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Palästina/Israel: Wohin geht unsere Reise?

Von Jeff Halper *

Man stelle sich vor: 22. (oder 23. oder 24.) September, einen Tag, nachdem der UN-Sicherheitsrat Palästina als Mitgliedsstaat innerhalb der Grenzen von 1967 anerkannt und die Vollversammlung dieses Votum mit einer Mehrheit von 150 Staaten ratifiziert hat:
  • Die palästinensische Flagge neben denen von 192 anderen Mitgliedsstaaten, deren territoriale Einheit durch die Vereinten Nationen gewährleistet wird. Dies ist in der Tat eine der fundamentalen Aufgaben der UNO.
  • Das gesamte Kontrollsytem, das Israel während der letzten 44 Jahre aufgebaut hat, bricht zusammen. Es gibt keine A-,B- und C-Zonen mehr, keine Einreiseverbote nach Jerusalem, da das gesamte Westjordanland, „Ost“-Jerusalem und Gaza jetzt das souveräne Territorium des Staates Palästina bilden. Zehntausende von Palästinensern beginnen einen Marsch durch das ganze Land, begleitet von Tausenden ausländischer Unterstützer. Sie passieren Kontrollpunkte (checkpoints), die allesamt völkerrechtswidrig sind, und reißen sie nieder. Um unnötige Konfrontationen zu vermeiden, werden die Siedlungen umgangen. Deren israelischen Einwohnern wird von der palästinensischen Regierung ein Bleiberecht angeboten, allerdings wird klargestellt, dass sie von nun an unter palästinensischem Gesetz stehen und es palästinensischen Bürgern freisteht, in die Siedlungen zu ziehen. Jüdische Siedlungen, die auf privatem palästinensischen Grund errichtet wurden, werden entweder aufgelöst oder mit entsprechender Entschädigung ihrer Besitzer Flüchtlingen gegeben bzw. Familien, deren Häuser von den israelischen Behörden zerstört wurden (etwa 25 000).
  • Die unzähligen Kampagnen zur Durchsetzung palästinensischer Rechte, einschließlich der BDS-Kampagne, konzentrieren sich von nun an auf ein einziges, allen gemeinsames Ziel: den Abzug Israels aus Palästina. Keine Verhandlungen über Grenzen (außer die palästinensische Regierung wünscht Grenzanpassungen), keine Verhandlungen über Siedlungen. Wie zwischen Staaten üblich, werden Palästina und Israel über Sicherheitsfragen verhandeln, allerdings unter dem Gesichtspunkt beiderseitigen Vorteils. Es müssen keine israelischen Sicherheitsmaßnahmen akzeptiert werden, durch die die palästinensische Souveränität in irgendeiner Weise beeinträchtigt würde – wie etwa eine israelische Militärpräsenz im Jordan-Tal, Änderungen der 1967er Grenzen, die Israel die Beibehaltung seiner großen Siedlungsblöcke erlauben, oder die israelische Kontrolle des palästinensischen Luftraums.
  • In den Hauptstädten der Welt und bei der UNO werden die palästinensischen „Repräsentanten“ durch Botschafter ersetzt. Die palästinensische Regierung ist jetzt in der Lage, die internationalen Gerichtshöfe anzurufen und UN-Verfahren einzuleiten, um Gerechtigkeit und Entschädigung für Jahrzehnte der Besatzung zu erlangen, ohne sich der Hilfe dritter Parteien bedienen zu müssen. All die israelischen Winkelzüge zur Umgehung des Völkerrechts haben ausgedient. Palästina ist unzweideutig ein besetztes Land. Keine Auseinandersetzungen mehr über die schlichte Tatsache der Besatzung, keine Verwendung mehrdeutiger Begriffe wie „umstrittene“ oder „verwaltete Gebiete“, die nur dem Zweck dienen, die Tatsachen zu vernebeln. Keine „Annektierung“ von Ostjerusalem mehr. Jetzt sind es Regierungen und die Vereinten Nationen, und nicht mehr nur zivilgesellschaftlichen Gruppen, die zu effektiven internationalen Sanktionen gegen Israel aufrufen, einschließlich des Boykotts militärischer Güter. Ganz wichtig ist es, gegenüber Israel mit Nachdruck Ansprüche rückwirkend bis 1948 geltend zu machen, besonders vordringlich hier das Recht der palästinensischen Flüchtlinge auf Rückkehr.
  • Die Palästinensische Autonomiebehörde, jetzt eine Übergangsregierung der nationalen Einheit, beraumt Wahlen an, an denen teilzunehmen, alle Palästinenser der Welt berechtigt sind. Die palästinensische Staatsbürgerschaft steht jedem Palästinenser zu, der sie haben möchte. Die Bewohner der ausländischen Flüchtlingslager wie auch die Menschen in der Diaspora werden eingeladen, nach Hause zurückzukehren.
  • Schon vor dem September-Votum muss deutlich gemacht werden, dass die palästinensische Vision nicht die einer Zwei-Staaten-Lösung ist, sondern eher die eines Zwei-Staaten-Zwischenschritts in einem Prozeß, der letztendlich in einer Ein-Staat-Lösung resultieren wird – sei dieser demokratisch, bi-national oder Teil einer regionalen Konföderation. Die Dynamik zweier Völker, die sich in das gleiche Land friedlich und einvernehmlich teilen, zusammen mit der Existenz einer palästinensischen Gemeinde innerhalb Israels und dem von den Flüchtlingen in Anspruch genommenen Recht der Rückkehr in die Heimat, werden zu weiterer Entwicklung führen. Es mag Jahrzehnte dauern, aber die Idee ist, dass die beiden Länder in eine stärker inklusive Einheit im ganzen Landstrich zwischen dem Mittelmeer und dem Jordan umgewandelt werden.
Die Palästinensische Autonomiebehörde scheint entschlossen zu sein, im September die palästinensische Staatlichkeit unilateral zu erreichen, obwohl sie andererseits unbeirrt die Tür für „Verhandlungen“ offenhält. Wenn manch ein Palästinenser Bedenken hegt hinsichtlich der Klugheit oder der Reichweite dieses Vorstoßes – er thematisiere die Flüchtlingsfrage nicht, so wird argumentiert, und er könne auch das Ende der Besatzung nicht erzwingen -, so ist es reichlich spät, diese Bedenken jetzt vorzubringen. Falls es uns nicht gelingt, alle Hindernisse von heute bis September zu beseitigen, falls die palästinensische Führung sich nicht mit der Zivilgesellschaft verbindet, um die Massen der Menschen weltweit zu mobilisieren, die die palästinensische Sache unterstützen, droht die September-Initiative, zum bloßen Scherz zu werden, zu einem halbherzigen Versuch, gegenüber Israel zu punkten, zu einer leeren Geste, die zu allem Überfluss auch noch die Unfähigkeit der palästinensischen Führung bloßstellen wird, Israel wirkungsvoll Paroli zu bieten. Dies wäre in der Tat ein Desaster.

