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Die wirtschaftliche Strangulierung Palästinas

Der Alltag wird immer schwieriger. UNO-Studie: Täglich 7 Mio. Dollar Verluste durch israelische Abriegelung

Je länger die Auseinandersetzungen im Westjordanland und in Gaza dauern, desto mehr dringen auch hierzulande Nachrichten durch, die auf die Hintergründe des Konflikts verweisen. Einen interessanten Aspekt beleuchten die folgenden beiden Beiträge, die sich mit der fast totalen Abhängigkeit der palästinensischen Autonomiegebiete von der israelischen Wirtschaft befassen. Die Kontrolle der Ökonomie diente Israel schon in früheren Auseinandersetzungen als jederzeit einsetzbares politisches Druckmittel. Arafats Autonomiebehörde hat zwar die Verantwortung für das soziale Wohlergehen seiner Bevölkerung übernommen, besitzt aber keine wirtschaftlichen Hebel, ihr nachzukommen. Auch aus diesem Dilemma speist sich die Kritik am gemäßigten Kurs Arafats seit Oslo und die Radikalisierung der Massen. Immer mehr Menschen, insbesondere junge Arbeitslose, werden in die Arme von Hamas oder anderen Gruppierungen getrieben.
Wir dokumentieren zwei Artikel, die am 27. Oktober 2000 in der Süddeutschen und in der Neuen Zürcher Zeitung erschienen.


Krieg mit ökonomischen Mitteln

Israels Abriegelungen legen die palästinensische Wirtschaft lahm - Tausende können nicht mehr zur Arbeit / Von Heiko Flottau

Israels Ministerpräsident Ehud Barak hat erklärt, er wolle Israelis und Palästinenser "wirtschaftlich trennen". Für die Menschen in Ramallah bedeutet dies, dass der Krieg, der auf der Straße nicht zu gewinnen ist, auf das ökonomische Feld ausgeweitet wird. Seit der Eroberung des Westjordanlandes durch Israel im Sechs-Tagekrieg von 1967 ist die palästinensische Wirtschaft komplett abhängig von Israel. Sie ist, wie die Bewohner des Westjordanlandes sagen, eine "israelische Satellitenwirtschaft". Wasser, Gas, Strom, Benzin, Heizöl - alles kommt aus Israel. Überweisungen von einer palästinensischen Bank zur anderen müssen über ein israelisches Geldinstitut abgewickelt werden. Selbst Palästinenserpräsident Jassir Arafat verteilt das Geld, das er von der Europäischen Union zur Aufrechterhaltung seiner Selbstverwaltungsbehörde bekommt, von einem israelischen Bankkonto aus. Wenn er mit dem Hubschrauber von Gaza nach Ramallah fliegen will, braucht er eine israelische Erlaubnis.

Etwa 200 000 Palästinenser gingen bisher täglich in Israel zur Arbeit. Nach dem Ausbruch der Kämpfe hat Israel die palästinensischen Gebiete abgeriegelt. Die Palästinenser können seitdem nicht mehr nach Israel - auch nicht zum Arbeiten. Die israelische Olivenernte, für die meist billige palästinensische Arbeiter eingesetzt werden, fällt in diesem Jahr möglicherweise komplett aus. Auf israelischen Baustellen und in der Landwirtschaft geht die Arbeit seit Wochen nicht mehr voran. Israels Wirtschaft leidet - die der Palästinenser aber steht kurz vor dem Zusammenbruch. Weil die israelische Armee die Straßen zwischen den größeren Orten und Städten des Westjordanlandes abgesperrt hat, können die Palästinenser ihre landwirtschaftlichen Produkte nicht mehr transportieren, Handel ist kaum noch möglich. Die 60 Kilometer nördlich von Ramallah gelegene Stadt Nablus ist sogar völlig isoliert.

