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Russlands Außenpolitik: Völlig losgelöst von der Innenpolitik

Von Fjodor Lukjanow *

Für Russland fällt die politische Bilanz in diesem Jahr zweideutig aus. Denn einerseits ist Russlands internationales Ansehen in den vergangenen zwölf Monaten gewachsen. Wenn man die Lösungen bei Themen wie Syrien, Iran, Zollunion und die Ukraine bedenkt, dann hat die russische Führung und insbesondere das Außenministerium gute Arbeit geleistet. Nicht zufällig wurde Präsident Wladimir Putin vom „Forbes“-Magazin zum einflussreichsten Politiker der Welt gekürt. Auch Außenminister Sergej Lawrow wurde von vielen Experten zu den besten Chefdiplomaten der Gegenwart gezählt.

Paradox ist aber, dass Russland trotz der offensichtlichen Erfolge in der Welt (und zwar nicht nur im Westen, sondern auch im Osten) nach wie vor als ein vor sich hin darbendes Land betrachtet wird. Denn bei seiner von der internationalen Konjunktur stark abhängenden Wirtschaftsstruktur und bei den aktuellen demografischen Trends wird Russlands Rolle in der Welt zunehmend geringer werden. Der jüngste Aufschwung wird eher als einer der letzten vor Russlands unvermeidbarer Talfahrt gesehen. Moskau ist kaum fähig, sein Wertesystem in den internationalen Fragen zu korrigieren, das Thema Prestige in den Hintergrund zu schieben und sich mit der Lösung von akuten Problemen zu befassen. Seine Ambitionen, die den eigenen reellen Möglichkeiten nicht entsprechen, werden früher oder später dazu führen, dass die „Blase“ platzt. Im Westen spricht man darüber offen; im Osten geht man davon aus, ohne das laut zu sagen, nutzt aber Russlands Aktivitäten zu den eigenen Gunsten aus.

Die Einstellung der russischen Bevölkerung zu den diplomatischen Erfolgen des Kremls ist eigenartig. Einerseits werden die Erfolge begrüßt, denn die Menschen mögen es nun einmal, wenn ihr Land eine wichtige Rolle in der Weltpolitik spielt. Denn diplomatisches Geschick findet Lob außerhalb von konkreten Interessen. Der Gerechtigkeit halber muss man feststellen, dass die nationalen Interessen, die nicht nur einzelne Beamte, sondern das gesamte Volk betreffen, überhaupt nicht benannt worden sind. Die russische Gesellschaft denkt allgemein, dass die Außenpolitik bzw. die nationale Strategie etwas ist, womit sich die Regierenden beschäftigen. Unter Präsident Putin ist diese Vorstellung besonders ausgeprägt. Die Idee des Wiederaufstiegs als Supermacht wurde von der Bevölkerungsmehrheit befürwortet, zumal Putin trotz seiner mitunter sehr brachialen Ausdrucksweise immer sehr vorsichtig und unter Berücksichtigung der aktuellen Umstände vorging, ohne den Bogen zu überspannen.

Die Gesellschaft erwacht und begreift allmählich ihre Macht. Das ist ein langsamer Prozess, doch außenpolitische Angelegenheiten gehören nicht zu den Prioritäten für den Durchschnittsbürger. Doch die Emanzipation wird früher oder später auch die Außenpolitik berühren. Die Vorstellungen verschiedener Gesellschaftsschichten vom außenpolitischen Kurs des Landes sind sehr unterschiedlich. In absehbarer Zeit werden Fragen aufkommen, wer und wie die Außenpolitik gestaltet oder ob die Außenpolitik den Interessen verschiedener Unternehmen, Glaubensgemeinschaften, nationalen und sozialer Gruppen entspricht. Denn diese Interessen sind oft nicht nur unterschiedlich, sondern entgegengesetzt. Die aktive Mittelschicht und die Rentner sehen Russlands Stellung in der Welt unterschiedlich. Auch der muslimische Teil der russischen Bevölkerung sieht die Situation um den so genannten „arabischen Frühling“ anders als die Staatsführung. Auch die verschiedenen Bereiche der russischen Wirtschaft haben unterschiedliche internationale Prioritäten. Darüber hinaus gibt es noch viele weitere Kontroversen.

Kennzeichnend war Russlands jüngster Triumph im „Kampf um Kiew“. Russland hat die EU offenbar in die Falle gelockt und die gesamte Politik der Östlichen Partnerschaft zunichte gemacht. Ob die aus dem Wohlstandsfond stammenden 15 Milliarden Dollar Kreditgelder für die kriselnde Ukraine richtig angelegt sind, ist zweifelhaft. Wessen Interessen entspricht denn diese Entscheidung, wenn man nicht die abstrakten Haltungen Russlands in außenpolitischen Fragen, sondern konkrete Bedürfnisse seiner Bevölkerung betrachtet?

Die innenpolitische Situation in Russland wird davon kaum berührt. Die außenpolitischen Erfolge sind zwar erfreulich, aber nicht genügend gefestigt. Eine umfassende Diskussion über Russlands Platz in der Welt in den kommenden Jahrzehnten, über seine Ziele und Entwicklungswege findet weder in Intellektuellenkreisen noch in der Gesellschaft statt. Aber ohne diese öffentliche Debatte werden die erwähnten Probleme nur größer.

Fjodor Lukjanow ist Chefredakteur der Zeitschrift „Russia in Global Affairs“

Die Meinung des Verfassers muss nicht mit der von RIA Novosti übereinstimmen.

* Aus: Russische Nachrichtenagentur RIA Novosti, 26.12.2013; http://de.ria.ru



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