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"Frieden ist mehr als Befriedung"

Gespräch mit Mazin Qumsiyeh über den Israel-Palästina-Konflikt, über Gazaabzug, Menschenrechte sowie den moralischen Imperativ der Ein-Staaten-Lösung

Interview: Sabine Matthes

Frage: Um die Ungerechtigkeit und den wunden Punkt im festgefahrenen Israel-Palästina-Konflikt zu erkennen, genügt ein Blick auf zwei Karten. Eine, die den Verlauf des israelischen Grenzwalls zeigt, der nach Fertigstellung die De-facto-Grenze des sogenannten palästinensischen Staates sein wird: vier eingemauerte palästinensische Kantone - nördliche und südliche Westbank, Jericho und Gazastreifen - auf etwa zwölf Prozent des ehemaligen Mandatsgebiets Palästina. Und eine Karte des UN-Hilfswerks UNRWA, mit den 59 palästinensischen Flüchtlingslagern, verstreut über ganz Libanon, Syrien, Jordanien, Westbank und Gazastreifen, wo über vier Millionen palästinensische Flüchtlinge gezwungenermaßen im Exil leben, seit Israel sie 1948 vertrieben hat, ihre Dörfer zerstörte, ihr Land und Eigentum konfiszierte, und ihnen seitdem die Rückkehr verweigert. Die Erwartungen, die der kommende Woche beginnende Gazarückzug weckt, wobei Israel lediglich 8000 (zwei Prozent) seiner insgesamt 400000 jüdischen Siedler in den besetzten Gebieten Westbank, Ostjerusalem und Gazastreifen abzieht, scheinen angesichts dessen nicht angebracht. Sie entlarven die Unmöglichkeit einer Zwei-Staaten-Lösung und verlangen nach anderen Ideen. Warum sind das Oslo-Abkommen und die Zwei-Staaten-Lösung gescheitert?

Mazin Qumsiyeh: Amnesty International sagte, der Grund dafür, daß Oslo und andere »Friedensvorschläge« scheitern, ist, daß sie Menschenrechte ignorieren. Die Organisation argumentiert, daß kein dauerhafter Frieden erreicht werden kann, ohne grundlegende Menschenrechte wie das Rückkehrrecht von Flüchtlingen. In Wirklichkeit gab es nie eine echte Zwei-Staaten-«Lösung«, die mit dem politischen Zionismus vereinbar ist. Es liegt im Wesen des politischen Zionismus, Ungerechtigkeit und Rassentrennung zu verursachen. Bei seinen alten Standpunkten zu Themen wie Jerusalem miteinander zu teilen oder Flüchtlingen die Rückkehr zu erlauben, kann er keine Kompromisse eingehen.

Es gab viele »Friedensvorschläge«: von Hart, Zinni, Mitchel, Tenet, in Oslo, Genf, und dann die »Road Map«. Sie alle kranken an demselben ursächlichen Fehler: Unkenntnis von Menschenrechten und grundsätzlichen Lehren des internationalen Rechts. Die Tatsachen vor Ort, bestätigt durch israelische Aussagen, zeigen, daß der vorgesehene palästinensische »Staat« nach israelischen Plänen (sowohl von Labor wie Likud), den Bantustans der südafrikanischen Apartheid entsprechen wird. Israel errichtet weiterhin seine massive Trennungsbarriere um die verbliebenen palästinensischen Enklaven. Alle israelischen Siedlungen in den seit 1967 besetzten Gebieten sind nach internationalem Recht und der Vierten Genfer Konvention illegal, trotzdem leben dort 400000 Siedler, und weitere Siedlungen werden gebaut. Die »Road Map«, ein Ergebnis der Oslo-Abkommen, umfaßt 2218 Worte, aber es fehlen drei Schlüsselworte: Menschenrechte, internationales Recht.