Die Schuld für diese missliche Situation sehen viele Palästinenser bei Jassir Arafat. Er habe in Oslo Verträge unterzeichnet, welche das Westjordanland und Gaza in ein "Gefängnis unter offenem Himmel" verwandelten, und den Schlüssel zu diesem Gefängnis habe er den Israelis übergeben. Die Abkommen von Oslo geben den Israelis das Recht, die von den Palästinensern verwalteten Gebiete von jenen Gegenden des Westjordanlandes abzuriegeln, in denen Arafats Behörde nur die zivile Kontrolle hat und von jenen, die noch voll unter israelischer Besatzung stehen. Während der Intifada von 1987 bis 1993 waren Gaza und das Westjordanland noch komplett unter israelischer Besatzung. Damals war Israel auch für die Versorgung der Palästinenser verantwortlich. Heute jedoch ist allein Arafats Behörde verantwortlich - auch wenn Israels Abriegelungen die palästinensische Wirtschaft brachlegen. Sie ganz zu zerstören, wird so immer leichter: Die Olivenhaine der Palästinenser liegen häufig an den Hängen, auf deren Spitze Israelis Siedlungen errichtet haben. Seit kurzem schießen jüdische Siedler auch auf palästinensische Bauern bei der Ernte. Und im Norden haben israelische Bulldozer jetzt sogar begonnen, Olivenbäume zu roden - die Existenzgrundlage tausender Palästinenser.
Aus: Süddeutsche Zeitung, 27.10.2000

Prekärer Alltag der Palästinenser

Die Abriegelung führt zu starkem Wirtschaftsrückgang

Eine Studie des Uno-Sonderkoordinators für die palästinensischen Gebiete beziffert die wirtschaftlichen Verluste im Gazastreifen und im Westjordanland auf täglich sieben Millionen Dollar. Die Ursachen seien die Schliessung der Grenzen und die Einschränkung der Bewegungsfreiheit in den palästinensischen Gebieten durch Israel.

«Wir können unsere Verletzten nicht mehr versorgen», erklärt Mohammed Sobeh, der palästinensische Botschafter bei der Arabischen Liga in Kairo. In den vier Wochen der «Aksa-Intifada» seien über 5000 Personen zum Teil schwer verletzt worden. Durch die Schliessung der palästinensischen Grenzübergänge sei es praktisch unmöglich, sie zur Behandlung in die Nachbarländer zu transportieren. Ebenso schwierig sei es,genügend Ärzte und Medikamente in den Gazastreifen und nach Cisjordanien zu bringen, um die Verwundeten korrekt und schnell zu behandeln. Am tragischsten, führt Sobeh aus, wirke sich dies bei den zahlreichen Augenverletzungen aus. In den palästinensischen Gebieten gibt es insgesamt neun Spitäler. Doch sind sie klein und haben nur wenige Fachärzte und Chirurgen. Nun gehen ihnen auch noch die Heilmittel aus.

Nahrungsmittel an den Grenzen blockiert

Am ägyptischen Grenzübergang Rafah und der jordanischen Zollkontroll-Stelle Malek as-Saleh stehen seit Tagen zahlreiche Lastwagen und warten auf eine Einfuhrerlaubnis. Zum Teil kommen sie aus den umliegenden arabischen Ländern; Ägypten, Jordanien und sogar der Irak wollen Hilfsgüter in die palästinensischen Gebiete bringen. Andere Fahrzeuge gehören palästinensischen Unternehmern. So versuchen zwölf Lastwagen einer palästinensischen Nahrungsmittelfirma, deren Mühlen in Ägypten stehen, seit einer Woche Mehl nach Gaza zu transportieren. Selbst wenn ihnen die Einreiseerlaubnis erteilt werde, seien weitere Hindernisse zu überwinden, berichtet Tarek Hassan, der für die palästinensischen Gebiete zuständige Korrespondent der ägyptischen Tageszeitung «Al-Ahram». Die inzwischen gut ausgebaute Nord-Süd-Achse durch den Gazastreifen gehöre nach den jüngsten Abkommen zur Zone B, dürfe also im Gegensatz zur Zone C auch von den Palästinensern benutzt werden. Nun habe die israelische Armee zahlreiche Abschnitte der Autobahn zur Zone C erklärt, was bedeute, dass sie für Palästinenser nicht mehr befahrbar sei. Schwierig sei auch die Aus- und Einreise über den Flughafen in der Nähe von Rafah, meint Hassan. Da auf ihm laut einem Abkommen mit Israel nur kleine Flugzeuge landen dürfen, ist das Ausfliegen von Verletzten im grossen Stil praktisch unmöglich. Weiter beeinträchtigen die punktuellen Schliessungen des einzigen palästinensischen Flughafens den Verkehr von Geschäftsleuten, die erst seit kurzem und noch sehrzögernd Investitionen im Gazastreifen und in Cisjordanien tätigen.

