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Die humanitären Folgen der israelischen Militäroperationen in der Altstadt von Nablus
Humanitarian Consequences of the IDF Operation in the Old City of Nablus

Ein Bericht der Vereinten Nationen
United Nations-OFFICE FOR THE COORDINATION OF HUMANITARIAN AFFAIRS: Initial Report

Am 8. Januar 2004 veröffentlichte das Büro zur Koordinierung humanitärer Angelegenheiten der Vereinten Nationen (OFFICE FOR THE COORDINATION OF HUMANITARIAN AFFAIRS) einen Bericht über die Folgen der israelischen Militäroffensive in der palästinensischen Stadt Nablus. Die Militäroperationen fanden vom 26. Dezember 2003 bis 6. Januar 2004 statt. Die wesentlichen Ergebnisse des Reports lassen sich dahingehend zusammenfassen:
  • Seit dem 15. Dezember 2003 verstärkte die israelische Armee ihre fast täglichen Vorstöße nach Nablus.
  • Am 26. Dezember drang die Armee in Nablus ein und verhängte ein Ausgehverbot für die zentralen und westlichen Teile der Stadt einschließlich dem Flüchtlingslager Balata und dem Stadtteil Quarioun in der Altstadt. Nablus wurde praktisch in zwei Teile geteilt - getrennt durch einen Erdwall und einem Checkpoint, der an der Amman-Straße errichtet wurde.
  • Die Operationen, die bis zum 6. Januar dauerte, waren mit die größten, die seit dem im April 2002 begonnenen "Verteidigungs-Schirm" ("Defensive Shield") in Nablus stattfanden.
  • Nach Aussagen der israelischen Armee (IDF) war die Militäroperation eine Fortsetzung des Gebrauchs von "allen legalen Mitteln zur Bekämpfung der Terroristen und ihrer Helfershelfer". Unmittelbarer Auslöser war ein Selbstmordanschlag am 25. Dezember in Tel Aviv, bei dem vier Menschen getötet und mindestens 12 verletzt worden waren (vgl. hierzu unsere Nahost-Chronik vom Dezember 2003.
  • Während der Besatzung kam es zu Spannungen zwischen IDF und der ansässigen Bevölkerung. Die IDF erschoss sechs und verwundete mehr als 50 Palästinenser. Mehrere Häuser und historische Gebäude im Quarioun-Viertel und in der Altstadt wurden zerstört oder beschädigt. In der Altstadt herrschte fast ständig eine Ausgangssperre. Einige Häuser wurden evakuiert und von der IDF als Militärstützpunkte genutzt. Andere Häuser wurden komplett abgeriegelt. Ihre Bewohner waren zum Teil über mehrere Tage eingesperrt.
  • Die IDF riegelte alle Zufahrten nach Nablus ab und ließ nur humanitäre Lieferungen durch. Dadurch kam der Handel in der Stadt fast zum Stillstand.
In einem eigenen Teil berichtet die UN-Hilfsorganisation von den Beschädigungen historischer Gebäude in der Altstadt. Die Altstadt von Nablus war bereits während der Invasion im März/April 2002 von der UNESCO als ein "herausragender universeller Schatz entsprechend Art. 12 der Konvention über das Weltkulturerbe" bezeichnet worden. Die UNESCO forderte damals den israelischen Staat auf, den Schutz des Kulturerbes in den palästinensischen Gebieten zu gewährleisten.
Qasr Abdel-Hadi, ein 200 Jahre altes Gebäude in der Altstadt, wurde durch Panzerbeschuss und Explosionen im Inneren schwer beschädigt. Sechzehn Familien wurden obdachlos.
Zahlreiche andere Gebäude wurden infolge von Panzerbeschuss und Explosionen zum Teil so schwer beschädigt, dass sie unbewohnbar wurden.

20 bis 25 Familien von insgesamt schätzungweise 95 Familien (600 Menschen) waren in dem Stadtteil Quarioun gezwungen, ihre Häuser zu verlassen. Erst nach dem 6. Januar durften sie zurückkehren. Die anderen 70 Familien mit schätzungsweise 400 Menschen durften während der Militäroperationen ihre Häuser nicht verlassen. Besonders hart waren ältere oder behinderte Menschen von den Maßnahmen der IDF betroffen (der UN-Bericht schildert ein paar Einzelfälle).

Die negativen Folgen der Evakuierung und der Arrestierung waren für die betroffene Bevölkerung vielfältig: So fehlte es an Grundnahrungsmitteln, viele Familien hatten keine Kochmöglichkeit. Erst nach Verhandlungen mit der IDF wurde es NGOs erlaubt, Brot unter der Bevölkerung zu verteilen. Die Menschen litten außerdem unter der Kälte und den winterlichen Bedingungen. Es gab nur unzureichend Gas für die Heizungen, sodass in manchen Fällen offene Feuer die einzige Möglichkeit war zu heizen und zu kochen. Die Explosionen hatten die Fenster zahlreicher Häuser beschädigt.

Am Ende des Berichts wird an ein paar Prinzipien des Internationalen Humanitären Rechts erinnert, gegen die mit den Militäroperationen möglicherweise verstoßen wurde:
  • Das Recht auf Hilfeleistung: Die Besatzungsmacht ist verpflichtet, die Menschen mit den notwendigen Gütern zu versorgen (Art. 81, 55 und 60 der IV Genfer Konvention-GK)
  • Internierung: Wenn eine Zivilperson durch die Maßnahmen der Besatzungsmacht sich nicht mehr selbst versorgen kann, muss dies die Besatzungsmacht übernehmen (Art. 39 IV GK). Internierten müssen tägliche Lebensmittelrationen zur Verfügung gestellt werden (Art. 89 IV GK)
  • Verhältnismäßigkeit: Für die Vorgänge in Nablus ist schließlich Artikel 57 des Ersten Zusatzprotokolls der IV Genfer Konvention relevant. Darin geht es v.a. darum, dass bei der Durchführung von Militäroperationen darauf geachtet werden muss, dass die Zivilbevölkerung und zivile Objekte verschont werden.
Zusammenfassung des UN-Reports: P. Strutynski

Den vollständigen Bericht gibt es in englischer Fassung als pdf-Datei:
Initial Report

Humanitarian Consequences of the IDF Operation in the Old City of Nablus


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