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Wie sie ins Wasser geht

Malerisch ist nicht unbedingt ein Kompliment: "Miral", Julian Schnabels Film über den Nahostkonflikt

Von Peer Schmitt *

Julian Schnabel hat den Roman »Miral« seiner Lebensgefährtin, der italienisch-palästinensischen Journalistin und Schriftstellerin Rula Jebreal, verfilmt. Es geht darin um Frauenbiographien in Palästina. Der Film beginnt 1948 (Gründung Israels) und endet 1994, also nach der Unterzeichnung des Osloer Abkommens (September 1993) und vor der Ermordung Yitzhak Rabins (November 1995).

Weil bei diesem Thema alle Hirne gerne mal aussetzen, hieß es in einem passend mit »Aua« überschriebenen Artikel der Zeit, Schnabel habe einen »ganzheitlichen Film über den Nahostkonflikt« gedreht. Hat also statt des New Yorker Malerfürsten heimlich die Seele des Teilhard de Chardin Regie geführt? Rätsel regieren die Welt der Filmkritik.

»Miral« beginnt 1948 auf einer Weihnachtsparty, zu der eine von Vanessa Redgrave gespielte Figur eingeladen hat. Israels Unabhängigkeitserklärung ist kein halbes Jahr alt. Das Land befindet sich bereits im Krieg gegen eigentlich alle arabischen Nachbarn. Am 22.Dezember begann in der Negev-Wüste die kriegsentscheidende Offensive der israelischen Armee. Erstes vorläufiges Resultat sind mehr als eine halbe Million palästinensischer Flüchtlinge. An diesem Punkt kommt Hind Husseini (Hiam Abbass) ins Spiel, die aus einer ziemlich reichen arabischen Familie stammt und sich auf der erwähnten Party mit einem netten Offizier der US-Armee (Wil­liam Dafoe) angefreundet hat. Als die Flüchtlingsproblematik buchstäblich in ihrem Vorgarten landet, beschließt sie, ihr Leben und das Familienvermögen der Gründung eines Kinderheims samt Schule zu widmen. Der Offizier hilft ihr dabei.

In dieses Kinderheim wird die Titelheldin später kommen, der Kreis wird sich schließen. Bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Die Geschichte von Nadia (Yasmine Al Masri) zum Beispiel, Mirals Mutter, spielt vor allem in den 1960ern. Nadia ist ein Bauernmädchen, das vom Dorf wegen eines sexuellen Mißbrauchs (die traditionelle palästinensische Dorfgemeinschaft ist kein Idyll; sie ist – wie sogenannte Dorfgemeinschaften überall– eine Hölle) in die Stadt flüchtet. Sie wird Tänzerin und (andeutungsweise) Gelegenheitsprostituierte. Als sie im Bus von einer Israelin als (arabische) Hure beschimpft wird, gibt sie der Frau die verdiente Ohrfeige und bekommt dafür ein Jahr Gefängnis. Dort lernt sie die ehemalige Krankenschwester Fatima (Ruba Blal) kennen. Die sitzt für einen (mißglückten) Bombenanschlag lebenslänglich. Ihr Bruder Jamal (Alexander Siddig) wird Nadia heiraten und Mirals Vater werden. Ein sanfter und liberaler Mann. Auch in der Beziehung zu seiner Ehefrau, die eine todunglückliche Alkoholikerin ist und schließlich, als von den Umständen zerstörte Frau, Selbstmord begeht. Sie geht ins Wasser, was der Film, symbolträchtig und »bewegend«, förmlich zu zeigen genießt.

Viel ist vom »malerischen Stil« in Schnabels Film die Rede (Schnabel war lange, bevor er Filme machte, ein extrem erfolgreicher Maler). Das »Malerische« aber ist wie das Symbolträchtige nicht automatisch ein Kompliment.

Zurück zur Geschichte. Nach dem Selbstmord der Mutter wird Miral (Freida Pinto) in Hind Husseinis Heim zur Intellektuellen erzogen und gibt bald selbst Unterricht in Flüchtlingscamps. Man nähert sich den 90ern. Das Mädchen assoziiert sich (vermittelt durch den obligatorischen Freund) mit dem palästinensischen Widerstand und wird prompt als Verdächtige verhaftet. Diese Sequenzen gehören zu den interessantesten des Films, in dem das Politische sonst eher wie ein »Schicksal« von außen verhängt erscheint (vermutlich erleben das viele auch so).

In der Untersuchungshaft wird Miral gefoltert. Die Szene, in der sie von einer Folterknechtin der israelischen Polizei geprügelt wird, wirkt sehr krank, irgendwie halb unfreiwillig sexualisiert (wie so oft, wenn ein reines Propagandabild, diesmal eben aus Opfersicht, gezeichnet werden soll). Dem folgen zum Glück recht trockene Szenen. Vor Gericht. Miral ist israelische Staatsbürgerin. Sie darf nicht länger als 24 Stunden grundlos gefangen gehalten werden, zeigt dem Richter die Spuren der Folter (blutige Striemen) und kommt frei. Das funktioniert als Hinweis, worum es auch in Israel heute geht: die schleichende Auflösung der civilitas in Terror und Gegenterror. Die israelische Gesellschaft ist als die eines permanenten Bürgerkrieges nur ein Extrembeispiel. Der Rechtsstaat garantiert Freiheit und Unverletzlichkeit, exekutiert die entsprechenden Rechte aber mittlerweile oft um den Preis des Rechtsbruchs (z. B. foltern Polizei und Militär widerrechtlich und stellen diesen Umstand dann selbst noch zur Diskussion).

Läßt man man Pathos und Kitsch beiseite, ist »Miral« ein Film über Frauen an den Rändern bestimmter Institutionen (Schule, Knast). Er ist allen gewidmet, die für die Wiederaufnahme des Friedensprozesses arbeiten.

»Miral«, Regie: Julian Schnabel, F/Israel/Italien/Indien 2010, 112 min, bereits angelaufen.

* Aus: junge Welt, 24. November 2010


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