs Politische Probleme der europäischen Sicherheit an der Russischen Akademie der Wissenschaften in Moskau, weilte diese Woche in Berlin, zu einer Konferenz anlässlich des 90. Jahrestages des Vertrages von Brest-Litowsk. Geladen hatten die Berliner Freunde der Völker Russlands, gemeinsam mit der Rosa Luxemburg Stiftung und dem Verband für Internationale Politik und Völkerrecht. Im Anschluss sprach Karlen Vesper für das "Neue Deutschland" (ND) mit dem Deutschlandkenner und Politikberater. *



ND: Man hat den Eindruck, dass es arg kriselt, wieder heftige Spannungen gibt zwischen dem Westen und Russland. Trügt der Eindruck?

Maxymitschew: Nein, das ist leider traurige Realität. Das liegt nicht an uns. Die Interessen Russlands werden prinzipiell zurückgestellt, einfach ignoriert. Deshalb sieht sich unsere Regierung immer wieder genötigt, darauf hinzuweisen, dass es mit einer doppelten Moral in den internationalen Beziehungen nicht geht: Entweder sind wir gleichgestellt, gleichberechtigt und werden respektiert oder eine Zusammenarbeit ist nicht möglich.

Und darum schlägt Wladimir Putin bei internationalen Teffen ab und an mal einen schärferen Ton an, wie in München 2007?

Nein, Putin hat nicht gedroht.

Seine Rede wurde im Westen aber so verstanden.

Es wurde so dargestellt. Man kann ihn nicht eines aggressiven Tones bezichtigen. Er hat keinen Krieg angezettelt, führt keinen Krieg, hat auch nicht die Absicht, einen zu führen. Russland hält die Verträge ein, die es geschlossen hat und droht niemandem, will mit allen zusammenarbeiten, ist dazu bereit und willig.

Das erinnert mich an: »Meinst du, die Russen wollen Krieg? Befrag die Stille, die da schwieg ...«

»Dort, wo er liegt in seinem Grab, den russischen Soldaten frag!« So geht das Lied weiter.

Wurde vielfach gesungen in der DDR. Und dennoch: Russland hat jüngst wissen lassen, dass es eine neue Waffe besitzt. Eine Vakuum-Bombe. Eine Warnung an den Westen: Treibt es nicht zu weit?

Ich betone immer wieder, dass die einzige, zwar relative, aber doch einigermaßen chancenreiche Sicherheit im nuklearen Jahrhundert nur ein Zustand des gegenseitigen Gleichgewichts sein kann, also eine Lage, in der jeder weiß: Wenn ich als erster schieße, sterbe ich als zweiter.

Die Vereinigten Staaten von Amerika haben eine Reihe von grundlegenden internationalen Verträgen aufgekündigt, auch den Anti-Raketen-Vertrag. Washington begann an einem System des Raketenschutzes zu basteln, das Amerika von jeder Gefahr eines Vergeltungsschlages befreien sollte. Wer aber sich selbst als unverwundbar in einer Welt wähnt, in der alle anderen Staaten verwundbar und seinem Schutz ausgeliefert sind, der kann der Versuchung unterliegen, allen seinen Willen zu diktieren. Das gefällt uns nicht. Deshalb legen wir sehr viel Wert darauf, den Zustand des Kräftegleichgewichtes aufrechtzuerhalten.

Und dazu gehört Aufrüstung?

In Entwicklung und Einsatz neuer Waffen sind die Vereinigten Staaten Vorreiter. Sie wollen Killerraketen in unmittelbarer Nähe zu Russlands Grenzen aufstellen, was perspektivisch zur einer praktischen Entwaffnung Russlands führen soll. Beschwichtigungen wie: »Es handelt sich lediglich um zehn Antiraketen!« sind nicht überzeugend. Wo zunächst zehn Raketen stehen, können später hundert aufgestellt werden. Westeuropa sollte Russland für die rechtzeitigen, vielleicht manchmal schroffen Warnungen eigentlich dankbar sein. Das US-Raketenabwehrsystem dürfte zwischen 2010 und 2015 fertiggestellt sein. Als die Amerikaner sich im Frühling 1945 überzeugt hatten, dass die Nazis doch nicht die Atombombe haben, sagte Sam Goodsmith, einer der Wissenschaftler, die am amerikanischen Atomprojekt beteiligt waren, erleichtert: »Jetzt brauchen wir auch unsere Bombe nicht explodieren zu lassen!« Worauf ein Major der US-Armee antwortete: »Sie müssen verstehen, Sam – wenn wir eine solche Waffe haben, benutzen wir sie auch.« So geschehen in Hiroshima und Nagasaki.

