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Autonomiebehörde steht auf dem Schlauch

Wirtschaftskrise sorgt für Ebbe in den Kassen der palästinensischen Regierung

Von Oliver Eberhardt *

Die Arbeitslosigkeit ist höher, die Kassen sind leerer als je zuvor: Die Palästinensischen Autonomiegebiete sind auf den Weg in die schwerste Wirtschaftskrise ihrer Geschichte. Der geplante Antrag auf Aufwertung des palästinensischen Status' in den Vereinten Nationen wird damit Wagnis und Chance gleichermaßen.

Es ist ein beschauliches Bild, das der palästinensische Fernsehsender PBC am gestrigen Sonntagmorgen als Hintergrund für eine Livesendung gewählt hat: In den Teehäusern des Stadtzentrums von Ramallah haben es sich Dutzende junger Männer bei einer Tasse Tee bequem gemacht. Nebenan drängen sich Menschen vor den Auslagen der Läden: Kleidung, Schuhe, Obst.

»Es ist ein Bild, das trügt«, sagt die Wirtschaftsjournalistin Laila Khalili: »Viele dieser Menschen haben keine Arbeit, kein Geld. Sie sitzen einfach den ganzen Tag lang nur rum und fressen die Verzweiflung in sich hinein.«

Nach Angaben des palästinensischen Büros für Statistik haben insgesamt mindestens 20,9 Prozent aller Palästinenser im Alter zwischen 18 und 65 Jahren keine Arbeit. Dabei beträgt die Arbeitslosigkeit im Gazastreifen um die 40 Prozent und in den Palästinensischen Autonomiegebieten im Westjordanland 28,1 Prozent - historische Höchstwerte. Die allgemeine Arbeitslosenstatistik weist im Vergleich zum Vorjahr ein Plus von rund fünf Prozent aus, in den Autonomiegebieten ist sie um neun Prozent gestiegen.

Einer Studie der Vereinten Nationen zufolge leben aktuell um die 35 Prozent der Palästinenser im Westjordanland und über 60 Prozent der Menschen im Gazastreifen unter der Armutsgrenze - Zahlen, die sich zumindest im Westjordanland ab September stark erhöhen dürften. Denn dann tritt in Israel eine Erhöhung der Mehrwertsteuer in Kraft, die für Preissteigerungen im Westjordanland sorgen wird. Im Gazastreifen hingegen wird dies keinen Effekt haben. Dort werden so gut wie keine israelischen Erzeugnisse gehandelt.

Zwar bescheinigt ein Bericht der Weltbank den Palästinensischen Autonomiegebieten gute Anlagen für den Aufbau einer erfolgreichen Wirtschaft: Die Bevölkerung sei gut ausgebildet; die Lohnkosten sind moderat. Doch gleichzeitig wird harsche Kritik an der Wirtschaftspolitik der vergangenen Jahre geübt. Die israelische Besatzung und die immer wieder- kehrenden Blockaden seien nur ein Teil des Problems. Die Autonomiebehörde habe zugelassen, dass Billigimporte das produzierende Gewerbe verdrängt haben. Nun sei die Wirtschaft weitgehend auf den Dienstleistungssektor ausgerichtet - der mit der Kaufkraft stehe und falle.

Ein Urteil, das auch die Regierung von Premierminister Salam Fajad nicht anfechten möchte. Doch obwohl Fajad, ein Wirtschaftsexperte mit Jahre langer Erfahrung beim Internationalen Währungsfonds (IWF), seit Jahren versucht, die Wirtschaft anzukurbeln, ist sein Spielraum gering. Denn mit der steigenden Arbeitslosigkeit sinken auch die Steuereinnahmen, die Autonomiebehörde ist nahezu vollständig von den Überweisungen aus dem Zollabkommen mit Israel und den europäischen und US-amerikanischen Finanzhilfen abhängig. Die wiederum durch die immer höher werdenden Ausgaben für die Arbeitslosenunterstützung immer kürzer ausreichen.

So verzweifelt ist die Lage, dass Israels Regierung im Juni versuchte, beim IWF ein Darlehen für die Palästinenser zu beantragen, um die Wirtschaft anzukurbeln. Zudem dürfen nun wieder mehrere zehntausend Palästinenser zur Arbeit nach Israel einreisen, Straßensperren wurden stillschweigend abgebaut, die Zollabfertigung für palästinensische Produkte an den israelischen Grenzen erleichtert - alles vergeblich. Denn Darlehen des IWF bekommen nur Staaten. Und Palästina hat kaum noch etwas zum exportieren.

Damit hat auch das Vorhaben der Arabischen Liga, in der nächsten Vollversammlung der Vereinten Nationen die Aufwertung der Autonomiebehörde zum Beobachterstaat ohne Mitgliedschaft zu beantragen, seine rein symbolische Bedeutung verloren: Dieser Status würde den Palästinensern den Weg zu internationalen Krediten freimachen. Auf diese sind sie dringender angewiesen denn je.

* Aus: neues deutschland, Montag, 20. August 2012


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