In einer Studie des Uno-Sonderkoordinators für die palästinensischen Gebiete werden die bisherigen wirtschaftlichen Verluste durch die Abriegelung Cisjordaniens und des Gazastreifens auf rund 200 Millionen Dollar geschätzt. Als eine der Hauptursachen wird in der Studie die Lahmlegung des kleinen Grenzverkehrs der palästinensischen Arbeiter genannt. Bis zum Ausbruch der Intifada arbeiteten pro Tag durchschnittlich 125 000 Palästinenser als Tagelöhner in Israel, nun ist ihnen die Einreise nach Israel verboten. Die Arbeitserlaubnis für einen Job in Israel, zumeist auf dem Bau oder in der Landwirtschaft, ist nur schwer zu erhalten; zuvor muss der Anwärter einen Sicherheitsausweis beantragen. Dieser ist an zahlreiche Auflagen gebunden. So muss der Antragsteller verheiratet und über dreissig Jahre alt sein; er darf niemals an einer Demonstration, auch nicht an einer friedlichen, teilgenommen haben. So gering die Zahl der Tagelöhner verglichen mit der Einwohnerzahl des Gazastreifens und Cisjordaniens von vier Millionen erscheint, waren die in Israel arbeitenden Palästinenser mit ihrem Tagelohn von durchschnittlich 27 Dollar bisher eine wichtige Stütze der palästinensischen Wirtschaft. Durch ihre erzwungene Absenz ist die Arbeitslosigkeit von elf Prozent im ersten Halbjahr 2000 auf fast dreissig Prozent emporgeschnellt.

Nur noch Bohnen

Die palästinensische Wirtschaft ist laut Sobeh fast vollständig auf Importe angewiesen. Weniger als zwanzig Prozent der täglich konsumierten Nahrungsmittel stammten aus palästinensischen Ställen und Plantagen, der Rest komme an erster Stelle aus Israel und weiter aus Ägypten und Jordanien. Nach vier Wochen Abriegelung gingendie wenigen Reserven, welche die palästinensischen Behörden angelegt hätten, zur Neige, fährt der Botschafter fort. Die Bürger in Nablus fänden in ihren Läden praktisch nur noch getrocknete Bohnen. In Ramallah, wo es wegen der Nähe einiger Dörfer noch ein mageres Angebot an frischem Gemüse gebe, erziele ein Salatkopf oder ein Kilo Trauben nun Schwarzmarktpreise von fünf bis zehn Dollar.

Die innere Versorgung der palästinensischen Gebiete ist durch die Abriegelung der Städte und zahlreicher Dörfer ebenfalls unterbrochen. Nicht nur der Korridor zwischen dem Gazastreifen und dem Westjordanland ist von der israelischen Armee gesperrt worden, auch die Reise von Dorf zu Dorf oder von einem Dorf in die nächste Stadt ist verboten, falls sie in unterschiedlich verwalteten Zonen liegen. An den Zugangsstrassen der grösseren Orte stünden Panzer; die der kleineren habe man zum Teil mit grossen Betonblöcken unzugänglich gemacht, berichtet Hassan. Nicht nur der Wunsch der Bauern, in der Stadt ihre Waren zu verkaufen oder die frisch geernteten Oliven zur Mühle zur bringen, werde von den israelischen Soldaten zumeist verwehrt, sondern auch der, ein lebenswichtiges Medikament zu kaufen oder einen Kranken ins Spital zu bringen.


Aus: Neue Zürcher Zeitung, 27.10.200

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