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100 Tote und eine humanitäre Katastrophe

Die Zustände erinnern an den israelischen Sommerkrieg 2006 - Weltweite Kritik - UN-Generalsekretär verurteilt "disproportionalen und exzessiven Gebrauch von Gewalt" durch Israel

Israel setzt Gaza unter Feuer

Neue Militäroffensive fordert 70 Todesopfer / Palästinenser sagen Friedensgespräche ab *

Israel will seinen Militäreinsatz im Gazastreifen trotz aller internationalen Aufrufe zu einem Gewaltverzicht weiter fortsetzen. Auch militante Palästinenser beschossen am Sonntag (2. März) wieder israelische Grenzstädte mit Raketen und Mörsergranaten. Zuvor hatte der UN-Sicherheitsrat in New York die Konfliktparteien vergeblich aufgefordert, die Kämpfe zu beenden.

Gaza/New York (ND/Agenturen). Die israelische Armee hat während der am Sonnabend begonnenen Militäroperation »Heißer Winter« mindestens 70 Palästinenser getötet. Auch zwei israelische Soldaten kamen ums Leben. Zu den Opfern gehören palästinensischen Angaben zufolge 16 Kinder und Jugendliche. Dies waren die höchsten Opferzahlen an einem Wochenende seit dem Sechstagekrieg von 1967. Zugleich wurden wieder zahlreiche Raketen aus dem Palästinensergebiet auf Israel abgefeuert. Zur Versorgung der über 160 Verwundeten öffnete Ägypten erstmals wieder seinen Grenzübergang zum Gazastreifen in Rafah.

UN-Generalsekretär Ban Ki Moon kritisierte die Eskalation der Gewalt aufs Schärfste. »Wir verurteilen die palästinensischen Raketenangriffe und verlangen die unverzügliche Einstellung dieser terroristischen Handlungen«, sagte er am Sonnabend vor dem UN-Sicherheitsrat, der in New York zu einer Dringlichkeitssitzung zusammengetreten war. Jedoch verurteile er, auch wenn er Israels Recht zur Selbstverteidigung anerkenne, die »unverhältnismäßig überzogene Gewaltanwendung«, die so viele Zivilisten getötet habe.

Die slowenische EU-Ratspräsidentschaft missbilligte ebenso die »unverhältnismäßige« Offensive der israelischen Armee und forderte zugleich die Palästinenser zum Stopp ihrer Raketenangriffe auf. EU-Chefdiplomat Javier Solana wollte am Sonntag einen Besuch in der Region beginnen. Deutschlands Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) rief beide Seiten zum Gewaltverzicht auf.

Der israelische Ministerpräsident Ehud Olmert wies am Sonntag in Jerusalem alle Kritik zurück. »Niemand hat das Recht, Israel Moral zu predigen, weil es grundlegende Maßnahmen zur Verteidigung von hunderttausenden Bürgern ergreift«, sagte Olmert während einer Kabinettssitzung.

Die Palästinenserführung sagte angesichts der Opferzahlen die nächste Runde der Friedensverhandlungen ab. Außerdem rief die im Gazastreifen regierende Hamas zur Bildung einer palästinensischen Notstandsregierung der nationalen Einheit auf.

Israel hatte am Mittwoch eine erste Offensive gestartet, nachdem bei Raketenbeschuss aus dem Gazastreifen in der nordisraelischen Stadt Sderot ein israelischer Zivilist getötet worden war. Seither töteten israelische Soldaten mindestens hundert Palästinenser, darunter zahlreiche Kinder und andere Zivilisten. Israel flog am Sonntag nach Angaben einer Armeesprecherin acht Luftangriffe auf den Gazastreifen. Dabei wurde auch der Amtssitz des Hamas-Führers und früheren Ministerpräsidenten Ismail Hanija schwer beschädigt.

* Aus: Neues Deutschland, 3. März 2008


Über 100 Opfer bei Eskalation in Gaza

Israel setzt Luftoffensive als Reaktion gegen Raketenbeschuss fort / Dritte Intifada befürchtet

Von Oliver Eberhardt, Jerusalem *


Mehr als 100 Tote und unzählige Verletzte: Das ist die vorläufige Bilanz der israelischen Militäroperationen im Gazastreifen - und ein Ende ist nicht in Sicht: Mitte der Woche will das Kabinett über weitere Schritte beraten. Eine Bodenoffensive steht bevor.