F: Gideon Levy beschrieb in der israelischen Zeitung Haaretz die bittere Ironie des Gazarückzugs: Während die Siedler von Gush Katif aus dem Gazastreifen umgesiedelt werden in die Küstenebene zwischen Jaffa und Gaza, um dann dort auf den Ruinen der zerstörten palästinensischen Dörfer zu leben, bleiben die vertriebenen Einwohner dieser Dörfer weiterhin Gefangene der Flüchtlingslager in Gaza. Vergrößert der israelische Rückzug die Chance für einen lebensfähigen »palästinensischen Staat«?

Nein. Dov Weisglass, rechte Hand von Premierminister Ariel Scharon, war sehr deutlich, als er den Zweck der Gespräche über den Gazaabzug erklärte: um das Entstehen eines souveränen palästinensischen Staates zu verhindern, um den Friedensprozeß »in Formaldehyd« zu legen, und aus Washington wichtige Unterstützung herauszuholen. Außerdem dürfen wir den Prozeß vor Ort nicht vergessen. Israel führte seine kolonialen Aktivitäten, wie Landkonfiszierung, den Bau der Apartheidmauer und den Siedlungsbau in der Westbank (einschließlich Ostjerusalem) fort. Alle spielen ein Spiel: »Laßt uns so tun, als ob«. Wir tun so, als ob Israel sich aus Gaza zurückzieht - tatsächlich findet, laut israelischer Führer, nur eine Verschiebung statt. Wir tun so, als ob Flüchtlinge einfach ihre Rechte vergessen würden. Wir tun so, als ob Israel, das die Zahl der Siedler in den besetzten Gebieten verdoppelt hat, nachdem es die Oslo-Abkommen unterzeichnet hatte, »die Siedlungen in Angriff nehmen wird«. Und wir tun so, als ob all dies Gerede Frieden bringen würde.

F: Welchen Vorteil haben Israelis und Palästinenser in einem gemeinsamen Staat?

Es wäre ein Gewinn für alle, wenn der Konflikt keine Opfer mehr fordert. Auf palästinensischer Seite war deren Zahl unverhältnismäßig hoch. Staatsangehörigkeit mit gleichen Rechten und Pflichten, unabhängig von der Religion, ist ein wesentlich besseres nationales Konzept. Es trägt zum Wirtschaftswachstum bei und verbessert den Lebensstandard für alle.

F: Kann ein gemeinsamer israelisch-palästinensischer Staat antijüdische und antiisraelische Haltungen auf arabischer Seite verringern, und so zum Ende des Terrors und zur Abrüstung im Nahen Osten beitragen?

Frieden muß auf Wahrheit und Gerechtigkeit, nicht bloßer »Befriedung«, beruhen. Ein Schlüsselelement für Gerechtigkeit ist Gleichberechtigung, und wenn Menschen gleich behandelt werden, haben sie wenig Anlaß zur Feindseligkeit. Antijüdische - normalerweise, aber irrtümlich, als anti-»semitisch« bezeichnet -, antimuslimische und antichristliche Ressentiments mögen bei einer winzigen Minderheit bestehen bleiben. Aber solche Lösungen, die auf Gleichberechtigung basieren, sind das beste Heilmittel gegen die pathologischen Ursachen von Gewalt und Haß: die Krankheiten Habgier und Kontrolle, die der kolonialen Besatzung eigen sind. Frieden in einem gemeinsamen Staat könnte weitreichende Folgen haben, etwa für das Streben nach gleichen Bürgerrechten der islamischen Gemeinden im Westen, die mit der Notlage der palästinensischen Flüchtlinge (Muslime und Christen) sympathisieren.

F: Der libysche Staatschef Muammar el Ghaddafi ist mit seinem Buch »Isratine« (Israel+Palestine=Isratine) Fürsprecher der Ein-Staaten-Lösung. Warum ist bei den Palästinensern die Zwei-Staaten-Lösung dominant, obwohl sie früher einen einheitlichen Staat befürwortet haben?

Das palästinensische nationale Konzept vertrat von den 1930ern bis 1988 die Ein-Staaten-Lösung. Der Übergang zum Zwei-Staaten-Konzept wurde keineswegs von allen palästinensischen Führern akzeptiert. Viele Splitterparteien und Anführer treten immer noch für einen einheitlichen Staat ein. Während der Zwei-Staaten-Mythos verblaßt, werden mehr Menschen den Kampf für nationale Einheit und Gleichberechtigung wieder aufnehmen.

