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Die elfjährigen Terroristen

Im Westjordanland gilt die israelische Militärgerichtsbarkeit – für alle

Von Oliver Eberhardt, Jerusalem *

In den kommenden Tagen wird Israel erneut palästinensische Gefangene freilassen. Mehrere tausend Palästinenser werden aber weiterhin in Haft gehalten. Die meisten von ihnen wurden von Militärgerichten verurteilt – in Verfahren, die anerkannten juristischen Standards nicht genügen.

Langsam rollt der Bus durch das Tor, die Türen öffnen sich und für einen Moment könnte man vergessen, wo man ist. Man könnte glauben, hier komme eine Jugendgruppe vom Ausflug zurück. Laut rufend machen Eltern auf sich aufmerksam, die Kinder winken. Doch die Gesichter sind ernst, verschüchtert, der Jüngste in dieser kleinen Gruppe kann die Tränen nicht zurückhalten, obwohl er sich sichtlich bemüht. Der Blick fällt auf die Fußfesseln, die er tragen muss, als gäbe es hier, auf dieser Militärbasis mitten im Westjordanland, irgendeinen Ort, an den ein Elfjähriger flüchten könnte.

Heute wird Mahmud Bekanntschaft mit der israelischen Militärjustiz machen. Sie ist für Vergehen zuständig, die außerhalb der Palästinensischen Autonomiegebiete oder von israelischen Siedlungen begangen werden.

Gerichte, die wohlgemerkt nicht einfach nur nach Militärrecht urteilen. Sind die Zuständigkeiten komplex, ist das Recht, nach dem geurteilt wird, »einfach nur ein gigantisches Chaos, durch das kaum noch jemand durchsteigt«, sagt Aharon Mischnajot. Er war bis vor kurzem Militärgerichtspräsident.

»Es liegt nicht an uns, dass das so ist«, sagt Mischnajot. »Meine Kollegen und ich haben immer wieder gefordert, dass hier endlich auch das israelische Strafrecht eingeführt wird.« Doch in Jerusalem und Tel Aviv, wo das Verteidigungsministerium sitzt, stießen die Vorstöße auf massive Gegenwehr. Manche Linke kritisierten, das würde einen weiteren Schritt zu einer Annexion bedeuten. Und der ehemalige Außenminister Avigdor Lieberman von der rechtspopulistischen Partei Jisrael Beitenu, die mittlerweile mit dem konservativen Likud-Block von Premierminister Benjamin Netanjahu ein Bündnis eingegangen ist, kritisierte, israelisches Recht sei »zu lasch«, um effektiv gegen »palästinensischen Terrorismus« vorzugehen.

Wobei Terrorismus im Grunde alles sein kann. Im Juristensprech »sicherheitsbezogenes Vergehen« genannt, wird davon der Steinwurf in Richtung eines israelischen Soldaten, der dem kleinen Mahmud vorgeworfen wird, ebenso umfasst wie die Planung eines Bombenanschlages. Und wenn die Staatsanwaltschaft will, dann wird aus dem Steinwurf eines Elfjährigen ein versuchter Totschlag.

Insgesamt 4828 Palästinenser waren im Juli nach offiziellen Angaben wegen eines solchen »sicherheitsbezogenen Vergehens« inhaftiert. 195 davon waren minderjährig, drei davon unter 14. Weniger bekannt ist, dass auch rund 100 jüdische Israelis, 21 davon unter 18, vier unter 14, wegen solcher Vergehen angeklagt oder bereits verurteilt sind – die Militärgerichte sind in ihrem Einzugsbereich für alle zuständig.

Lieberman steht übrigens derzeit selbst vor einem israelischen Zivilgericht und rechnet mit einem Freispruch. Was vor einem Militärgericht eher die Ausnahme als die Regel ist. Einer offiziellen Statistik des Justizministeriums zufolge enden 96,7 Prozent aller Verfahren mit einer Verurteilung – eine Quote, die sich nicht mit einer besonders effektiven Ermittlungsarbeit erklären lässt.

