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Gazastreifen leidet weiterhin unter israelischer Blockade - Kein Zugang für Journalisten

Bericht, Kommentar und ein Gespräch mit Mustafa Barghouti

Kein Milchpulver für Gaza

Von Rüdiger Göbel *

Israel hält die Blockade gegen die 1,5 Millionen Palästinenser im Gazastreifen weiter aufrecht. Am Montag (1. Dezember) verhinderte die israelische Kriegsmarine das Anlegen eines libyschen Schiffes mit Hilfsgütern in Gaza. Die »Al Marwa« war mit 3000 Tonnen Milchpulver, Lebensmitteln, Medikamenten und Decken beladen und mehrere Seemeilen vor der Küste gestoppt worden. Das berichtete der palästinensische Abgeordnete Dschamal Al-Dschodari, der mit der Besatzung in Funkkontakt stand, internationalen Nachrichtenagenturen. Den Angaben zufolge wurde der Frachter zur Umkehr in seinen Heimathafen Suara gezwungen.

Die große Hilfslieferung war in der vergangenen Woche vom libyschen Außenministerium auf den Weg gebracht worden. Es wäre die erste praktische Unterstützungsaktion für die eingesperrten Palästinenser aus einem arabischen Land gewesen. Seit Sommer haben Aktivisten der internationalen Kampagne »Free Gaza« drei Mal von Zypern aus die Seeblockade durchbrochen und das palästinensische Festland erreicht - allerdings nur mit kleinen Kuttern und geringen Mengen von Medikamenten und anderen Gütern an Bord. Die Boote waren von europäischen und anderen nicht-arabischen Menschenrechtlern in den seit Sommer 2007 abgeriegelten Gazastreifen geschickt worden.

Erst in der vergangenen Woche hatten die Vereinten Nationen Alarm geschlagen und dringend um eine Finanzhilfe von 462 Millionen Dollar für die Palästinenser gebeten. Der Großteil der Gelder solle für Lebensmittel verwendet werden, sagte der örtliche Leiter des UN-Büros für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten, Maywell Gaylard. Bundesaußenminister Frank Walter Steinmeier (SPD) sagte Hilfe zu - in Höhe von gerade einmal einer Million Euro. Filippo Grandi vom UN-Hilfswerk in den palästinensischen Gebieten (UNRWA) gab sich resigniert und kritisierte, seit Jahresbeginn sei »wenig, wenn überhaupt etwas« erreicht worden. Die Hälfte der Bevölkerung in Gaza wird mit Lebensmittelnotrationen des Flüchtlingshilfswerks unterstützt.Allein 20000 Bürger erhalten täglich Essen - sofern es vorhanden ist.

Laut UNRWA-Generalkommissarin Karen Koning Abu Zayd ist die Lage im Gazastreifen »so schlimm wie noch nie«. In dem von Israel abgeriegelten Gebiet drohe Hunger. Inzwischen gebe es keine Nahrungsreserven mehr, und die Menschen fragten, was sie machen sollten. »Sie haben Kranke zu Hause, mehrere Kinder, und keinen Brocken Essen mehr im Schrank.« Dazu kämen Engpässe bei der Versorgung mit Wasser und Strom. Verantwortlich für das Desaster sind auch die Europäische Union und die USA. »Wir fühlen uns ziemlich hilflos und alleingelassen«, so die UN-Kommissarin. Es fehle an internationalem Druck auf die Israelis.

Philip Luther, Leiter der Nahost-Abteilung bei der Menschenrechtsorganisation Amnesty International, fand laut IPS kürzlich deutliche Worte für die radikale Blockadepolitik: »Eine ohnehin schon fürchterliche humanitäre Situation ist nun noch wesentlich schlimmer geworden. Dies ist eine kollektive Strafe für die gesamte Bevölkerung des Gazastreifens. Das muß unbedingt und unverzüglich aufhören.« Am Sonntag forderte Syriens Staatspräsident Baschar Al-Assad Frankreich und die Europäische Union auf, sich bei der israelischen Führung für eine Beendigung der Blockade einzusetzen.

Israel selbst schafft die Katastrophe mit einer einfachen Zensurmaßnahme aus der Welt. Die Besatzungsmacht läßt seit geraumer Zeit keine ausländischen Journalisten mehr ins belagerte Gebiet, die über die Lage dort berichten könnten. Und palästinensischen Pressevertretern wird Parteilichkeit vorgehalten.

* Aus: junge Welt, 2. Dezember 2008


Kollektivstrafen

Von Roland Etzel **

Ein Schiff darf nicht in den Hafen von Gaza einlaufen. Es hat 3000 Tonnen Lebensmittel und Medikamente für die Palästinenser an Bord, aber: Es ist zu groß, sagen die Israelis. Zu groß wofür? Das sagen sie nicht. Sie bestimmen eben, seit die Hamas im Gaza-Streifen an der Macht ist, wer hineindarf und wer nicht. Im Moment dürfen Lebensmittel-Transporte wieder passieren -- aber nur über Israel, so dass sie jederzeit gestoppt werden können. Das ist, so die Regierung, die Strafe dafür, dass Freischärler immer wieder Raketen nach Israel schießen..

Versteht das jeder? Offenbar nicht die ausländischen Journalisten. Trotz der vom Verteidigungsminister begründeten Notwendigkeit einer Kollektivbestrafung zeigten BBC, Niederländisches Fernsehen und andere weiter und öfter Palästinenser, die nach Essenrationen anstehen, als Raketeneinschläge in Israel. Seit fast vier Wochen darf nun gar kein Journalist mehr nach Gaza, als Erziehungsmaßnahme, wie vom Regierungssprecher zu hören war. Auch eine Kollektivstrafe.

