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Der "Tag des Bodens" gegen den "Jüdischen Staat"

Interview von Elsa Rassbach mit Haneen Zoabi *


Seit den achtziger Jahren haben die Palästinenser an jedem 30. März Proteste zum „Tag des Bodens“ durchgeführt. Der Tag erinnert an den ersten großen Kampf der arabischen Israelis gegen die Beschlagnahme von Ländereien, mit der das Ziel verfolgt wurde, in bestimmten Gebieten jüdische Mehrheiten zu schaffen. Die Märsche und Generalstreiks begannen 1976 in Galiläa und führten zum Tod von sechs unbewaffneten arabischen Israelis. Solidaritätsproteste weiteten sich im besetzten Westjordanland, dem Gazastreifen und Flüchtlingslagern im Libanon aus. Seither ist dieser Tag der Gedenktag an den ersten gemeinsamen Kampf für die palästinensische nationale Sache nach der Gründung des Staates Israel im Jahr 1948 - ein Ereignis, das die Palästinenser die Nakba nennen. Dieses Jahr werden am „Tag des Bodens“ weltweite Aktivitäten der Kampagne für Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen (BDS) gegen die israelische Politik stattfinden wie auch der Globale Marsch nach Jerusalem (GMJ), der die Aufmerksamkeit auf die fortwährende Judaisierung und ethnische Säuberung in jener Stadt lenken soll, die als multiethnische, multireligiöse Hauptstadt eines künftigen palästinensischen Staates vorgesehen war.

Haneen Zoabi, 43, wurde 2009 in die Knesset gewählt und war die erste palästinensische Frau, die auf der Liste einer arabischen Partei gewählt wurde. Sie ist Mitglied der Balad-Partei, die Israel in eine Demokratie für alle seine Bürgerinnen und Bürger umwandeln will, unabhängig von nationaler, ethnischer oder religiöser Zugehörigkeit. Zoabi wurde in Nazareth als Tochter einer muslimischen Familie geboren. 2010 nahm sie an der Gaza-Flottille an Bord der Mavi Marmara teil.

Ich sprach mit ihr vor kurzem via Skype.


Was bedeutet der „Tag des Bodens“ für Sie?

Für mich ist der Tag des Bodens ein Tag des fortdauernden und unablässigen Kampfs in der Frage des „Landbesitzes“. Das ist immer noch die zentrale Auseinandersetzung zwischen uns und dem Staat. Es ist das Kernkonzept des zionistischen Projekts, unablässig Land von den Palästinensern zu stehlen und es israelischen Juden zu übergeben. Die Umbenennung von Plätzen, Kreuzungen, Dörfern, Straßen, um so der ganzen Landschaft jüdische Namen zu geben, ist Teil dieser „Beschlagnahme“. Es ist ein Mittel, uns zu bestehlen und unsere historische Beziehung zu unserem Heimatland zu „konfiszieren“. Dies ist die Bedeutung von Ariel Scharons berühmter Erklärung, die er 2002 in der Knesset abgegeben hat, als er sagte, dass die Palästinenser in Israel, die er „israelische Araber“ nannte, im Grunde nur ein „zeitweiliges Nutzungsrecht“ für die noch nicht konfiszierten Länderein hätten, dass aber „alle Rechte über das Land Israel jüdische Rechte sind“.

Während der 63 Jahre seit 1948 hat Israel 85 Prozent unseres Landes konfisziert und es der exklusiven Nutzung durch Juden übereignet. Israel hat 1000 Städte und Dörfer geplant und gebaut, alle von ihnen zur ausschließlichen Nutzung durch Juden. Und NICHTS für die Palästinenser. Wir leben jetzt auf 2 Prozent unseres Landes. Uns ist noch nicht einmal erlaubt, auf unserem eigenem Grund und Boden ein Haus zu bauen – das heißt also, dass wir nicht mal das Recht haben, über das Land zu verfügen, das noch nicht beschlagnahmt worden ist!

Was bedeutet Israels Selbstdefinition als „Jüdischer Staat“ für die palästinensischen Bürger des Landes?

Der „Jüdische Staat“ ist ein Staat, der von Juden gegründet worden ist und von Juden im Interesse der Juden regiert wird – alles auf Kosten der palästinensischen Bevölkerung. Es ist eine rassistische Definition. Der Staat erklärt mich zur Außenseiterin in diesem Land, obwohl ich das Gegenteil davon bin. Ich bin die indigene Bevölkerung. Ich bin nicht nach Israel eingewandert; es war Israel, das zu mir eingewandert ist.

Der israelische Staat behauptet, dass er zugleich jüdisch und demokratisch sein könne, so als gebe es keinen Widerspruch zwischen diesen beiden Konzepten. Jede Debatte in Israel über den systemimmanenten Widerspruch, zugleich ein jüdischer und ein demokratischer Staat zu sein, wird als nichts Geringeres denn eine „strategische Bedrohung“ betrachtet. Wenn wir nicht jüdisch sind und uns weigern, unsere Rechte aufzugeben, dann vertreten wir offensichtlich nicht nur eine andere Sichtweise, sondern etwas, das der eigentlichen Legitimation des Staates widerspricht: dem Zionismus.

