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Gerechtigkeit ist für beide Seiten da

Raji Sourani hat mit dem Palästinensischen Zentrum für Menschenrechte eine für die Obrigkeiten unbequeme Realität geschaffen

Von Oliver Eberhardt *

Am Montag werden im Stockholmer Reichstagsgebäude die Alternativen Nobelpreise verliehen. Gleich vier Preisträger werden in diesem Jahr für ihr konkretes Engagement für die Gestaltung einer besseren Welt ausgezeichnet: Sie kommen aus Palästina, der Schweiz, den USA und der DR Kongo und setzen sich für Menschenrechte und eine nachhaltige Landwirtschaft, für die Vernichtung von Chemiewaffen und gegen sexuelle Gewalt ein.
Der 59-jährige palästinensische Anwalt Raji Sourani vertritt Opfer von Menschenrechtsverletzungen vor Gericht.


Es sind nicht nur die Israelis, heute. Es ist auch die De-facto-Polizei der Hamas. Mit Argusaugen wacht das israelische Militär rund um den Gazastreifen darüber, wer und was in den Gazastreifen gelangt. Und mit harter Hand passt die Hamas auf der anderen Seite darauf auf, dass niemand einen zu genauen Blick auf das wirft, was das anrichtet. »Die Lebensrealität hier ist schwer zu beschreiben«, sagt Raji Sourani: »Die systematischen Menschenrechtsverletzungen haben unbeschreibliche Armut produziert und 1,7 Millionen Menschen zu Hilfeempfängern reduziert.«

Er hat es sich zur Lebensaufgabe gemacht, diese Menschenrechtsverletzungen zu dokumentieren und dagegen anzugehen – stets und strikt nach den Buchstaben des Gesetzes: »Das Gesetz ist etwas, was wir respektieren und tief im Herzen tragen. Aber damit das Gesetz irgendetwas bedeutet, muss es durchgesetzt werden. Dass das nicht geschieht, hat zu der ernsten Situation geführt, die wir heute im Gazastreifen haben. Wie kann man ohne Gerechtigkeit verhindern, dass das, was in Gaza passiert ist, erneut geschieht?«

Wen er damit meint? »Alle«, sagt er mit leichtem Zorn in der Stimme, »alle, die die Menschenrechte mit Füßen treten.« Dann spricht er von den Abriegelungen des dicht bevölkerten Landstrichs durch Israel und Ägypten, über die Todesstrafe, die im Gazastreifen unter Umgehung der Gesetze der Palästinensischen Autonomiebehörde für zweifelhafte Vergehen angewandt wird, seit die Hamas dort an der Macht ist. Er spricht von Luftangriffen des israelischen Militärs, die für die meisten Menschen »wie aus heiterem Himmel kommen« und vor denen man nirgendwohin fliehen kann. »Im Gazastreifen gibt es keinen sicheren Ort.«

Um all diese Verletzungen der Menschenrechte aufzuzeichnen, hat er 1995 das Palestinian Centre für Human Rights gegründet (PCHR). Die Einrichtung hat im Laufe der Jahre bei Juristen wie Menschenrechtlern aus aller Welt hohe Anerkennung erlangt. Mehr als 50 Anwälte und Menschenrechtsaktivisten sind regelmäßig für Sourani und seine Organisation tätig: Im Gazastreifen wie im Westjordanland führen sie Buch über Übergriffe der Sicherheitskräfte gegen die Zivilbevölkerung. Dass sie dabei alle Seiten beobachten, also nicht nur die israelische, hat ihnen großen Respekt eingebracht: »Gerechtigkeit kennt keine Seiten; sie ist für alle da«, sagt Sourani.

