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Von Solidarnosc zum Luxushafen

Stadt im Wandel: Nach dem Ende der Werft versucht Szczecin einen Neubeginn

Von Jenny Becker *

Die polnische Grenzstadt Szczecin sucht nach ihrer Identität. Ihre stolze Werft ist pleite, die Wirtschaft muss neu ausgerichtet werden. Die ehrgeizigen Pläne reichen bis ins Jahr 2050 und sehen den Wandel vom Industriestandort zum »Grünen Venedig des Nordens« vor.

Die verlassene Werft liegt als offene Wunde am Hafen von Szczecin. Möwen ziehen ihre Kreise, Wellen schlagen ans Quai. Mehr bewegt sich nicht rund um das Gelände. Die Geräusche der Schwerindustrie sind verstummt. Wo in guten Zeiten 12 000 Arbeiter mächtige Schiffe bauten, kündet heute allein die Armee gelber Kräne von einstiger Bedeutung. Die ehemals größte Werft Europas wurde vergangenes Jahr geschlossen. Damit verlor die 400 000 Einwohner-Stadt, die wenige Kilometer von der deutschen Grenze entfernt liegt, nicht nur den wichtigsten Arbeitgeber. Was nun fehlt, ist der Kitt, der die Menschen mit ihrer Stadt verbindet und die Brüche der wechselvollen Geschichte glättet. Die Stadtväter bemühen sich derzeit um eine völlige Neuorientierung Szczecins. Die Hauptstadt Westpommerns soll sich vom Industriestandort zum modernen Dienstleistungssektor wandeln. Um Firmenansiedlungen wird eifrig geworben, Technologieparks und IT-Unternehmen sollen den Weg in die Zukunft weisen. Zudem setzt man auf den Ausbau des Wassertourismus, der Besucher und Gelder in die Stadt spülen soll. Von Jachthäfen, Boulevards und Kanusport ist die Rede. Wieder einmal steht Szczecin vor einer historischen Herausforderung. Wieder ist es auf der Suche nach seiner Identität.

Es fehlt der Stolz auf etwas Gelungenes

Schon in der Zeit nach 1945 machte Szczecin einen Selbstfindungsprozess durch. Die bis dahin deutschem Gebiet zugehörige Stadt namens Stettin wurde Polen zugesprochen. Die deutschen Einwohner wurden vertrieben, polnische angesiedelt. Sie sollten Wurzeln schlagen in einer fremden Stadt, die vom Krieg gezeichnet war. Die architektonischen Narben sind noch sichtbar. Zwischen Gründerzeithäusern mit üppigem Dekor stehen Plattenbauten der fünfziger und sechziger Jahre. Ein richtiges Zentrum gibt es nicht. Die Altstadt wurde im Krieg zerstört. An der Orientierungslosigkeit ändern die breiten Straßen und sternförmigen Plätze im Pariser Stil nichts. »Unser Hauptproblem ist das fehlende Gemeinschaftsgefühl«, sagt der stellvertretende Bürgermeister, Aleksander Buwelski. »Den Menschen fehlt der Stolz auf etwas Gelungenes.« Während der vergangenen Jahrzehnte war das anders. In den Neunzigern wurde die Werft als Musterbeispiel für vorbildliches Management gelobt. Szczecin hatte es geschafft, seine Werft aus der Krise zu steuern, in die sie 1990 durch die plötzliche Konkurrenz des Weltmarkts zu sinken drohte. Zum Fall des »Eisernen Vorhangs« hatten die Werftarbeiter zuvor ihren Teil beigetragen: Szczecin war 1980 eine Keimzelle der Solidarnosc-Bewegung. Doch die Erfolge der Vergangenheit wirken nicht nach. Zum Symbol des Arbeiteraufstands schwang sich Danzig auf. Und das Managementwunder konnte 2004 nicht fortgesetzt werden. Nach Polens EU-Beitritt mussten die staatlichen Zuschüsse an die Schiffbauindustrie wegen Wettbewerbsverzerrung eingestellt werden. Die damalige Regierung hatte versäumt, bei der EU rechtzeitig eine Subventionsverlängerung zu beantragen. Die Privatisierung der Werft scheiterte. Die verbliebenen 4000 Arbeiter wurden entlassen.

