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Gaza ist zur Hölle geworden

Im Jahr 40 nach dem Sechs-Tage-Krieg prägen Elend, Perspektivlosigkeit und Angst das Palästinenserghetto

Von Oliver Eberhardt, Jerusalem *

Überfüllt, grau, bitterarm und gefährlich – das ist der Gazastreifen im Jahr 40 nach dem Sechs-Tage- Krieg. Die heutige Situation ist das Ergebnis einer Entwicklung, die mit dem israelisch-arabischen Krieg 1948 begann.

Das Taxi ist kaum in die enge Straße im Zentrum von Gaza eingebogen, da stürmt Mahmud al- Schafi schon erstaunlich flink aus dem Eingang eines unverputzten, mit Parolen beschmierten Hauses. »Schön, dass ihr wieder hier seid«, begrüßt uns der 84-Jährige. Man hat sich lange nicht gesehen. Seit vor mehr als drei Monaten der britische Journalist Alan Johnston entführt wurde, fährt bei jeder Reise in den Gazastreifen die Angst mit. Passiert ist seitdem zwar nichts, doch das Gefühl, es könnte jederzeit wieder geschehen, reicht vielen Reportern als Grund, auf Reisen nach Gaza zu verzichten.

Die Anführer wollen nur eines: Macht

»Die Entführer haben uns großen Schaden zugefügt«, meint Fahdi, Mahmuds Sohn, der als Assistent für ausländische Journalisten arbeitet – ein für hiesige Verhältnisse guter Job, der aber kein Geld bringt, wenn keiner kommt. Der 27-Jährige klagt: »Jetzt, da die Welt nicht mehr herschaut, haben die Israelis und die Brigaden freie Hand. Unser Leben wurde unerträglich. Wenn man aus dem Haus geht, weiß man nie, ob man nicht der nächste sein wird, den eine Kugel oder eine Granate trifft.«

Wie viele Menschen seit dem Beginn der Auseinandersetzungen zwischen den bitter verfeindeten Essedin-al-Kassam-Brigaden der Hamas und den Al-Aksa-Brigaden, die der Fatah-Fraktion von Präsident Mahmud Abbas nahe stehen, ums Leben gekommen oder verletzt worden sind, kann niemand genau sagen. Die Krankenhäuser zählen nicht mehr mit, und der Rote Halbmond gibt selber zu, dass seine Listen zu ungenau sind. Seit November müssen es Hunderte gewesen sein, und viele der Opfer waren Unbeteiligte. »Wenn die ausrasten, schießen sie auf alles, was sich bewegt«, so Mahmud.

Im Jahre 40 nach dem Sechs-Tage-Krieg ist hier das ganze Leben von Politik oder Religion oder beidem durchtränkt. Auf der einen Seite stehen die Hamas-Anhänger, die sich einen auf islamischen Grundsätzen basierenden Staat wünschen. Ihre Widersacher, die der Fatah nahestehenden Kämpfer, geben vor, genau das verhindern zu wollen. Im Hintergrund ziehen allerdings Anführer die Fäden, die nur eines wollen: die Macht. Die Autonomiebehörde hat schon lange kaum noch etwas zu sagen. Es ist die Hamas, die entscheidet, hier wurde sie geboren, hier hat sie ihre Basis.

Leichtes Spiel für die Moslembrüder

Am Mittag fahren Fahdi und sein Vater ihre Besucher durch die Stadt. Grau, staubig, überfüllt, mit einem kleinen Viertel an der Küste, in dem die Reichen in streng bewachten Villen leben – so ist Gaza heute. »Es war nicht immer so«, erzählt Mahmud. »Als ich jung war, war Gaza eine kleine Stadt. Die Leute haben als Handwerker oder als Fischer gearbeitet, und wir konnten reisen. Aber dann kamen die Nakba (der israelisch-arabische Krieg 1948) und die Flüchtlinge, alles änderte sich.«

Es bahnte sich eine soziale Katastrophe an. Ägypten nahm die Flüchtlinge nicht in sein Kernland auf. Die Welt sollte stets an die Vertriebenen erinnert werden. Doch in dem gerade mal 360 Quadratkilometer großen Landstrich fehlte es an allem – an Wohnraum, an Arbeit, an Infrastruktur für mehrere hunderttausend zusätzliche Einwohner. »Die UNO hat sich sehr bemüht und Zeltlager aufgebaut«, sagt Mahmud. Aus den Zelten wurden Hütten und dann feste Häuser, doch man lebte meist von der Hand in den Mund. Zudem litten die Menschen unter den israelischen Vergeltungsaktionen, die durch mehr als 9000 Angriffe auf Israel in der Zeit zwischen 1949 und 1967 provoziert wurden. »Es ist kein Wunder, dass die Moslembruderschaft ein leichtes Spiel hatte«, erinnert sich Mahmud: »Die haben ja da angefangen, wo die UNO aufhörte.«

