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Die Toten im Schatten der Mauer von Ni'lin

Ein palästinensisches Dorf wehrt sich gegen die Besatzung – und bekommt es mit Israels Armee zu tun

Von Martin Lejeune *

Ganz Palästina ist von israelischen Soldaten besetzt. Ganz Palästina? Nein, ein kleines Dorf in den grünen Hügeln Samarias leistet erbitterten Widerstand gegen die übermächtigen Besetzer.

Die Bewohner von Ni'lin liefern sich seit 2008 beinahe täglich Scharmützel mit einer der modernsten Armeen der Welt, der Tzahal. So nennen sich die israelischen Streitkräfte. Seit Israel im Jahre 2008 um die besetzten palästinensischen Gebiete im Westjordanland eine Betonmauer gebaut hat, protestieren die Bürger von Ni'lin gegen die Einschränkung ihrer Bewegungsfreiheit und die Enteignung ihrer landwirtschaftlichen Nutzfläche im Zuge des Mauerbaus. Sie sind seit Jahrhunderten Bauern und beim Bestreiten ihres Lebensunterhaltes auf die Bestellung ihrer Felder angewiesen.

Seit neun Monaten sind die drei maßgeblichen politischen Anführer des gewaltlosen Widerstandes in Ni'lin – Ibrahim Amireh, Hassan Mousa und Zaydoon Srour –, die die Menschen bei ihren Protesten zusammengehalten haben, in einem israelischen Militärgefängnis inhaftiert. Ihnen wurden Geldstrafen oder weitere neun Monate Haft auferlegt. Dies berichtete kürzlich Mona Mittelstein von Amnesty International während einer Solidaritätsveranstaltung der LINKEN und des Berliner Bündnisses für Gaza.

»Die Einwohner von Ni'lin waren die ersten, die sich gegen die Errichtung der Mauer gewehrt haben und die es jemals schafften, ein einzelnes Stück aus ihr mit Wagenhebern wieder herauszureißen«, erzählt Mittelstein über die jüngste Geschichte des Dorfes. Ihr Widerstand habe eine Hauptforderung: Die Bauern wollen ihr Land zurück.

Insgesamt 4500 Einwohner hat das kleine muslimische Dorf, das 17 Kilometer westlich von Ramallah liegt. Jeden Freitag nach dem für die Muslime so wichtigen Gebet, das die enteigneten Bauern im Schatten unter den Olivenbäumen am Ortsrand verrichten, zieht ein Großteil der Dorfbewohner, einschließlich Frauen und Kindern, an die Sperranlage zum wöchentlichen Protest gegen die »Apartheidmauer«, wie sie von den Palästinensern im Westjordanland genannt wird. Freitag für Freitag seit über drei Jahren. Und jeden Freitag antwortet die israelische Armee mit Militärgewalt gegen die friedlichen Demonstranten. Das Militär ist nicht nur wegen der Proteste so allgegenwärtig im Dorf. Elf jüdische Siedlungen umgeben Ni'lin, in denen 49 000 Siedler leben, »auf Land, das unbestritten den Palästinensern gehört«, ist Mittelstein empört.

Seit Beginn der Proteste starben fünf unbewaffnete Palästinenser aus Ni'lin in ihrem Dorf auf der Straße – erschossen von israelischen Soldaten. Das erste Todesopfer »des unverhältnismäßigen Repressionsapparates«, so Mittelstein, war der zehn Jahre junge Ahmed Moussa, der am 29. September 2008 durch einen Kopfschuss getötet wurde. Dabei ist sein Hinterkopf zum größten Teil zerstört worden und das komplette Gehirn durch ein riesiges Loch im Kopf auf den Boden gefallen. Einen Tag später wurde der 17-jährige Yousef Amireh aus einem Militärjeep heraus in den Kopf geschossen und lag danach vier Tage auf der Intensivstation in Ramallah, bis er an den Folgen seiner Verletzungen starb. Am 28. Dezember 2008 wurden Mohammed Khawaja (21) und Arafat Khawaja (18) angeschossen. Arafat Khawaja wurde in den Kopf getroffen und starb noch vor Eintreffen des Krankenwagens. Mohammed Khawaja schossen die israelischen Soldaten in den Rücken, er starb am Silvestertag 2008. Am 5. Juni des Folgejahres schließlich wurde Aqel Srour durch einen Herzschuss getötet. Zuvor, am 13. März 2009, wurde der bekannte US-amerikanische Friedensaktivist Tristan Anderson während der Freitagsdemonstration in Ni'lin lebensgefährlich verletzt; bis heute leidet er als Schwerbehinderter an den Folgeschäden.

Wer nicht erschossen oder schwer verwundet wird, läuft große Gefahr, verhaftet zu werden. Viele der mindestens 160 in letzter Zeit gefangen genommenen Demonstranten aus Ni'lin wurden in dem berüchtigten unterirdischen Gefängnis Almasqubya inhaftiert, einem Kerker, dessen Zellen voller Insekten und Ratten sind. In dem Gemäuer herrscht im Sommer sengende Hitze. »Dort werden die Palästinenser von Wärtern geschlagen und vor Gerichtsverhandlung regelmäßig acht Stunden in einen dunklen, heißen Raum ohne Essen und Trinken gepfercht, so dass sie völlig entkräftet, ausgehungert und durstig vor dem Militärrichter Platz nehmen müssen«, weiß Mittelstein zu berichten. Israelische Anwälte bestätigten dies gegenüber ND.

Doch auch nach ihrer Freilassung können die Palästinenser schnell wieder Gefangene werden. Denn durch das von der Mauer eingeschlossene Dorf Ni'lin führt die Schnellstraße 446, die von den Siedlern benutzt wird, die »Apartheidsstraße«. Das will Israel nunmehr ändern. Auch um die Straße soll ein Mauer gezogen werden, so dass in Zukunft der einzige Zugang zu dem Dorf ein Tunnel wäre, der gerade von der Besatzungsbehörde in Planung geben wurde und der von der israelischen Armee kontrolliert werden soll. Schließt dieser Checkpoint dann, weil die Dorfbewohner wieder einmal »renitent« sind oder jüdische Feiertage begangen werden, wird Ni'lin einem großen Freiluftgefängnis gleichen.

* Aus: Neues Deutschland, 3. November 2010


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