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Moskau überdenkt außenpolitische Strategie

Neue Doktrin reagiert auf veränderte internationale Bedingungen

Von Irina Wolkowa, Moskau *

Moskau will seine internationalen Beziehungen auf »sachlicher Grundlage und ohne ideologische Komponenten« gestalten. Priorität, so betonte Präsident Dmitri Medwedjew auf einer Beratung im Außenministerium, an der auch Russlands Botschafter teilnahmen, habe dabei die Entwicklung der Zusammenarbeit mit den Schwellenländern.

Als Schwellenländer gelten insbesondere Brasilien, Indien und China. Diese Staaten und Russland firmieren bei einigen Experten als BRIC-Staaten. Vor allem um diese Gruppe von Ländern geht es auch in Russlands neuer außenpolitischer Doktrin. Diese soll – zumindest in einigen Teilen – in den nächsten Tagen veröffentlicht werden.

Fjodor Lukjanow, der Chefredakteur der Zeitschrift »Russland in der globalen Politik«, hält das Papier für längst überfällig. Die gegenwärtige außenpolitische Strategie, die kurz nach der Wahl von Medwedjews Vorgänger Wladimir Putin im März 2000 verabschiedet worden war, könne den »rasanten« geopolitischen Veränderungen der letzten acht Jahre nur noch bedingt Rechnung tragen. Das internationale Kräfteverhältnis habe sich in diesem Zeitraum stark zu Ungunsten der USA verschoben. Dafür habe der Einfluss der Staaten Asiens zugenommen, und vor allem der von Rohstoffexporteuren wie Russland. Außerdem hätten UNO, Internationaler Währungsfonds und andere internationale Organisationen, die ein Produkt des Kalten Krieges waren, ihre Handlungsfähigkeit zum Großteil eingebüßt. Viele außen- und sicherheitspolitische Spielregeln müssten daher umgeschrieben werden, forderte Chefredakteur Lukjanow.

Faktisch hatte der jetzt von Medwedjew offiziell angekündigte außenpolitische Paradigmenwechsel schon in Putins zweiter Amtszeit begonnen. Dieser und andere ranghohe Politiker hatten wiederholt geäußert, die BRIC-Staaten könnten zu einem guten Teil sogar die sich anbahnende weltweite Rezession abfangen. Vor allem Russland war damit gemeint, das in den nächsten 15 Jahren Milliarden in den Ausbau und die Modernisierung der Infrastruktur pumpen will und bereits mehrfach Ansprüche auf die Rolle eines Primus innerhalb dieser Staatengruppe gucken ließ.

Manche Experten sind hinsichtlich dieser Vorstellungen allerdings skeptisch. Zum einen, weil auf die BRIC-Staaten momentan noch weit weniger als die Hälfte der Weltwirtschaftsleistung entfällt. Auch sind die vier Staaten nach Ansicht westlicher Politologen politisch unterschiedlich verfasst: Indien und Brasilien gelten bei ihnen als Demokratien, China nicht, Russland nur bedingt. Für Zündstoff sorgt auch die unterschiedliche ökonomische Interessenlage. Während Russland und Brasilien Rohstoffexporteure sind, gehören Indien und vor allem China zu den Importeuren.

Auch den von Medwedjew angekündigten Verzicht auf Ideologie – gemeint war eigentlich Moskaus Verhältnis zu seinen früheren Verbündeten in Osteuropa und den ehemaligen Republiken der UdSSR – registrierten westliche Beobachter mit gebremstem Optimismus. Der Druck auf die Ukraine und Georgien, die in die NATO drängen, habe seit dem Machtwechsel im Kreml schließlich zugenommen, konstatierte Außenpolitik-Experte Lukjanow.

Lukjanow kritisierte Medwedjew zudem dafür, dass dieser bei der Beratung im Außenministerium erneut damit gedroht habe, russische Raketen wieder auf Ziele in NATO-Staaten auszurichten. Das sei nur psychologische Kriegführung und habe mit »adäquaten Antworten« auf die Stationierung des US-amerikanischen Raketenschilds in Osteuropa, wie sie der Präsident angekündigt hatte, nichts zu tun. Die einzige mögliche Antwort, die etwas bewirken könne, sei die Modernisierung des russischen atomaren Abschreckungspotenzials. Die indes ist nur mit einer substanziellen Aufstockung des Rüstungsetats zu bewerkstelligen.

Mit solcherart Problemen dürfte sich Moskau ohnehin spätestens im kommenden Jahr konfrontiert sehen, wenn der START-1-Vertrag zur Begrenzung strategischer Kernwaffen ausläuft. Seit Washington sich das Recht auf weltweite Erstschläge gegen potenzielle Bedrohungen anmaßt, verhandeln dessen Emissäre mit Moskau nur noch formell über ein Folgeabkommen. Auch andere Abrüstungsinitiativen treten daher inzwischen auf der Stelle.

* Aus: Neues Deutschland, 17. Juli 2008


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