Die Moslembruderschaft war zu jener Zeit eine islamische Organisation, die in Ägypten soziale Arbeit betrieb. Als während des Sechs-Tage-Krieges die ägyptischen Truppen abzogen und israelische Soldaten kamen, blieb sie und wurde unter dem Einfluss des ägyptisch-israelischen Friedens und der islamischen Revolution in Iran zunehmend politischer. Die Perspektivlosigkeit im Gazastreifen brachte immer mehr Menschen dazu, sich der Religion zuzuwenden. Schließlich entstand Mitte der 80er Jahre die Hamas, die sich die Errichtung eines palästinensischen Staates in den Grenzen des heutigen Israels zum Ziel gesetzt hat – eine Idee, die im Gazastreifen auf offene Ohren stieß. »Die Hamas gab den Leuten wieder Hoffnung«, sagt Mahmud, und sein Sohn fügt hinzu: »Nur leider kann man von Träumen nicht leben; das wird den Leuten erst jetzt bewusst.«

In der Tat sagen in Gaza immer mehr, sie seien unzufrieden mit der Organisation und der Art, wie sie die Dinge regelt. Nostalgisch schwärmt man von der Zeit, als Zehntausende Männer Jobs in Israel hatten, die zwar schlecht bezahlte Schmutzarbeit waren, aber dennoch ein Auskommen sicherten. Offen möchte das allerdings kaum jemand sagen – aus Angst, sich im Fadenkreuz der Kassam-Brigaden wiederzufinden: »Wenn ihr mich fragt, dann würde ich sagen, dass wir auf dem Weg zur Diktatur sind«, erklärt Fahdi.

Es ist heiß, das nahe Mittelmeer macht die Luftfeuchtigkeit nahezu unerträglich. In Jerusalem fordern rechte Politiker wie Avigdor Lieberman, Israel solle einfach Strom und Wasser abstellen, um den Raketenangriffen auf die israelischen Städte in der Nähe des Gazastreifens Einhalt zu gebieten. Nicht auszudenken, was dann passieren würde.

Fahdi hält vor einem Krankenhaus. In der Eingangshalle wartet Dr. Saeb Khalili zwischen Dutzenden von Patienten. Kinder schreien; es riecht nach Desinfektionsmitteln, mit denen jemand vergeblich versucht hat, den Geruch von Schweiß zu überdecken. »Viele sind hier, weil sie die Hitze nicht verkraften«, berichtet Khalili: »Wir behandeln Tag für Tag an die 40 Leute, die kollabiert sind, und dabei hat der Sommer noch nicht einmal angefangen.«

Viele Menschen leiden unter Fehlernährung – nicht, weil es nichts zu essen gäbe, seit Israel die Öffnungszeiten des Grenzüberganges Karni, der für den Güterverkehr mit Israel benutzt wird, verlängert hat, sind die Läden einigermaßen gut gefüllt. »Das Problem ist, dass sich die Waren kaum noch jemand leisten kann«, erläutert Fahdi. »Die meisten sind ja schon seit mehr als einem Jahr nicht mehr bezahlt worden; für viele gibt es von der Bank endgültig keinen Kredit mehr. Also leiht man sich von Familienmitgliedern Geld und isst so viel Pita (ein aus Mehl und Wasser bestehendes Fladenbrot ohne Nährwert) und Reis, wie man kann.«

Dr Khalili ergänzt: »Am besten sind die dran, die einen Angehörigen bei den Brigaden haben. Wenn's Geld gibt, sind sie die ersten, die bezahlt werden.« Denn viele Brigadisten arbeiten im von Präsident Mahmud Abbas kontrollierten Sicherheitsapparat oder gehören der paramilitärischen Truppe an, die die Hamas gebildet hat, als sie noch das Innenministerium leitete. Es sind eben diese Jobs, die die Brigaden für junge Männer so attraktiv machen. »Nicht, dass sie da irgendeine Funktion erfüllen«, sagt Fahdi, »aber wenn ein paar Leute mit Waffen kommen und sich um Jobs bewerben, dann gibt man sie ihnen, es sein denn, man ist lebensmüde.«

Und wieder schlägt eine Rakete ein

Es ist Abend geworden, Zeit, den Gazastreifen zu verlassen, wenn man kann, denn man weiß nie, was in der Nacht geschehen wird. Vielleicht gibt es Feuergefechte, vielleicht israelische Luftschläge. Vielleicht hat jemand ein Auge auf die Ausländer geworfen. »Heutzutage ist alles möglich«, sagt Mahmud, während Fahdi den Wagen vor dem Grenzübergang Eretz anhält, einem klobigen Betonbunker, in dem sich die beste und teuerste Sicherheitstechnologie befindet, die die Welt zu bieten hat. Für beide ist hier Schluss. Nur noch ganz selten erhalten Palästinenser aus dem Gazastreifen die Erlaubnis, nach Israel einzureisen. »Ich würde gerne mal nach Jerusalem«, äußert Fahdi, »da soll es gutes Brot geben.«

Auf der anderen Seite ist ein Krachen zu hören. Nur 300 Meter vom Übergang entfernt, ist eine Rakete eingeschlagen, eine von 17 an diesem Tag. »Ich wünschte, die würden damit aufhören«, ruft der junge Mann, »das Leben hier ist zur Hölle geworden.«

* Aus: Neues Deutschland, 5. Juni 2007


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