Wie definieren Sie Ihren Kampf als palästinensische Bürger Israels im Verhältnis zum Kampf des übrigen palästinensischen Volkes?

Unser Kampf hat zwei Komponenten, als Staatsbürger und auch als Palästinenser. Und im Gegensatz zum Staat sehen wir nicht, warum diese beiden Komponenten – unsere Staatsangehörigkeit und unsere Nationalität – miteinander in Konflikt stehen sollten. Im Gegenteil, Staatsangehörigkeit sollte inklusiv sein. Wir kämpfen für eine normale Staatsangehörigkeit mit voller Anerkennung unserer nationalen Rechte als indigenes Volk, inklusive unserer Geschichte, unserer Identität, unserer Kultur und unserer Nationalität.

Meine Staatsbürgerschaft wird durch die Rechte der jüdischen Israelis bedingt – sie verlangt von mir sogar die Treuepflicht gegenüber diesen Privilegien! Es gibt daher keinen Weg, für vollständige Gleichberechtigung und volle Bürgerrechte zu kämpfen, ohne das Konzept des „Jüdischen Staates“ infrage zu stellen. In Israel für Demokratie zu kämpfen, bedeutet, gegen den Zionismus zu kämpfen. Und dies ist es, was unseren Kampf mit dem breiteren palästinensischen Kampf vereint. Rassismus, Unterdrückung, Judaisierung, Apartheid und Nicht-Demokratie innerhalb Israels; Apartheid, Besatzung, Unterdrückung und Judaisierung im Westjordanland und im Gazastreifen; und die Verweigerung des Rechts auf Rückkehr – alle diese Kontrollmechanismen dienen demselben ideologischen Projekt: dem Zionismus.

Der Nakba-Tag, die erste Intifada, die zweite Intifada – alle diese Tage sind Tage der Einheit. Aber unser Kampf ist immer noch nicht vereinigt, denn ihm fehlen eine einigende Vision und ein einigender Legitimationsrahmen. Die palästinensische Frage hat nicht erst 1967 begonnen und betrifft nicht nur die Gebiete, die 1967 besetzt wurden. Sie betrifft das gesamte palästinensische Volk und sogar die weitere arabische Region.

Nachdem die Oslo-Vereinbarungen von 1993 die Palästinenser in Israel als innere Angelegenheit Israels definiert hatten, haben wir unser nationales Projekt in einer Weise neu formuliert, die unsere Wiedereingliederung in das palästinensische Volk sichert und unseren Platz als integraler Teil der palästinensischen Frage garantiert, sowohl als Teil des Konflikts wie auch als Teil der Lösung. Unsere Forderung nach einem „Staat für alle seine Bürger“ hat die Palästinenser in Israel in das Zentrum der unmittelbaren Konfrontation mit der zionistischen Unternehmung gebracht und den „Jüdischen Staat“ gezwungen zuzugeben, dass er jüdisch-zionistischen Werten den Vorrang gegenüber demokratischen Werten einräumt -- und auch zu begreifen, dass eine Koexistenz von beidem unmöglich ist.

Das ist die Rolle, die wir spielen.

* Elsa Rassbach ist eine Filmemacherin und Journalistin aus den USA, die zurzeit in Berlin lebt. Sie ist Mitglied von CODEPINK, einer Organisation, die den Globalen Marsch nach Jerusalem unterstützt. Sie schreibt häufig in deutschen und US-amerikanischen Publikationen. Ihr preisgekrönter Film The Killing Floor, ein historischer Spielfilm über den Kampf einer Gewerkschaft gegen den Rassismus in den Schlachthöfen von Chicago, wird dieses Jahr erneut herausgegeben. www.thekillingfloor-thefilm.com

Das vollständige Interview in einer durch die Interviewerin autorisierte Übersetzung von Harald Etzbach.

Anmerkung: Das Interview wurde zuerst am 29.03.2012 in der israelischen Zeitschrift +972 veröffentlicht. (Siehe MK Zoabi: Struggle for democracy is a struggle against Zionism http://972mag.com/mk-zoabi-a-struggle-for-democracy-is-a-struggle-against-zionism/39617/). Daraufhin wurde es unter verschiedenen Überschriften in mehreren US-Internet Zeitschriften, z.B. Mondoweiss und Alternet, veröffentlicht. In einem Artikel vom 30.03.2012 auf der Webseite des Council on Foreign Relations, CFR, wird das Interview als Leseempfehlung erwähnt, und zwar mit Link zur Veröffentlichung durch das Institute for Middle East Understanding, IMEU, unter der Überschrift Land Day vs. the "Jewish State". (Siehe http://blogs.cfr.org/cook/2012/03/30/weekend-reading-egypts-real-challenges-lessons-for-libya-and-palestinian-protests/) In Deutschland erschien das Interview zuerst in verkürzter Fassung am 31.03.2012 in der "jungen Welt".



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