»Ganz im Gegenteil«, sagt ein Richter, der eigentlich an einem Landgericht irgendwo in Israel nach israelischem Recht urteilt und nach eigenen Angaben mehrere Male seinen Reservedienst als Militärrichter ableistete. Dass sich Mischnajot nun als Kritiker des Militärgerichtssystems hervortue, findet er »zynisch«, denn er sei derjenige gewesen, der jahrelang die eigentlichen Probleme stillschweigend hingenommen habe: »Auch wenn ab morgen nach israelischem Recht geurteilt werden würde, wäre damit nicht alles in Ordnung.«

Besonders problematisch sei seiner Ansicht nach die Rolle des Scheruth leBitachon Klali (Schin Beth), des Allgemeinen Sicherheitsdienstes, der etwa mit dem deutschen Staatsschutz vergleichbar ist, aber eine Vielzahl von Zusatzbefugnissen hat. »In den meisten Fällen kommen die Beweise vom Schin Beth; ihre Zuverlässigkeit ist meist nicht nachvollziehbar. Verhöre müssen nicht aufgezeichnet werden, und wenn die Nachfragen von Anwälten zu kritisch werden, dann lässt man die Akte mit Verweis auf die nationale Sicherheit einfach versiegeln.«

Dabei passieren Fehler. So saß ein Mann aufgrund geheimer Hinweise des Schin Beth mehrere Monate im Gefängnis, bis sich durch Zufall herausstellte, dass jemand seine Identität missbraucht hatte. Militärjustiz und Schin Beth gelobten danach, künftig besser hinzuschauen, sich um mehr Transparenz zu bemühen. »Passiert ist aber nichts«, sagt der Richter. »Wenn man es als Richter so macht wie ich und den Antrag ablehnt oder Fragen stellt, dann schiebt man beim nächsten Reservedienst Wache an irgendeiner Straßenecke.«

Wenn ein Anwalt nachfragt. Als Mahmud und die anderen acht Jugendlichen an jenem Montag in den stickigen Gerichtssaal geführt werden, bricht Streit zwischen seinen Eltern und dem Verteidiger aus. Einen Monat habe der Junge in Haft verbracht, hat der Vater erzählt. Warum denn kein Antrag auf Kaution gestellt wurde? »Wir wussten nicht, dass das möglich ist«, erwiderte der Vater erstaunt. Und diskutiert nun mit dem Verteidiger, der erbost mit der Akte wedelt.

Einer Akte, die verdächtig dünn ist. Einige Tage später, als die palästinensische Anwaltskammer auf Antrag von Mahmuds Eltern und einigen anderen Mandanten ein Verfahren eröffnet hat, wird sich herausstellen, dass der Mann gar nichts gemacht, nicht einmal einen Antrag auf Akteneinsicht gestellt hat. In keinem der Verfahren.

»Kein Einzelfall« sei das, sagt der palästinensische Jurist Hassan Schweiki. »Die israelischen Vergütungen für Pflichtverteidiger sind für unsere Verhältnisse sehr hoch, und mancher nimmt so viele Fälle wie möglich an und lässt die Mandanten im Regen stehen.«

Dass das möglich ist, liegt auch daran, dass anders als innerhalb des israelischen Staatsgebietes den Beschuldigten weder die Anschuldigungen noch ihre Rechte erklärt werden. Auch kümmern sich die Gerichte sich nicht darum, ob ein Angeklagter wirklich eine adäquate Verteidigung bekommt, die wenigstens bei Kindern in der Regel dazu führt, dass eine Haftentlassung bis zum Verfahren möglich ist. Und auch Palästinas Behörden, die die Problematik immer wieder monieren, tun wenig, um der Öffentlichkeit deutlich zu vermitteln, was zu tun ist, wenn es ernst wird.

