Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Hamas kontrolliert den Gazastreifen - Kämpfe im Westjordanland

Einheitlicher palästinensischer Staat bedroht - bevor er überhaupt existierte

Saat der Gewalt

Palästinas Außenminister Ziad Abu Amr erklärte die verfahrene Gewaltsituation in Palästiona mit folgendem Bild: "Wenn man zwei Brüder in eine Höhle bringt und ihnen das Nötigste für das Leben wegnimmt, werden sie gegeneinander kämpfen. Ich denke nicht, dass wir dem Opfer etwas vorzuwerfen haben. Wir müssen Probleme bewältigen, die vorwiegend von anderen verursacht wurden."

Das ist richtig, bietet aber auch keinen Ansatzpunkt für eine Lösung des Problems. Denn die "Verursacher" des Dramas in den palästinensischen "Autonomiegebieten", die internationale Gemeinschaft, konkreter: das Nahost-Quartett, haben bisher nichts getan und werden auch weiterhin nichts tun, was der Staatsbildung und der Stabilisierung der politischen und sozialen Lage in Palästina förderlich wäre (siehe dazu auch unseren Kasten unten). Die jüngste Reaktion des Quartetts und der Europäischen Union, natürlich auch Israels, aber auch der benachbarten arabischen Staaten auf den Bruderkampf zwischen Hamas und Fatah befördert die Spaltung Palästinas, bevor ein einheitlicher palästinensischer Staat, den angeblich alle wollten, überhaupt entstehen konnte. Nachdem Präsident Abbas am 14. Juni den Notstand ausgerufen und die Regierung (eine erst im Februar auf internationalen Druck hin gebildete Einheitsregierung) absetzte, erklärte die Europäische Union, sie unterstütze Abbas "völlig". Die EU rufe alle Seiten auf, sich hinter Abbas zu stellen, erklärte Deutschland, das derzeit die EU-Ratspräsidentschaft innehat. Israel erklärte, es sei positiv, dass Abbas das Hamas-Kabinett entlassen habe. Das mache es einfacher, mit den gemäßigten Kräften der Palästinenser zusammenzuarbeiten.

Die jordanische Regierung stellte sich am 15. Juni ebenfalls hinter Abbas. Die Arabische Liga hat am 15. Juni auf einer Dringlichkeitssitzung in Kairo ihre Unterstützung für den palästinensischen Präsidenten Mahmud Abbas bekundet. Der Generalsekretär der Staatenorganisation, Amr Mussa, rief zu einem Ende der Kämpfe auf und sagte, die arabischen Staaten wollten der palästinensischen Sache dienen und nicht einer bestimmten Partei. Im Widerspruch dazu begrüßten die Außenminister die Ernennung einer neuen Regierung durch Abbas und erklärten, die Legitimität seines Amtes müsse respektiert werden. Noch einen Schritt weiter ging Ägypten: In einer deutlichen Botschaft an die radikalislamische Hamas schloss es seine diplomatische Vertretung im Gazastreifen. Die Regierung in Kairo nannte dafür Sicherheitsgründe. Der wahre Grund ist ein anderer. Auch in Ägypten geht die Angst um - die Angst vor sog. radikal-islamischen Kräften, die seit Jahren nur mit äußersten repressiven Mitteln unter Kontrolle gehalten werden.

Die Kämpfe um die reale Macht im geschundenen Palästinenserland weiten sich mittlerweile aus. Hunderte Fatah-Kämpfer stürmten am 16. Juni von der Hamas kontrollierte Einrichtungen, darunter das Parlamentsgebäude und das Regierungsbüro in Ramallah. Ein Sprecher kündigte die Übernahme aller Hamas-Einrichtungen als Reaktion auf die "Eroberung" des Gazastreifens durch die radikalislamische Organisation an. Auf dem Dach des Gebäudes hissten Fatah-Kämpfer die Fahne ihrer Organisation und feuerten in die Luft. Andere drangen in das Bildungsministerium und das Büro des Ministerpräsidenten vor. In Nablus stürmten Fatah-Kämpfer die Stadtverwaltung. Sieben Hamas-Aktivisten wurden entführt. Auch in Hebron kam es zu Angriffen: Fatah-Aktivisten übernahmen nach eigenen Angaben die Kontrolle in Büros des Innen- und des Bildungsministeriums. Sie warnten Angestellte, die loyal zur Hamas stehen, vor einer Rückkehr an den Arbeitsplatz.