Wie richtig er mit seinem Argwohn liegt, offenbart die Tatsache, dass der Auslandspresse-Chef keinerlei Bußfertigkeit zeigte und sich beim Obersten Gericht beschwerte. Dies will nun nächste Woche antworten, ob der Vorwurf berechtigt sei, Israel gehe mit Pressefreiheit um wie Burma oder Nordkorea. Ein schwerer Vorwurf. Bestimmt dürfen Journalisten bald wieder nach Gaza, Schiffe mit Lebensmitteln auch dann sicher nicht.

** Aus: Neues Deutschland, 2. Dezember 2008 (Kommentar)




"Wir haben jetzt zwei illegale Regierungen"

Palästinensischer Abgeordneter plädiert für ein Zusammengehen der zerstrittenen politischen Lager. Ein Gespräch mit Mustafa Barghouti ***

Mustafa Barghouti ist Abgeordneter des palästinensischen Parlaments. Seine Partei, "Al Mubadara", setzt sich für Rechtsstaatlichkeit und demokratische Strukturen in den besetzten palästinensischen Gebieten ein. Unter der Regierung der Nationalen Einheit war Barghouti Informationsminister.
Wir dokumentieren im Folgenden ein Interview, das zuerst in der "jungen Welt" erschien.


Sie sind soeben aus Gaza zurückgekehrt, nachdem Sie an der Fahrt des dritten Free-Gaza-Schiffs teilgenommen haben. Warum sind Sie mitgesegelt?

Barghouti: Als palästinensischer Bürger und als Parlamentarier habe ich die Belagerung durchbrechen wollen. Ich war zuletzt im März 2007 in Gaza, seither verweigert mir Israel die Einreise. Mit den relativ prominenten Mitreisenden an Bord -- einer Friedensnobelpreisträgerin und einem bekannten italienischen Künstler -- ist es gelungen, das Augenmerk der Welt auf die katastrophale Lage in Gaza zu lenken. Wir haben dringend benötigte Medikamente mitgebracht. Ich habe mit Vertretern aller politischen Parteien und Gruppierungen -- vom Islamischen Dschihad bis zur PFLP, selbstverständlich auch mit Fatah und Hamas -- gesprochen. Über alle Differenzen hinweg müssen wir eine gemeinsame Strategie zur Beendigung der Besatzung entwickeln.

Was hat sich im Gazastreifen verändert, seit Sie vor anderthalb Jahren dort waren?

Ich war schockiert. Wir haben Kinder gesehen, die sterben müssen, weil es an Medikamenten fehlt. Dialysepatienten konnten nicht angemessen behandelt werden, weil Ersatzteile für die Apparate nicht über die Grenzen kommen. Das öffentliche Leben ist wegen des Treibstoffmangels weitgehend zum Erliegen gekommen.

Es gibt ein schwerwiegendes Abwasserproblem. Vielfach wird das Abwasser ungeklärt ins Meer geleitet, weil die Systeme verrotten. In einer Ortschaft ist es zur Überflutung und Zerstörung von 96 Häusern durch Abwasser gekommen. In Beit Hannoun traf ich einen Bauern, der seinen Zitrushain fünfmal neu pflanzen mußte, seine Bäume waren immer wieder von der israelischen Armee rausgerissen worden; er hat schließlich aufgegeben. Wohnhäuser werden nach wie vor zerstört. Israel hat auf diese Weise innerhalb des Gazastreifens eine breite Zone vereinnahmt.

Ist ein Zusammengehen der zerstrittenen politischen Lager in Palästina möglich?

Es ist sogar unabdingbar. Deshalb müssen beide Seiten die Verfolgung des politischen Gegners einstellen. Wir haben mit Fatah und Hamas über die Freilassung politischer Gefangener gesprochen, Die Hamas hat die meisten freigelassen, die Fatah hingegen hat in ihrem Herrschaftsgebiet nur noch härter gegen politische Gegner zugeschlagen und weitere verhaftet. Europa finanziert weitgehend den Haushalt der Autonomiebehörde, die 0,7 Prozent für die Landwirtschaft, 0,3 für die Justiz und 0, 1 für die Kultur ausgibt - aber 34 Prozent für die Sicherheit. Für die Dienste also, mit denen sie ihre politischen Gegner verfolgt. Das geschieht mit Ihren Steuergeldern!

Entscheidend ist jetzt, daß wir es wieder schaffen, demokratische Wahlen zu organisieren. Israel ist dagegen, weil wir dann mit einer Stimme unsere Forderungen artikulieren könnten. Als wir uns 2007 auf eine nationale Einheitsregierung geeinigt hatten, wurde diese ebenso boykottiert wie die von der Hamas geführte Regierung zuvor. Wir hatten mit dem Aufbau demokratischer Strukturen begonnen, 13 EU-Staaten waren bereit, die Regierung der Nationalen Einheit anzuerkennen, doch die USA und Israel waren dagegen - da zogen sich die Europäer zurück.

Jetzt haben wir zwei illegale Regierungen, eine, die vom Westen, und eine, die vom Iran unterstützt wird. Keine von ihnen respektiert die Gewaltenteilung, beide verfolgen politisch Andersdenkende, foltern in ihren Gefängnissen und mißachten die Menschenrechte.

Interview: Sophia Deeg

*** Aus: junge Welt, 2. Dezember 2008


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