Bei Jugendschützern sorgt all dies regelmäßig für Entsetzen. In Israel ist man erst ab 14 strafmündig, zudem soll wie auch in Deutschland bei einer Verurteilung der Erziehungsgedanke im Vordergrund stehen. Vor den Militärgerichten sind derlei Überlegungen allerdings ausgehebelt: Trotz der Vielzahl an Gesetzen gibt es keine Unterteilung in Jugend- und Erwachsenenstrafrecht, es gibt keine Gutachter, die Entwicklungsstand und Tatmotivation beurteilen, eine Sozialprognose abgeben.

Dutzende Brandbriefe wurden in den vergangenen Jahren geschrieben; passiert ist nichts. Nachdem der Oberste Gerichtshof vor einigen Jahren die Regierung aufforderte zu erklären, was da los ist, erwiderte die, es sei nun mal so, dass Israels Jugendämter keinen Zugang zu palästinensischen Familien finden würden und die Palästinenser kein funktionierendes Jugendamt haben.

Allerdings: Es gibt auch Verteidiger, die ihren Job ernst nehmen, von den Militärrichtern Jugendschutz fordern. Und damit regelmäßig eine Abfuhr erhalten. »Vor allem die Richter, die das hauptberuflich machen, sehen in den Angeklagten oft nur Terroristen«, sagt der Zivilrichter, und das liege auch daran, dass in dem Job nur die »Harten« überleben: »Das ist politisch so gewollt.«

Mahmud ist einer von denen, die es geschafft haben, den Gerichtssaal als freier Mensch zu verlassen. Ein neuer Verteidiger ist kurzfristig eingesprungen, hat den versuchten Totschlag zum tätlichen Angriff herunterargumentiert und einen Monat Gefängnis herausgeschlagen, der durch die Untersuchungshaft abgegolten ist – ein halbgarer Kompromiss, wie der Verteidiger sagt. Der Junge schwört, er habe sich nichts dabei gedacht, als er den Stein aufgehoben habe. Als er das Gericht verlässt, ist er wütend. Aus dem Kind ist ein Feind geworden.

* Aus: neues deutschland, Montag, 7. Oktober 2013


Ein Irrgarten des Rechts

Je nachdem wo sich ein Rechtsstreit abspielt und worum er sich dreht, werden im Westjordanland verschiedene Rechtssysteme angewandt. Welches davon in Frage kommt, ist selbst für gestandene Juristen oft nur schwer zu durchzuschauen.

Klar ist die Lage in den Palästinensischen Autonomiegebieten (Gebiet A) und in israelischen Siedlungen: Dort gilt je nachdem palästinensisches oder israelisches Recht – genauso wie in Ost-Jerusalem, das 1980 einseitig von Israel annektiert wurde.

In den C-Gebieten, in denen Israel die uneingeschränkte Kontrolle ausübt, wird im Strafrecht eine Mischung aus jordanischem Recht und mehr als 1500 Militärdirektiven angewandt. Im Zivilrecht kommen, vor allem in Grundstücksangelegenheiten, häufig auch osmanisches und britisches Mandatsrecht zur Anwendung. Grundsätzlich gelten die Verfahrensvorschriften der Militärjustiz, was auch die Anforderungen an die Beweisführung und die Rechte der Angeklagten einschränkt.

Vor allem im Strafrecht bietet diese Situation darüber hinaus einige Besonderheiten: So sieht das jordanische Recht die Todesstrafe für eine Reihe von Vergehen vor, während sie in Israel außer für Verbrechen gegen die Menschlichkeit abgeschafft ist. Angewandt wurde sie nie; allerdings haben israelische Regierungen in den vergangenen Jahrzehnten das völkerrechtswidrige Konstrukt der gezielten Tötung von Palästinensern genutzt, die mit Angriffen gegen Israelis in Verbindung gebracht wurden.

Oliver Eberhardt

(neues deutschland, Montag, 7. Oktober 2013)




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