Der Ausgang der Kämpfe ist ungewiss. Ob die geballte internationale Unterstützung Abbas und dessen bei den Wahlen 2006 abgestrafter Fatah helfen wird, ist keineswegs sicher. Aber auch eine Niederlage von Hamas garantiert keinen Weg zu einem Stabilisierungs- oder gar Friedensprozess. Für die USA, die die Lage im Irak nicht in den Griff bekommen und so gern in Iran den Regimewechsel herbeiführen wollten, wird es keine Entspannung in Palästina und damit keinen freien Rücken für ihre weit reichende Middle East Initiative geben. Die Saat der Gewalt, die man der palästinensischen Bevölkerung in den besetzten Gebieten Jahrzehnte lang angetan hat und der zumindest der Westen und die Vereinten Nationen tatenlos zugesehen haben, geht auf und siehe da: Unter ihren Früchten befindet sich der internationale Terrorismus.

Peter Strutynski

Alvaro de Soto: Boykott von Hamas-Regierung war "extrem kurzsichtig"

Der frühere Spitzendiplomat der Vereinten Nationen in Israel, Alvaro de Soto, hat die Rolle der USA im Nahost-Konflikt scharf kritisiert. Mit ihrer Unterstützung Israels hätten die Vereinigten Staaten die Bemühungen um einen Frieden in der Region behindert, zitierte die britische Zeitung "The Guardian" am 13. Juni aus dem Abschlussbericht des Diplomaten über seine Mission. So hätten die USA das Einfrieren palästinensischer Steuereinnahmen durch Israel unterstützt. Das so genannte Nahostquartett aus den USA, der UNO, der EU und Russland sich habe sich dazu nicht mehr äußern können, "da die US-Vertreter uns einschüchterten". Gleichzeitig kritisierte der peruanische UN-Diplomat auch andere Staaten. Der Boykott westlicher Länder gegen die Hamas-geführte Regierung in den palästinensischen Gebieten sei "bestenfalls extrem kurzsichtig" und habe "verheerende Konsequenzen" für das palästinensische Volk. Weiter klagte Soros, auch die Vereinten Nationen orientierten sich zu stark an den USA und an Israel: "Es gibt offenbar in jeder Situation, in der die UN Position beziehen muss, einen Reflex, zunächst danach zu fragen, wie Israel oder Washington reagieren, anstatt nach der richtigen Position zu fragen", schrieb Soto. Auch die Palästinenser kritisierte der UN-Diplomat. Ihre Versuche, die Gewalt zu stoppen, seien absolut nicht ausreichend.

Siehe unsere Nahost-Chronik vom Juni 2007
Hier ist der vollständige Bericht von Alvaro de Soto herunterzuladen (externer Link): http://image.guardian.co.uk (pdf-Datei, englisch)

Jan Egeland

Der UN-Sonderbeauftragte für den Nahen Osten, Jan Egeland, sieht ebenfalls ein deutliches Versagen der internationalen Politik. "Das ist die Chronik eines angekündigten Kollapses", sagte Egeland. "Es ist das Produkt von gescheiterter palästinensischer Politik, gescheiterter israelischer Politik und gescheiterter internationaler Politik."
(FR, 16.06.2007)

Niels Annen (SPD)

Auch der SPD-Bundestagsabgeordnete Niels Annen sieht "die Politik des Westens gescheitert. Es war falsch, die nationale Einheitsregierung der Palästinenser nicht anzuerkennen", sagte er der Frankfurter Rundschau in Berlin und fügte hinzu, Israel habe "die historische Chance vertan, sich auf die arabische Friedensinitiative einzulassen, und es geradezu sträflich vernachlässigt, auf die moderaten Kräfte unter den Palästinensern zuzugehen".
(FR, 16.06.2007)



Im Folgenden dokumentieren wir zwei Artikel, die sich ebenfalls mit den neuesten Entwicklungen in den Palästinensergebieten befassen.