Es gab triftige Gründe, warum das PCHR gut zwei Jahre nach der Unterzeichnung der israelisch-palästinensischen Übereinkünfte von Oslo gegründet wurde. »Wir waren alle sehr enttäuscht, weil die Verträge an keiner Stelle den Schutz der Menschenrechte erwähnen. Hinzu kam, dass schon damals erkennbar war, wohin die israelische Politik ging: aggressiver Siedlungsbau; Palästinenser, die deshalb innerhalb kürzester Zeit ihre Häuser verlassen müssen. Auch war damals schon erkennbar, dass die Palästinensische Autonomiebehörde ein ausgetüftelter Unterdrückungsmechanismus ist.«

Israelische Politiker versuchen immer wieder, die Arbeit des PCHR als »Lawfare«, als Jurapropaganda, zu diskreditieren. Man wirft Sourani und seiner Organisation vor, palästinensische Kämpfer, »Terroristen« nach israelischer Lesart, in den Opferstatistiken, die das PCHR regelmäßig veröffentlicht, zu Zivilisten zu erklären – ein Vorwurf, der Sourani wütend macht: »Alle unsere Zahlen werden überprüft; oft diskutieren wir auch kontrovers, denn die Abgrenzung ist schwierig: Wann ist ein Journalist ein Journalist, und wann ist er ein Kämpfer? Ist er kein Zivilist mehr, wenn er für das falsche Medium arbeitet? Es gibt auch auf der israelischen Seite Leute, bei denen diese Abgrenzung schwierig ist.«

Außerdem wird Sourani immer wieder entgegengehalten, dass Israel ein Rechtsstaat sei, dass auch Palästinenser dort gegen Rechtsverletzungen klagen können. »Reine Theorie«, hält er dagegen: »Bei Schadenersatzklagen, was die häufigste Klageart ist, gilt eine zweijährige Frist. Außerdem wird bei Einreichung der Klage ein Sicherheitsbetrag erhoben, der durchaus bei 10 000 Schekel (rund 2500 Euro, d. Red.) und mehr liegen kann. Ob eine solche Gebühr erhoben wird, liegt im Ermessen des Gerichts. Bei Klagen von Palästinensern wird das aber so gut wie immer gemacht. Soviel Geld kann sich kaum jemand beschaffen.« Außerdem: Anwälte, auch jene vom PCHR, dürften meist ebenso wenig zum Gerichtstermin nach Israel reisen, wie ihre Klienten. Und israelische Anwälte könnten nicht nach Gaza fahren, um die Kläger zu treffen: »Das führt dann regelmäßig dazu, dass die Klagen abgewiesen werden.«

Souranis Engagement hat ihn im Laufe der Jahre immer wieder in Konflikt mit den Staatsgewalten gebracht: Sechs Mal war er seit 1988 in Israel und Palästina inhaftiert. »Das ist eine Realität, der sehr viele Palästinenser ausgesetzt sind«, sagt Sourani: »Warum sollte es bei mir anders sein?« Die Zeit im Gefängnis, das Unrecht, habe ihn nur weiter darin bestärkt, dass es keinen anderen Weg gebe, als für die Einhaltung der Gesetze, für die Rechte der Menschen zu kämpfen.

* Aus: neues deutschland, Samstag, 30. November 2013

Aus der Begründung der Jury:

Raji Sourani (Palestine)
“for his unwavering dedication to upholding the rule of law under exceptionally difficult circumstances”.

Raji Sourani has, without fear or favour, defended and promoted human rights for all in Palestine and the Arab World for 35 years. As the most prominent human rights lawyer based in the Gaza Strip, Sourani established the Palestinian Centre for Human Rights to document and investigate human rights violations committed in the Occupied Territories, and has defended countless victims before Israeli courts. Never hesitant to speak truth to power, Sourani has been imprisoned on six separate occasions by both Israel and the Palestinian Authority. As President of the Arab Organisation for Human Rights, he organised the first fact-finding mission to Libya after the fall of Colonel Qadaffi, and has recently trained Syrian lawyers, judges and activists on monitoring and reporting human rights violations.

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