Malen Sie nicht den Teufel an die Wand.

Dabei ist das schlimmste und gefährlichste heute, dass die Amerikaner dabei sind, Kriegshandlungen in das Weltall zu überführen. Wenn ihnen das gelingt, wenn ihnen das gestattet wird, dann geht alles durcheinander, dann wird es wirklich gefährlich auf der Erde. Dann sind alle blind, alle taub und nur die Vereinigten Staaten sind wissend und werden handeln können. Noch ist Zeit, eine solche düstere Zukunft abzuwenden. Ich wiederhole: Nicht Russland bricht Völkerrecht, nein, das sind die Vereinigten Staaten und führende Staaten der Europäischen Union. Jüngstes Beispiel: Kosovo.

Die Kosovaren haben sich an die EU und die UNO gewandt ...

Das ist doch alles allzu offensichtlich. Die Anerkennung der Seperatisten ist ein dreister, herausfordernder Akt. Der Ratschlag an die übrige Welt, man muss das eben akzeptieren, kann sehr, sehr ernste Konsequenzen nach sich ziehen. Wir fürchten nicht für uns diese Konsequenzen, nein, für andere Staaten. So könnten die Kurden in der Türkei oder auch die Basken in Spanien und Frankreich mit gleichem Recht für sich einen unabhängigen Staat fordern usw. usf. Politologen haben hundert solcher Brennpunkte in der Welt gezählt, an denen es starke separatistische Bestrebungen gibt. Das kann eines Tages schiefgehen.

Russland hat den Protest der Serben gegen die Abspaltung Kosovos unterstützt, verständlich, ist man doch seit Jahrhunderten Serbiens Verbündeter.

Nein, man vergisst sehr oft: Nach dem Streit zwischen Tito und Stalin war Jugoslawien keinesfalls unser Verbündeter, im Gegenteil.

Ja, aber das war doch, welthistorisch gesehen, eine Episode.

Der Westen hat Jugoslawien akzeptiert und unterstützt, weil dieser Staat eine antisowjetische Politik betrieb. In dem Moment, als die Sowjetunion verschwand, verschwand auch das wohlwollende Interesse an Jugoslawien. Der Vielvölkerstaat wurde zerschlagen und gegen Serbien wurde Krieg geführt.

Russland hat sich 1999 zurückgehalten, nicht eingemischt ...

Selbstverständlich.

Und wenn die Serben jetzt bitten, sich nicht nur mit verbalen Protesten zu begnügen?

Wir mischen uns nicht ein. Und das gilt umso mehr, als die Serben selbst gesagt haben, dass sie auf keinen Fall Gewalt anwenden werden. Wir sind moralisch auf ihrer Seite, und auch das Völkerrecht ist auf ihrer Seite. Wir sind bereit, sie in den Vereinten Nationen und auf ganzer Linie zu unterstützen, weil wir der Meinung sind, wenn man jetzt das Völkerrecht außer Kraft setzt, dann haben wir bald ein Chaos auf dem Erdball, mit dem wir alle nicht fertigwerden.

Putins Tage als Präsident sind gezählt. Er hat, so erscheint es von außen, dem Land ein neues Selbstbewusstsein gegeben ...

Wieso sagt man, Russland habe jetzt ein neues Selbstbewusstsein?

Naja, das Russland, das von einem tanzenden und torkelnden Jelzin repräsentiert wurde, schien ein Koloss auf sehr wackligen Füßen. Jetzt vermittelt es Selbstbewusstsein und Stolz auf internationaler Bühne.

Russland ist zu sich selbst gekommen. Das Intermezzo, das wirklich nur eine Fußnote in der tausendjährigen Geschichte Russlands war, ist vorbei. Aber all diese Spinnereien im Westen über die fehlende oder schwache Selbst-identifikation der Russen – das ist doch Unsinn! Wir haben keine Schwierigkeiten mit unserer Identität. Wir sind ein moderner Vielvölkerstaat, in dem alle gleiche Rechte haben, gut zusammenleben, aber die Russen 85 Prozent der Bevölkerung stellen. Und das ist die größte Sicherheit für Gleichberechtigung und Frieden innerhalb des Landes.

