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Palästinenser leiden unterm "Chaos der Waffen"

Ministerpräsident Kureia ruft für die Zeit des israelischen Abzugs aus dem Gaza-Streifen den Notstand aus

Von Peter Schäfer, Ramallah

Der palästinensische Ministerpräsident Ahmad Kureia rief am Mittwoch den Notstand aus – bis zum Abschluss des israelischen Abzugs aus dem Gaza-Streifen und aus vier Siedlungen im Norden des Westjordanlands.

Die Ausrufung des Notstands folgte auf eine Reihe von Treffen mit Vertretern der wichtigsten palästinensischen Organisationen. Kureia rief die Organisationen, auch die islamistische Hamas, zur Beteiligung an einer Nationalen Einheitsregierung auf. Hassan Jusef von der Hamas-Führung in Ramallah äußerte daraufhin vage: »Ein gemeinsames nationales Komitee unter Einschluss aller nationalen und islamischen Fraktionen, koordiniert mit der Autonomiebehörde, muss gebildet werden, um die Lage im Gaza-Streifen (nach dem Abzug Israels) zu verwalten.« Man müsse sich weiter besprechen. Die Hamas zielt jedoch auf die Schwächung der Palästinensischen Autonomiebehörde und will die Aufwertung der PLO, in der auch Palästinenser im Exil Mitspracherecht haben.

Vorausgegangen war eine Woche innenpolitischer Unruhen. Die palästinensische Polizei verhaftete bereits letzten Freitag zehn Mitglieder einer nicht genannten bewaffneten Gruppe in Dschenin. Sie werden verdächtigt, eine Polizeistation in der nördlichsten Stadt des Westjordanlands überfallen und einen Beamten getötet zu haben. »Präsident Mahmud Abbas hat uns angewiesen, die Mörder festzunehmen«, erklärte Dschenins Polizeichef der Zeitung »Al-Ayyam«.. Deren Informationen zufolge gab Zakaria Subeidi, Anführer der Al-Aksa-Märtyrerbrigaden in Dschenin, sein Einverständnis zur Festnahme. Die Brigaden sind der militante Arm der Fatah-Bewegung.

Damit ist ein erster Wendepunkt in der verfahrenen innenpolitischen Lage der Palästinenser erreicht. Nicht nur bekämpfen sich die verschiedenen Sicherheitsdienste untereinander. Auch die Autonomiebehörde selbst sieht sich Angriffen bewaffneter Gruppen ausgesetzt. Diese Gruppen entstammen mehrheitlich der Fatah, die auch die Regierung stellt. Die Milizen fordern die Legalisierung ihrer von Israel gesuchten Mitglieder. Viele wollen in die Sicherheitsdienste aufgenommen werden, andere ihre Waffen – deren Zahl unkontrolliert groß ist – nicht abgeben. Die Palästinenser selbst sprechen von einem »Chaos der Waffen«. Angesichts der sich häufenden Schießereien sah sich Ministerpräsident Kureia am 15. Juni veranlasst, die Entlassung seiner Regierung zu fordern, sollte sie nicht Herr der Lage werden.

Panik brach beispielsweise aus, als am 12. Juni im Stadtzentrum Ramallahs Schüsse fielen. Männer in Zivil eröffneten das Feuer, Passanten flüchteten in Läden und Seitenstraßen. »Das sind Israelis in Zivil«, meinte ein Mann, der offenbar ein verdecktes Festnahmekommando vermutete. »Würde mich nicht wundern, wenn das unsere eigenen Leute wären«, warf ein anderer ein. Dann griffen uniformierte Polizeikräfte ein. Bilanz: Zwei der Männer in Zivil wurden angeschossen.

Erst später sollte sich herausstellen, dass Vertreter zweier Familien versuchten, ihren Streit mit Waffengewalt zu lösen. So jedenfalls lautet die offizielle Version des palästinensischen Innenministeriums. Später erklärte eine Menschenrechtsorganisation, dass sich zwei Gruppen der Al-Aksa-Märtyrerbrigaden bekämpft hätten.

Vorstellbar wäre aber durchaus auch, dass Mitglieder der Sicherheitskräfte, in Zivil, selbst unter den sich beschießenden Gruppen waren. So geschehen, als eine Frau, deren Kind sich in der Spielabteilung eines Einkaufszentrums in Ramallah vergnügte, danach ihre Rechnung nicht bezahlte und darüber in einen Streit mit einem Angestellten geriet. Sie telefonierte nach einem Verwandten bei der Polizei. Der kam, schoss in die Luft und löste eine Massenpanik aus. Hinzugeeilte Sicherheitskräfte beruhigten die Situation nicht, sondern eröffneten selbst das Feuer. Das sind keine Einzelfälle.

Im Normalfall richtet sich das »Chaos der Waffen« aber gegen die politische Ordnung oder deren Vertreter. Die Verteilung einflussreicher politischer Posten beruht auf einem Günstlingssystem. Familienzugehörigkeit und Loyalität machen sich bezahlt, fachliches Wissen und Leitungsqualitäten sind oft zweitrangig. Politische Konflikte und Clan-Streitigkeiten lassen sich auch nicht immer voneinander trennen. So verhaftete die Polizei in Gaza am 9. Juni das Mitglied eines Volkswiderstandskomitees. Später beschossen dessen Mitstreiter und Mitglieder seiner Familie ein Polizeigebäude und forderten seine Freilassung.

Allein im Gaza-Streifen fielen in der zweiten Juniwoche nach Angaben einer Menschenrechtsorganisation insgesamt sieben Palästinenser internen Auseinandersetzungen zum Opfer. Mindestens 20 Menschen wurden verletzt. Polizisten selbst gehen bisher kaum gegen militante Gruppen vor, aus Angst vor Repressalien gegen sich selbst oder ihre Familien. Wenn es die Beamten in Dschenin nun schaffen, sich durchzusetzen und ihre eigenen Reihen besser zu kontrollieren, kann die palästinensische Bevölkerung vielleicht auch in anderen Städten bald wieder aufatmen.

* Aus: Neues Deutschland, 1. Juli 2005


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