Beslan ruft nach Medwedjew
Opfer der Geiseltragödie fühlen sich vom Staat schlecht behandelt
Von Irina Wolkowa, Moskau *
Das Geiseldrama von Beslan jährt sich nächste Woche zum fünften Mal. Eine glaubhafte Aufklärung
über die damaligen Geschehnisse aber gibt es noch immer nicht.
Es wird wie immer sein und doch ganz anders: Eltern werden ihre Kinder am 1. September – an
diesem Tag beginnt in ganz Russland nach wie vor das neue Schuljahr – zur Feierstunde begleiten,
es wird Blumen für die Lehrer geben und danach eine Schweigeminute. Zum Gedenken an die
Opfer des Geiseldramas in der Schule Nr. 1 von Beslan. Vor nunmehr fünf Jahren an aller Munde ist
die Stadt in der nordkaukasischen Teilrepublik Nordossetien bis heute Synonym für eine der
schlimmsten Tragödien in der Geschichte des postkommunistischen Russland.
Es waren vor allem Kinder – darunter viele kleine – und deren Mütter, die von tschetschenischen
Terroristen beim Fahnenappell am 1. September 2004 als Geiseln genommen worden waren;
insgesamt über 1300 Menschen, die bei Temperaturen über 30 Grad und ohne Trinkwasser in die
Turnhalle eingesperrt wurden. Als Militär und Anti-Terror-Einheiten der Geheimdienste das Gebäude
zwei Tage später stürmten, starben 331 Menschen. 200 davon waren Kinder. Über 700 weitere
wurden verletzt. Viele kämpfen bis heute mit Spätfolgen, haben Albträume und Probleme, sich zu
konzentrieren.
So manche Familie leidet auch bittere Not. Der russische Staat hat nach Zahlung einmaliger
Entschädigungen Hinterbliebene und überlebende Opfer mehr oder minder ihrem Schicksal
überlassen. Und Dmitri Medwedjew, der Nordossetien Anfang August besuchte, fand zwar Zeit,
Soldaten Orden für den Krieg um Südossetien im August 2008 umzuhängen. Die Mütter von Beslan
dagegen warteten vergeblich auf ein Treffen mit ihm.
Obwohl Medwedjew spätestens beim Anflug an die Tragödie erinnert wurde: Gleich neben dem
Flughafen von Beslan – dem einzigen in Nordossetien – und aus der Luft gut sichtbar wurde eine
Gedenkstätte errichtet, wo die meisten Opfer ihre letzte Ruhe fanden.
»Beslan bittet um ein Treffen mit dem Präsidenten«. So stand es auf zwei großen Transparenten,
die die Mütter mit sich führten, als sie sich am 10. August auf den Weg zum Stab der 58. Armee
machten. Sicherheitskräfte hatten das Gebäude mit drei Postenketten umstellt, die Frauen
scheiterten bereits an der äußersten. Die Beamten, beklagte sich Ella Kessajewa, Vorsitzende der
Selbsthilfegruppe »Stimme von Beslan« – bei hiesigen Medien, hätten versucht, sie einzuschüchtern
und sogar gedroht, von der Schusswaffe Gebrauch zu machen. Einer habe sogar gefragt, was sie
noch wollten: »Ihr hat euer Geld doch schon bekommen«.
»Mit Tränen in den Augen«, sagt Kessajewa, hätten sie sich auf den Heimweg gemacht. Weit kamen
sie nicht. Ein Straßenposten stoppte ihre Autos und hielt die Frauen fest, bis ein Vorgesetzter kam,
der ihre Personalien feststellen wollte. Zufall oder nicht: Akkurat in diesem Moment startete
Medwedjew zum Rückflug nach Moskau.
»Wir wollten mit ihm doch nur über unsere Probleme reden«, sagt Kessajewa, Vor allem über den
Stand der Ermittlungen«. Fünf Jahre sind vergangen, doch die Öffentlichkeit stochert nach wie vor
im Nebel, Zwar legten die Staatsanwaltschaft und eine unabhängige Untersuchungskommission des
Parlaments ihre Berichte schon vor zwei Jahren vor. Doch beide strotzen vor Widersprüchen und
lassen die wichtigsten Fragen unbeantwortet: Was geschah unmittelbar vor der Geiselnahme, und
wie konnte es überhaupt so weit kommen? Warum gab es beim Sturm, den unabhängige Experten
als unnötig kritisieren, so viele Tote, wer erteilte den Befehl dazu und warum?
Fragen, die womöglich nie geklärt werden. Denn die Geheimdienste entschieden, welche Akten die
Abgeordneten einsehen durften und welche nicht. Und die Terroristen wurden – mit einer Ausnahme
– beim Sturm getötet.
Hiesige Bürgerbewegte addieren derweil die Kollateralschäden. Aus ihrer Sicht verschaffte das
Geiseldrama Wladimir Putin einen plausiblen Anlass, Russland ein anderes politisches System aufs
Auge zu drücken: Eine straffe Machtvertikale, die Opposition und Zivilgesellschaft marginalisiert und
die Medien erneut an die Kandare nimmt. In der Tat brachte Russlands damaliger Präsident
einschlägige Änderungen von Gesetzen auf den Weg, kaum, dass die Toten von Beslan unter der
Erde lagen, und begründete die Attacke auf Verfassungsrechte mit der Notwendigkeit, Terrorismus
und Extremismus Einhalt zu gebieten.
Im Nordkaukasus ging die Rechnung bisher nicht recht auf. Kaum ein Tag, an dem Medien nicht
über neue Opfer von Terroranschlägen berichten. In der Region, so die Mütter von Beslan in ihrem
Brief, den sie Medwedjew nicht überreichen durften, werde das höchste Verfassungsrecht mit Füßen
getreten: Das Recht auf Leben.
* Aus: Neues Deutschland, 28. August 2009
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