Stieg die Arbeitslosigkeit dadurch dramatisch an? Andrzej Przewoda, Direktor des Arbeitsamts Westpommern, schüttelt energisch den Kopf. »Es ist uns gelungen, das Problem relativ effektiv zu lösen.« Mit Laptop präsentiert er die Erfolgsbilanz: Nur wenige Hundert Werftarbeiter sind heute arbeitslos. Das sei einem speziellen Programm zu verdanken, das ihre Eingliederung in den Arbeitsmarkt unterstützte. Zehn Millionen Euro seien dafür geflossen, Teile aus EU-Töpfen. Auch Existenzgründungen wurden gefördert Zwei gelungene Beispiele sitzen in Blazer und Bluse neben Przewoda. Anna Gorniaczyk und Bozena Nabialczyk sind adrette Frauen in mittleren Jahren. Sie waren die Buchhalterinnen der Werft, haben nun ihr eigenes Buchhaltungsbüro. Beide wissen, dass es vielen ehemaligen Kollegen weniger gut geht. »Sie müssen jetzt häufig unter ihren Qualifikationen arbeiten«, erklärt Nabialczyk. Ehrlicherweise merkt auch Przewoda an, dass die meisten sicher »nach attraktiveren Arbeitsstellen suchen«.

Wie groß ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt sind, ist fraglich. Branchen wie Informatik oder Dienstleistungen setzen auf qualifizierte Hochschulabsolventen – von denen gibt es in Szczecin mit seinen rund 65 000 Studenten genug. Für das Bankunternehmen UniCredit war die Verfügbarkeit an deutschsprachigen, gut ausgebildeten Mitarbeitern ausschlaggebend für die Standortentscheidung. Das Durchschnittsalter der 300 polnischen Angestellten liegt bei 27 Jahren. Der Blick in die Büros lässt an eine Uni-Bibliothek denken. Statt mit Referaten beschäftigen sich die jungen Leute mit den Konten deutscher und österreichischer Kunden. Wenn in Deutschland jemand der Hypovereinsbank einen Freistellungsauftrag für sein Konto erteilt, tut er das in der lokalen Filiale – die Weiterbearbeitung übernehmen die Mitarbeiter in Szczecin.

Schwimmender Garten mit edlen Boulevards

»Outsourcing« lautet der Fachbegriff. Gemeint ist die Abgabe von Unternehmensaufgaben an Dritte. Szczecin will zur Anlaufstelle für solche Dienstleistungsanbieter werden. Geeignete Büroflächen sind noch rar, ambitionierte Projekte nicht. Mitten in der Stadt entsteht ein Technologiepark für 25 Millionen Euro. Hier sollen kleine und mittelständische Unternehmen in der Anfangsphase unterstützt werden. Deutsche Existenzgründer sind willkommen. »Szczecin soll wieder ein regionales Zentrum auch für deutsche Landkreise werden«, sagt der Vize-Bürgermeister. Das Reden von der Zukunft fällt ihm leicht. Er ist ein Managertyp, der Zuversicht ausstrahlt. Locker spricht er über seine Stadt, manchmal ironisch, gerade wenn es um Schwierigkeiten geht. »In Polen gilt Szczecin als Stadt am Ende der Welt.« Geografisch stehe man Berlin eben näher als Warschau. Szczecin will sich nun wieder als »offene Weltstadt« etablieren, wie damals, als die Seewirtschaft florierte.

Die Träume reichen weit in die Zukunft: »Schwimmender Garten 2050« heißt die »spektakuläre Vision«, die nicht nur alle Einwohner hinreißen soll. »Wir wollen eine Stadt schaffen, die die Welt in Staunen versetzt. Eine von Grün umgebene Ökostadt auf dem Wasser«, heißt es in einem Werbeprospekt. Vom »Neuen Grünen Venedig des Nordens« ist zu lesen. Tatsächlich offenbart eine Hafenrundfahrt Erstaunliches. Nachdem das Schiff die verlassene Werftanlage passiert hat, biegt es in einen Seitenarm der Oder ab. Plötzlich Idylle. Weidenzweige hängen ins Wasser, Reiher und Seeadler flattern erschrocken aus dem dichten Laub. Nach kurzer Zeit öffnet sich der Kanal in einen weiten See. Die Haut riecht jetzt nach Wind und Urlaub. Dass hier Kanufahrer, Segler und Angler bald das Bild prägen, ist leicht vorstellbar. Buwelski berichtet stolz von der »Westpommerschen Segelroute«, die von Greifswald über Szczecin an die Ostsee führen wird. 2011 beginnt der Bau eines Jachthafens im Herzen der Stadt. Die angrenzende Hafeninsel soll irgendwann zum zentralen Viertel werden. Buwelski schwärmt von teuren Lofts, schönen Boulevards und Museen. Die ansässige Fischfabrik und mehrere kleine Industriebetriebe wehren sich allerdings gegen ihre Umsiedelung. Mit Szczecins Vergangenheit haben sie wohl noch nicht abgeschlossen. Bis 2050 sind ja auch noch 40 Jahre Zeit.

* Aus: Neues Deutschland, 22. Oktober 2010


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