F: Im Widerspruch zu den UN-Resolutionen 181 und 194 definiert sich Israel selbst als »jüdischer Staat« im Sinne des politischen Zionismus: ein Staat mit jüdischer Mehrheit, in flexiblen Grenzen. Warum haben trotzdem alle israelischen Regierungen, Labor und Likud gleichermaßen, Siedlungen in den besetzten Gebieten gebaut, und dadurch seit 1967 eine de facto binationale Realität geschaffen?

Israel ist einzigartig in der Welt, indem es nicht ein Staat seiner Bürger ist, sondern sich als Staat für »jüdische Menschen überall« definiert. Der politische Zionismus hat Judäa und Samaria (die Westbank) immer als Teil des zionistischen Staates betrachtet. Das Dilemma war, was man mit den ursprünglichen Bewohnern machen sollte. Gelöst wurde es so, daß man sich allmählich ihr bestes Land und ihre Bodenschätze (Wasser!) aneignete, und sie wirtschaftlich unter Druck setzte, damit sie fortgehen. Die Siedlungen waren das Werkzeug, um dieses Ziel, ein Maximum an Land mit einem Minimum an Palästinensern, zu erreichen. Als klar wurde, daß die Mehrheit blieb, wurden andere Ideen, wie die sie in kleine Kantone einzuzwängen, entwickelt.

F: In Israel/Palästina wurde die Mehrheit der Einheimischen vertrieben, wie in Südafrika, eingeschlossen in Flüchtlingslager und Kantone oder Townships und Homelands. Der südafrikanische Erzbischof Desmond Tutu sagte: »Meine Besuche im Heiligen Land erinnern mich so sehr an Südafrika. Die Apartheid ist zurück, komplett samt >Trennungsmauer< und Bantustans. Geschichte scheint sich zu wiederholen. Trotzdem, wenn der Frieden nach Südafrika kommen konnte, kann er sicher auch ins Heilige Land kommen.« Ist die Ideologie des politischen Zionismus mit der Apartheid vergleichbar?

Da gibt es Ähnlichkeiten und Unterschiede. Beide Systeme - Apartheid-Südafrika und zionistisches Israel - glaubten an eine offenbarte Vorsehung mit religiöser Segnung, um das Land wiederzuerlangen. In beiden Fällen ging es den Siedlern nicht um die Ausdehnung eines bestehenden Reichs, wie bei der Kolonisation Algeriens oder Indiens, sondern kamen aus verschiedenen Ländern. Sie wurden von größeren Mächten unterstützt, England und USA. In beiden Fällen wurden die Einheimischen unterschiedlich als nichtvorhanden betrachtet, als Quelle für Ärgernisse oder billige Arbeit. Beide entwickelten Gesetze, um eine Gruppe gegenüber anderen zu fördern, basierend auf der Hautfarbe im einen Fall, auf der Religion im anderen. Aber es gibt auch Unterschiede. Das weiße Regime in Südafrika wollte schwarze Arbeit in viel größerem Umfang. Der Zionismus versuchte, eine koloniale jüdische Arbeitskraft zu entwickeln, während er palästinensische Arbeit benutzte, und manchmal sephardische Juden im Dienst der aschkenasischen Eliten ausnutzte. In Südafrika wurden die Schwarzen in Bantustans verwiesen. In Israel/Palästina wurde die Mehrheit der Palästinenser vertrieben und/oder in Kantone mit hohen Mauern und Zäunen gedrängt, während man von einem »palästinensischen Staat« spricht.

F: Um eine jüdische demographische Mehrheit sicherzustellen, entwickelte Israel eine »ethnische Demokratie«, die Palästinensern entweder gar keine Staatsangehörigkeit gibt (Flüchtlinge) oder eine Staatsangehörigkeit dritter Klasse (interne Flüchtlinge: »anwesende Abwesende«) oder zweiter Klasse. Welche diskriminierenden Gesetze müßten geändert werden, um Israel/Palästina in eine pluralistische Demokratie zu verwandeln, mit gleichen Rechten für all seine Bürger und Flüchtlinge?