Wie werden in der russischen Öffentlichkeit Ermahnungen von Politikern aus dem Westen an Moskauer Adresse aufgenommen, Demokratie und Menschenrechte einzuhalten? Oder wird das nicht wahr-, nicht ernst genommen?

Wieso? Nein. Wir haben sehr viele Schwächen, machen Fehler. Das wissen wir. Und natürlich darf man uns kritisieren. Und wenn diese Kritik positiv, das heißt konstruktiv ist, dann kann sie auch helfen. Nur, der Ton macht die Musik. Belehrungen im Stil eines Schulmeisters, der schon mal seinen Rohrstock schwingen lässt, brauchen wir nicht, vor allem nicht aus einem Land, das vor nicht allzu langer Zeit die schlimmsten Verbrechen in der Menschheitsgeschichte begangen, Demokratie und Menschenrechte in Blut erstickt hat und uns zu Sklaven machen oder gar ganz »ausrotten« wollte. Wenn man uns von oben herab und mit Drohgebärden lehren will, was Demokratie ist, dann platzt uns der Kragen. Das akzeptieren wir nicht. Wir sind groß und alt genug, uns selber zu regieren.

In einer Woche wird in Russland gewählt. Der aussichtsreichste Kandidat für das Präsidentenamt sei, so heißt es hier, nur eine Marionette von Putin. Ist dem so?

Nein, ein ganz entschiedenes Nein. Man darf diesen Personenwechsel an der Spitze der Macht in Russland nicht bagatellisieren. Vielleicht wird in der ersten Zeit der Unerfahrenere etwas auf den Rat des erfahrenen Vorgängers hören. Aber er wird Präsident sein und seine Vollmachten werden nicht beschnitten. Die Vollmachten des Präsidenten sind nach der Verfassung, milde gesagt, groß. Ich glaube, es wird etwa ein Jahr vergehen, bis der neue Mann vollkommen selbstständig agiert, aber dann ist er der starke Mann.

Dmitri Medwedjew?

Wenn Putin ihn nicht unterstützt hätte, dann wäre ich mir da nicht so sicher, dass er gewählt wird. Die Mehrheit der russischen Bevölkerung glaubt an Putin, an seinen Ordnungssinn, sein politisches Gespür usw. usf.

Außenpolitisch agierte Putin geschickt, aber hat er in seiner Amtszeit die soziale Lage, das Lebensniveau des Volkes ein wenig verbessern können? Natürlich. Außenpolitik ist immer zweitrangig für die Bürger. Das ist in Deutschland auch so.

Naja, aber für eine Nation, die eine tiefe Kränkung erfahren hat, wie die russische mit dem Zerfall der Sowjetunion, mit dem Verlust der Rolle einer Supermacht ...

Nein, nein, nein. Russland selbst war eine der bewegenden Kräfte bei der Auflösung der Sowjetunion. Und die Russen sind nicht der Ansicht, sie sei von außen aufgezwungen worden; in Details war es natürlich so. Die Mehrheit gibt die Schuld am Untergang der Sowjet-union auch nicht so sehr Boris Jelzin, vielmehr Michail Gorbatschow, der politische und wirtschaftliche Voraussetzungen dafür geschaffen hat. Das Auseinanderfallen der Union war zumeist das Werk der kommunistischen Landesfürsten, die in der Atmosphäre allgemeiner Auflösung und Unsicherheit nach einer vom Zentrum unabhängigen Macht lechzten. In welchem Umfang ausländische Geheimdienste den Prozess der Selbstverstümmelung vorantrieben, ist schwer zu sagen, aber ihre Einflussnahme steht außer Zweifel.

Wie wünschten Sie sich die deutsch-russischen oder russisch-europäischen Beziehungen? Als Neuauflage der Rapallo-Politik?

Nein. Ich wünschte mir eine Neuauflage der Troika, der Allianz Frankreich, Deutschland, Russland, wie sie sich 1997/98 formiert hatte. Sie hatte eine Alternative für die Weltpolitik, gegen amerikanischen Unilateralismus. Für eine Rückbesinnung ist es nicht zu spät.

* Aus: Neues Deutschland, 23. Februar 2008


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