Wenn diese Gelegenheit im September voll genutzt werden soll, dann muss die palästinensische Einheitsregierung unmissverständlich und sofort ihre Absicht erklären, im September die Unabhängigkeit und den Beitritt zur UNO anzustreben. Dem muss ganz schnell eine effektive Mobilisierung der Unterstützung durch die weltweite Zivilgesellschaft folgen. Mahmud Abbas und ganz allgemein die PA sollten dies als einen integralen Bestandteil der palästinensischen Strategie ansehen.

Die internationale Zivilgesellschaft ist der wichtigste Verbündete der Palästinenser, aber als Nicht-Palästinenser können wir nur in Reaktion auf einen palästinensischen Aufruf aktiv werden. Die Mobilisierung sollte daher mit einem Aufruf zur Unterstützung eingeleitet werden, zu dem die gewählten Repräsentanten des palästinensischen Volkes in den besetzten Gebieten (der nationalen Einheitsregierung) und gleichzeitig die Palästinenser in den Flüchtlingslagern, die Palästinenser innerhalb Israels und die in der Diaspora aufrufen. Unmittelbar darauf könnten Friedens-Aktivisten überall auf der Welt einen Aufruf der Zivilgesellschaft zur Unterstützung der palästinensischen Initiative in der UNO veröffentlichen, der von Tausenden unterzeichnet und der UNO im September überreicht würde.

Die Mobilisierung sollte ihren Höhepunkt in einer gewaltigen „Nebenveranstaltung“ vor der UNO erreichen, die den Antrag auf Mitgliedschaft begleitet, eine Demonstration der Unterstützung vor dem Hauptquartier der UNO in New York, an der Zehntausende aus aller Welt teilnehmen. Dies würde eine Berichterstattung und eine Erwartung hervorrufen, über die sich hinwegzusetzen den USA und Europa schwerfallen würde. Die Zeit ist extrem knapp, aber die Infrastruktur, dies zu ermöglichen, ist vorhanden – wenn wir uns sputen.