Gaza-Streifen wird zu "Hamastan"

Radikale Islamisten basteln an einer muslimischen Enklave

Von Oliver Eberhardt, Jersusalem *

Der Gaza-Streifen ist in die Hände der Hamas gefallen. Die Organisation macht sich daran, ihre Vision eines palästinensischen Staates umzusetzen – und jagt damit auch vielen Menschen in Gaza Angst ein. Im Westjor-danland hat man den Landstrich indes bereits abgeschrieben.

Als am Freitagmittag die Muezzine in Gaza den Sieg der Hamas gegen die »korrupten Kämpfer der Fatah« beschworen, herrschte auf dem Jerusalemer Tempelberg eine Atmosphäre der Gleichgültigkeit. »Das ist eben Gaza, da passieren solche Sachen«, sagt Naja Schweiki: »Bei uns könnte das nicht passieren; wir sind viel zivilisierter.«

Viele Muslime sind an diesem Freitag nicht gekommen, um gemeinsam mit Schweiki am Gebet teilzunehmen, nicht weil sie nicht gewollt hätten, ganz im Gegenteil, sondern weil die israelische Polizei nur Männern über 45 und Frauen über 35 den Zutritt erlaubte. Denn nach den Ereignissen der vergangenen Tage geht die Angst um, dass die Kämpfe auch auf das Westjordanland und Ost-Jerusalem übergreifen. »Wir haben konkrete Hinweise, dass dies geschehen könnte«, sagt ein Polizeisprecher: »Die Stimmung ist sehr, sehr aufgeheizt.« Nicht nur, dass Fatah-nahe Sicherheitskräfte im Westjordanland damit begonnen haben, Mitglieder der Hamas zu verhaften – im Raum steht auch die indirekte Drohung des bisherigen Regierungschefs Ismail Hanija, für ein Übergreifen des Konflikts auf den räumlich durch Israel vom Gaza-Streifen getrennten zweiten Landesteil zu sorgen.

Nachdem Präsident Machmud Abbas am Donnerstag die Regierung gefeuert hatte, erklärte Hanija den Schritt für null und nichtig, nannte ihn »unüberlegt« und warnte vor den Konsequenzen. Die könnten durchaus folgenreich sein: Zwar hat die Hamas im Westjordanland nicht besonders viele Kämpfer, aber die sind dafür umso besser ausgerüstet, während die Sicherheitskräfte und die Anhänger der Fatah zwar zahlreich, aber schlecht bewaffnet und organisiert sind – eine Konstellation, in der auch Mitarbeiter von Präsident Abbas das Potenzial für ein weiteres Debakel sehen. »Falls die Hamas auch Teile des Westjordanlande einnimmt und Israel einschreitet, ist das Ende der Autonomiebehörde gekommen«, heißt es in Abbas' Büro. Um es nicht so weit kommen zu lassen, arbeitet man deshalb, im Hintergrund unterstützt durch US-amerikanische Sicherheitsexperten, auf Hochtouren daran, sich fit für die Konfrontation zu machen, die vielen Beobachtern zur Zeit unausweichlich scheint. »Ich glaube nicht, dass die Hamas sich mit dem Gaza-Streifen zufrieden geben wird«, sagt der Journalist Hischam Zubaidi. »Nach ihrem militärischen Sieg haben die das Gefühl bekommen, dass sie mehr erreichen können – und sie sehen sich auch noch im Recht, denn immerhin haben sie ja die Wahl gewonnen und die Fatah verweigert ihnen die Macht.«

Doch Najah Schweiki will davon nichts hören. Der 57-jährige Jerusalemer ist fest davon überzeugt, dass außerhalb Gazas die Vernunft die Oberhand behalten wird: »Die Leute da haben eine andere Kultur; die sind nicht so wie wir. Ich glaube eher, dass es am Ende zwei palästinensische Staaten geben wird.« Die Umstehenden nicken zustimmend.

