Putin marschiert bei den Gewerkschaften
Schutz der Arbeiterrechte Schwerpunkt der russischen Mai-Demonstrationen
Von Irina Wolkowa, Moskau *
Zwei blaue Augenpaare kreuzten
ihre Blicke: das von Regierungschef
Wladimir Putin, der am 7. Mai
erneut als Präsident vereidigt wird,
und das einer älteren Frau, die
unter den blauen Fahnen der Föderation
Unabhängiger Gewerkschaften
gestern in Moskau durch
das Stadtzentrum marschierte.
Wie, wollte die Frau von Putin
wissen, habe er es angesichts seines
vollen Terminkalenders nur
geschafft, Zeit für die Demo zu finden.
Die Antwort fiel kurz und
bündig aus: Man müsse halt mehr
und länger arbeiten. Ein beziehungsreicher
Wink mit dem Zaunpfahl,
hieß es dazu bei kritischen
Medien. Denn seit Wochen ist in
Russland von einer allmählichen
Anhebung des Rentenalters auf 63
Jahre die Rede.
Ein Verzicht darauf und mehr
Schutz für die Rechte der Arbeiter
gehörten denn auch landesweit zu
den Hauptforderungen der Demonstrationen
zum 1. Mai, der seit
dem Systemwechsel in Russland
»Tag des Frühlings und der Arbeit
« heißt. Allein zur Demonstration
der Gewerkschaften in Moskau
kamen nach offiziellen Angaben
über 150 000 Menschen. Darunter
wie immer viele führende
Politiker der Regierungspartei
»Einiges Russland« und erstmals
auch deren Doppelspitze.
Nochpräsident Dmitri Medwedjew,
der nun erneut an Putin
übergibt und diesen Ende Mai als
Vorsitzender der Einheitsrussen
ablösen soll, will anders als jener
auch als Parteimitglied Volksnähe
zeigen. Der gestrige Anlauf ging
allerdings gründlich daneben. Der
für Personenschutz zuständige föderale
Sicherheitsdienst hatte die
Zugänge zu der Bierbar auf dem
Neuen Arbat – dem ehemaligen
Kalinin-Prospekt –, wo der Kremlchef
sich nach der Demonstration
labte, abgesperrt. Ebenso den
Parkplatz hinter der Kneipe, wo
seine Limousine stand.
Die Demonstration der Gewerkschaften
war zwar die mit
Abstand größte, aber nicht die
einzige. Die Kommunistische Partei
der Russischen Föderation hatte
ihre Anhänger ebenfalls mobilisiert,
vom Leninprospekt ging es
traditionell zum Karl-Marx-Denkmal
gegenüber dem Bolschoi. Es
kamen bis zu 5000 Mitglieder und
Sympathisanten, zum Meeting der
Mitte-Links-Partei »Gerechtes
Russland« im Sokolniki-Park dagegen
nur rund 800 Menschen;
auch bei der Kundgebung der Liberaldemokraten
um den Ultranationalisten
Wladimir Shirinowski
auf dem Puschkin-Platz waren
es s weniger als 2000.
Gar nur 400 Teilnehmer zählte
der »Russische Marsch«, den die
halblegalen Hardcore-Nationalisten
im Moskauer Nordwesten veranstalten.
Viele trugen schwarze
Bänder an den Jacken – Zeichen
der Trauer über den Wahlsieg Putins
und Abgrenzung zum liberalen
Teil der Massenprotestbewegung,
deren Markenzeichen weiße
Bänder als Symbol der Gewaltlosigkeit
sind. Der Bruch mit Liberalen
und Linken ist damit perfekt.
Diese planten ursprünglich eine
eigene Mai-Kundgebung, zogen
ihren Antrag jedoch zurück, um
sich auf den Protest am Vorabend
von Putins Amtseinführung zu
konzentrieren. Bisher konnten sie
sich mit der Moskauer Stadtregierung
jedoch nicht auf den Ort einigen.
Sie bestehen auf die Twerskaja,
wo gleichzeitig die Proben für
die Militärparade am Tag des Sieges
stattfinden. Demonstrationen
von Gewerkschaften und Parteien
für mehr soziale Gerechtigkeit gab
es gestern auch in anderen Großstädten
Russlands.
* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 2. Mai 2012
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