Und schließlich sollte die PA einen hochrangigen Repräsentanten ernennen, der über Glaubwürdigkeit, Organisationstalent und Artikulationsfähigkeit verfügt, um die Kampagne zu koordinieren und die Zivilgesellschaft zu mobilisieren. Diese Persönlichkeit sollte die Befugnis bekommen, eine Gruppe fähiger Sprecher zusammenzustellen, die in Palästina und in wichtigen Ländern den argumentativen Rahmen bereitstellen, der es ermöglicht, der Kampagne entgegenzutreten, die Israel und seine Unterstützer gegen die September-Initiative bereits gestartet haben. Die palästinensische Öffentlichkeitsarbeit war immer schon notorisch schlecht, und das diplomatische Korps der PA sollte mit jungen, eloquenten, aktiven Leuten aufgefrischt werden.

Unabhängig von unserer Einschätzung der September-Initiative – und wir müssen uns fragen, ob wir es uns leisten können, Gelegenheiten dieser Art verstreichen zu lassen – müssen wir, falls die PA den Beitritt zur UNO beantragt, alles unternehmen, was wir können, um sie zum Erfolg zu führen. Und selbst wenn sie keinen Erfolg haben sollte (wir alle wissen, dass ein amerikanisches Veto unvermeidlich ist), wird die Initiative doch in zweierlei Hinsicht Wirkung haben:

Zunächst einmal hat sie den fruchtlosen „Verhandlungen“ ein Ende bereitet. Internationale Unterstützung für September, einschließlich der durch große europäische Länder, entsteht genau aus der Erkenntnis, dass Verhandlungen durch Israel und seinen amerikanischen Schirmherrn unmöglich gemacht wurden. Der Nebel hat sich verzogen. Sogenannte Verhandlungen werden keine Fassade mehr sein für die fortgesetzte israelische Besatzung. Genau die Positionen, die Netanyahu abgesteckt hat – die Anerkennung Israels als „jüdischer“ Staat; Israels Einverleibung der Siedlungsblöcke; ein „vereintes“ Jerusalem unter israelischer Kontrolle; ein demilitarisierter palästinensischer Staat, der Grenzen, Land, Rohstoffe oder die Bewegungsfreiheit seiner Bürger nicht unter seiner Kontrolle hat; eine Lösung des Flüchtlingsproblems „außerhalb Israels“ und keine Verhandlungen mit einer Regierung, der die Hamas angehört -, genau diese Positionen werden offensichtlich unhaltbar.[1]

Und zweitens wird die Ablehnung eines palästinensischen Beitritts zur UNO der „Zwei-Staaten-Lösung“ ein Ende bereiten. Solange sich die Möglichkeit zweier Staaten aufrechterhalten ließ, konnte jede andere Option, einschließlich der eines einzigen Staates oder einer regionalen Konföderation, effektiv ausgeschlossen werden. Die Überwindung dieser Position wird nach September den Weg frei machen für die einzig wirklich mögliche Lösung: den einen Staat für alle Bewohner des Landes.

Der September scheint eine politische Gelegenheit, die man nicht verpassen darf, und die, sofern sie ernsthaft genutzt wird, für den palästinensischen Kampf von Gewinn sein wird, was auch immer dabei herauskommt. Entweder bringen wir gute Argumente für die Nichtverfolgung der September-Initiative vor und präsentieren eine wirkungsvolle Alternativstrategie, oder wir sollten sie energisch betreiben. Dies allerdings hängt leider von der Führung einer Palästinensischen Autonomiebehörde ab, die nie ein gesteigertes Interesse an der Mobilisierung der Zivilgesellschaft gezeigt hat und immer noch unschlüssig zu sein scheint. Eine Option, die wir auf keinen Fall haben, ist, die Angelegenheit einfach auszusitzen.

28. Mai 2011

(Übersetzung: Jürgen Jung/Eckhard Lenner)

Jeff Halper ist Leiter des Israelischen Komitees gegen Häuserzerstörungen (ICAHD). Er ist erreichbar unter jeff@icahd.org

Anmerkung:
[1] Wohl kaum in den Augen der über 500 Mitglieder des amerikanischen Kongresses. Bei der Rede, die Netanyahu am 24. 5. 2011 vor beiden Häusern hielt, feierten sie ihn 29 Mal, also etwa alle zwei Minuten, mit „standing ovations“. (Anm. d. Übs.)


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