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Wechselstimmung bei der Hamas

Palästinenserorganisation vor Wahl einer neuen Führungsfigur

Von Oliver Eberhardt *

Bei der Hamas steht ein Führungswechsel an. Khaled Maschal will nicht wieder für den Vorsitz des Politbüros der Organisation kandidieren; als potenzieller Nachfolger wird der Pragmatiker Moussa Abu Marzouk gehandelt. Damit soll ein lange schwelender Richtungsstreit beigelegt werden.

Die Palästinensergruppe Hamas ist seit jeher eine geheimnisvolle Organisation. Jahrzehnte war in der Öffentlichkeit wenig über die Strukturen bekannt, und noch weniger wurde offen über Personalfragen und Grundsatzdebatten gesprochen.

Seit die Organisation im Sommer 2007 im Gaza-Streifen die Macht übernahm, öffnet sie sich langsam, wird transparenter. Mittlerweile gibt es De-facto-Pressesprecher, die auch den einen oder anderen internen Vorgang öffentlich machen. Wie zum Beispiel diesen: »Ich kann bestätigen, dass Khaled Maschal nicht wieder für den Vorsitz des Politbüros kandidieren wird.« Das sagte Sprecher Hassan Abu Haschisch.

Das politische Büro ist Teil des sogenannten Schura-Rates der Hamas, einer Art Regierungsapparat, in dem Komitees sich mit der Richtung in militärischen und politischen Fragen befassen, wobei der politische dem militärischen Flügel gegenüber weisungsbefugt ist. Der Vorsitzende des Politbüros ist damit der höchstrangige Vertreter der Hamas. Wie die anderen Mitglieder dieses Komitees wird auch der Chef von den Mitgliedern der Hamas gewählt, wobei die Wahlen im wahrsten Sinne des Wortes geheim sind: Wann die Urabstimmung stattfindet, ist Verschlusssache; dass sie überhaupt stattgefunden hat, wurde beim letzten Mal, 2009, erst im Nachhinein bekannt gegeben.

Dass nun bereits vorher offen über personelle Dinge gesprochen wird, hat nach Ansicht von Beobachtern System. »Die Hamas steht vor einer Vielzahl von Herausforderungen«, meint Saleh al-Naameh von der Zeitung »Ashark al-Awsat«. »Durch die Offenheit erhofft sie sich Legitimität.«

Denn der Hamas sind durch den »arabischen Frühling« Partner abhanden gekommen: Die Partnerschaft mit Syriens Regierung, die dem Politbüro jahrelang eine Basis in Damaskus zur Verfügung stellte, zerbrach im September, nachdem sich das Politbüro auf massiven Druck der Basis hin auf die Seite der Opposition gestellt hatte - womit allerdings auch das Verhältnis zur iranischen Regierung, Hauptgeldgeberin an die Hamas, einen Knacks bekommen hat.

Zudem wächst im Gaza-Streifen der Unmut. Den Radikalen ist die Hamas nicht mehr radikal genug, während die Bevölkerung genug hat von der seit Jahren andauernden Blockade des Landstrichs und der zunehmend autoritär regierenden Führung. Bei einem Treffen von Ismail Hanijeh, der in Gaza de facto das Amt des Premierministers inne hat, mit dem Politbüro in Kairo sei es im September zur offenen Konfrontation mit Maschal gekommen, berichteten arabische Zeitungen übereinstimmend. Hanijeh habe einen Ausbau der Beziehungen zu Ägyptens neuer Regierung gefordert, weil er sich davon eine Lockerung der Blockade verspricht; Maschal habe dies aus Rücksicht auf Iran, dessen Verhältnis zu Ägypten nach wie vor belastet ist, abgelehnt. Am Ende sei Maschal von seinen Kollegen im Politbüro dazu gedrängt worden, auf eine neue Kandidatur zu verzichten.

Als sein Nachfolger wird nun Moussa Abu Marzouk gehandelt. Der 61-Jährige gilt als weltgewandter, aber konservativ-islamischer Pragmatiker, der mit Hanijeh gut kann. Seine Wahl würde aber auch einen radikalen Richtungswechsel im Politbüro symbolisieren: So hatte er 2006 in einem Interview mit einem israelisch-palästinensischen Radiosender gesagt, die Hamas erkenne an, dass Israel existiere; man erkenne nur die Besatzung Palästinas nicht an. 2007 schrieb er in einem Gastbeitrag in der britischen Zeitung »Guardian«, die Hamas sei bereit zum Dialog mit Israel.

* Aus: neues deutschland, Freitag, 05. Oktober 2012


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