In der Tat deutet vieles darauf hin, dass dies durchaus eine Möglichkeit ist: Die Unterschiede zwischen den beiden Landesteilen waren immer schon gravierend; einen wirklich engen Austausch zwischen den Menschen in den beiden Regionen gab es schon nicht mehr, seit Israel 1948 Gaza und das Westjordanland räumlich voneinander trennte. Es hätten sich im Laufe der Zeit zwei völlig unterschiedliche politische und gesellschaftliche Kulturen herausgebildet, sagen Soziologen. Zudem hätten die Menschen im Westjordanland vor Längerem damit begonnen, sich mental von Gaza zu trennen: In der potenziellen Kornkammer wurde das Armenhaus Gaza schon seit Jahren als Klotz am Bein empfunden.

So waren israelische und US-amerikanische Regierungsmitarbeiter in den vergangenen Tagen überraschend schnell damit zur Stelle, die palästinensischen Gebiete in zwei voneinander unabhängige Gebilde einzuteilen. Palästinensische Politiker geraten derweil ins Stocken, wenn sie von Gaza und Westjordanland als »einiges Palästina« sprechen. Offen reden beide Seiten darüber, dass man den Friedensprozess künftig auch unter Ausschluss Gazas weiter verhandeln könne – was die Aussichten für Gaza noch ein bisschen trostloser erscheinen lässt.

Denn nicht nur, dass die Hamas schon damit begonnen hat, durch Massenverhaftungen, Exekutionen und die Schließung von »unislamischen« Einrichtungen ein Regime aufzubauen, das ihr künftig einen Stammplatz auf der Achse des Bösen sichern dürfte – die Europäische Union hat zudem alle humanitären Hilfen gestoppt; Israel könnte Strom und Wasser abstellen, und eine internationale Friedenstruppe ist unwahrscheinlich geworden, seit die Hamas ausländische Soldaten als »Besatzer« abgelehnt hat.

* Aus: Neues Deutschland, 16. Juni 2007


Abbas mit "Notstandspremier" seiner Wahl

Palästinensischer Präsident löst Einheitsregierung auf. Gazastreifen unter Kontrolle der Hamas **

Nach ihrem militärischen Sieg im Gazastreifen sprach sich die islamisch orientierte Regierungspartei Hamas am Freitag (15. Juni) eindeutig gegen die Bildung eines eigenen Staates ebendort aus. Der palästinensische Ministerpräsident Ismail Hanija erklärte in einer Fernsehansprache: »Der Gazastreifen ist ein untrennbarer Teil unseres Vaterlandes, und seine Bewohner bilden einen untrennbaren Teil des palästinensischen Volkes.« Er wies die Entscheidung von Präsident Mahmud Abbas, den Notstand auszurufen und die »nationale Einheitsregierung« von Hamas und Fatah aufzulösen, als »überstürzt« zurück. Abbas verrate damit alle »geschlossenen Einigungen«. Die Regierung der nationalen Einheit werde fortgeführt, so Hanija.

Der Präsident hatte am Donnerstag (14. Juni) abend in Ramallah die Bildung einer neuen Regierung angekündigt. Kurz danach übernahmen Kämpfer der Hamas den Amtssitz von Abbas in Gaza und besetzten damit die letzte Bastion von dessen Fatah-Bewegung in der Stadt. Hamas-Sprecher Abu Obeida sagte, das Gelände sei kampflos eingenommen worden, die Fatah habe es zuvor verlassen. Im Gazastreifen kehrte am Freitag langsam Ruhe ein. Auf den Straßen fuhren wieder Autos, Geschäfte öffneten. Nur wenige Bewaffnete waren zu sehen. Im Westjordanland kam es dagegen zu Übergriffen auf Hamas-Aktivisten. In Nablus wurde ein Mann erschossen, in Ramallah die Büros von drei Hamas-Abgeordneten in Brand gesetzt und etwa 35 Aktivisten eingeschlossen.

Präsident Abbas beauftragte indes am Freitag (15. Juni) ohne Konsultationen mit der Hamas Salam Fajad mit der Bildung einer »Notstandsregierung«. Der als »unabhängig« präsentierte Politiker wurde als Finanzexperte in den USA ausgebildet, arbeitete danach für die Weltbank und den Internationalen Währungsfonds und diente Abbas ab 2002 als Finanzminister. Sowohl die deutsche EU-Präsidentschaft als auch die US-Regierung sagten Abbas ihre Unterstützung zu. (AP/AFP/jW)

** Aus: junge Welt, 16. Juni 2007


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