Israel hat keine Verfassung, sondern eine Reihe von grundlegenden Gesetzen, die von der Knesset erlassen wurden. Diese Gesetze aus der Zeit von 1949 bis 1955 schließen einige wichtige ein, die grundsätzliche Menschenrechte verletzen. Das »absentee property law« (Gesetz zum Eigentum Abwesender) garantiert den Erwerb des Eigentums von Palästinensern, die aus ihren Häusern entfernt wurden, und wandelt solches Eigentum um, zur ausschließlich jüdischen Benutzung. Mit den Gesetzen zu den Staatsangehörigkeitsrechten wird christlichen und muslimischen Palästinensern das Recht auf Staatsbürgerschaft verweigert, nachdem sie von ihren Häusern und Grundstücken vertrieben worden sind. Dieselben Gesetze erlauben automatische Staatsangehörigkeit nur für Juden, einschließlich zum Judentum Konvertierte. Eine ganze Reihe von Gesetzen und Regelungen wurde in Kraft gesetzt oder selektiv aus den osmanischen und britischen Gesetzen übernommen, um effektiv sicherzustellen, daß Land von Christen und Muslimen in jüdischen Besitz übergeht.

F: Als Genetiker stellen Sie das zionistische Konzept der »Rückkehr« in Frage. Warum?

Politische Zionisten reklamieren gerne eine gemeinsame jüdische Abstammung in Palästina, was eine »Rückkehr« von »Diaspora-Juden« rechtfertige. Wissenschaftliche Belege aus der Archäologie, Geschichte, Genetik, Kultur und vielen anderen Bereichen zeigen jedoch deutlich, daß Juden eine religiöse Gemeinschaft sind, die verschiedene Ethnien, Kulturen und Sprachen einschließt. So gibt es klare Belege dafür, daß viele gebürtige jüdische Araber verwandt sind mit anderen Arabern, die in denselben Gegenden leben, aber alle ziemlich verschieden von europäischen (Aschkenasim) und äthiopischen Juden sind. Jemenitische Juden sind jemenitischen Muslimen nahe, äthiopische Juden sind äthiopischen Christen nahe, und so weiter. Für einen Blick in diese Diskussion siehe http://ambassadors.net/ archives/issue11/opinions2.htm.

F: Was zeigt, daß Israel bereits eine Vielvölkergesellschaft ist, für die ein binationaler Staat keine Bedrohung darstellen sollte. Arabische Juden, die etwa die Hälfte der jüdischen Bevölkerung Israels ausmachen, könnten eine kulturelle Brücke in einem jüdisch-palästinensischen Staat sein. Sind sie auch natürliche Verbündete einer palästinensischen Bürgerrechtsbewegung?

Palästinenser sind, meiner Meinung nach, natürliche Verbündete aller Menschen, die sich nach Gleichberechtigung und Gerechtigkeit sehnen. Sephardische Juden haben durch aschkenasische Zionisten viel gelitten. Aber es ist auch wahr, daß sephardische Juden bei der Unterdrückung der Palästinenser mitmachten, und daß aschkenasische Juden sich gegen den politischen Zionismus engagierten und aussprachen - von Martin Buber zu Albert Einstein und Hannah Arendt. Verallgemeinerungen wären also schwierig.

* Mazin B. Qumsiyeh, christlich palästinensisch-amerikanischer Menschenrechtsaktivist und im Vorstand der »Gesellschaft für einen demokratischen Staat in Palästina/Israel« (http://one-democratic-state. org), bietet in seinem Buch »Sharing the Land of Canaan. Human Rights and the Israeli-Palestinian Struggle« (Pluto Press 2004) eine alternative Vision. Weitere Informationen: http://qumsiyeh.org

Das Interview, das uns Sabine Matthes freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat, erschien am 13. August 2005 in der Wochenendbeilage der "jungen Welt".


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