Dies ist die Eskalation: Nahezu täglich greift Israels Luftwaffe Ziele im Gazastreifen an; in der Nacht zum Sonntag (2. März) war es das Hauptquartier des ehemaligen palästinensischen Regierungschefs Ismail Hanija von der Hamas gewesen. Nahezu stündlich rächen sich Kämpfer der radikalislamischen Organisation, die den dicht bevölkerten Landstrich regiert, indem sie Raketen auf die israelischen Städte in der Nähe, aber auch auf die Großstadt Aschkelon abfeuern: Am Freitag (28. Feb.) schlugen allein in und um Sderot, die dem Gazastreifen am Nächsten gelegene israelische Kommune, 70 Kassam-Raketen ein.

Die Kritik an »Heißer Winter«, wie das Militär die Operation getauft hat, ist heftig: Europäische Union und Vereinte Nationen verurteilten das Vorgehen, nannten es »unproportional« und »übertrieben«. Und dennoch: Die Luftschläge sollen weitergehen, und das mindestens bis Mitte der Woche, wenn das Kabinett um Premierminister Ehud Olmert über eine Bodenoffensive beraten wird. Israel habe das Recht, sich selbst zu verteidigen, sagte Olmert am Sonntag (2. März) israelischen Journalisten, und versuchte damit wohl auch, auf die auch in Israels Medien zunehmende Zurückhaltung zu antworten: Mit Verweis auf den vor einem Monat vorgestellten Untersuchungsbericht zum Libanon-Krieg vor eineinhalb Jahren, in dem Regierung und Militär schwere strategische Fehler bescheinigt werden, wollen die Reporter wissen, was denn dieses Mal das Ziel der Operation sein soll.

Sicher ist: Bis jetzt haben die Luftschläge die Hauptforderung nicht erfüllt, mit der sich Regierung und Militär seit Monaten konfrontiert sehen - die Raketenangriffe auf die Städte in der Nähe zum Gazastreifen sind nicht weniger geworden, sondern haben zugenommen; viele Kommentatoren befürchten, dass das, was das Militär im Moment noch »kontrollierte Eskalation« nennt, in Wirklichkeit schon längst außer Kontrolle geraten sein könnte - mit möglicherweise schwer wiegenden Folgen.

Es besteht die Befürchtung, dass Hamas und der Islamische Dschihad den Durchbruch der Grenze nach Ägypten dazu genutzt haben, um ihre Munitionslager aufzufrischen. Der massive Raketenbeschuss könnte also von Dauer sein. Zudem haben die Härte und Rücksichtslosigkeit gegenüber Zivilisten, mit der die Luftwaffe gegen Gaza vorgeht, den Anlass für erste Demonstration im Westjordanland gegeben; am Sonntag gab es erste Zusammenstöße zwischen der israelischen und der palästinensischen Grenzpolizei.

»Bereitet Euch auf die dritte Intifada vor«, forderte Zwi Bar'el, Palästina-Experte der Zeitung Haaretz: Auch wenn sich Präsident Mahmud Abbas, abgesehen von einigen kritischen Worten, von der Lage in Gaza weitgehend unbeeindruckt zeige, und auch wenn das Leben im Westjordanland äußerlich weitgehend normal verlaufe, solle man sich nicht täuschen lassen: »In dem Moment, in dem der Krieg im Gazastreifen beginnt, wird dieser Krieg nicht als Krieg gegen die Hamas, sondern als Krieg gegen die ärmeren Teile des palästinensischen Volkes gesehen werden, als Krieg, der das Westjordanland nicht gleichgültig lassen wird. Die Eröffnung einer zweiten Front im Osten sollte dann keine Überraschung mehr sein.«

* Aus: Neues Deutschland, 3. März 2008



Secretary-General Ban Ki-moon
Security Council
01 March 2008

Statement to the Security Council on the situation in the Middle East

Since last Wednesday (27 feb. 2008, there has been a deeply alarming escalation of violence in Gaza and southern Israel, and a terrible civilian death toll. The scenes from Gaza today have been particularly disturbing.

Some 117 rockets have been fired from Gaza at southern Israel, including 26 rockets today. These rockets have been fired at several civilian centres and have extended as far north as the Israeli city of Ashkelon. According to press reports and Israeli Government sources, the rockets fired at Ashkelon are not home-made Qassams, but rather are rockets of advanced Katyusha-like design, allegedly smuggled into Gaza when the border with Egypt was breached. One Israeli civilian has been killed in Sederot and five civilians were reported injured in Ashkelon today, including women and children.

During this same period, the Israel Defense Forces (IDF) has undertaken attacks from the air and by land on targets in the Gaza Strip. An estimated 90 Palestinians have been killed, among them many civilians, and injuries are in the hundreds. According to United Nations estimates, 59 Palestinians have been killed today, including 39 civilians, among them three women and five minors, including an infant. Let me stress that there are many conflicting reports on the numbers of casualties, and these figures are not confirmed. Additionally, there has been heavy property damage.

Israeli land incursions are taking place near Jabalya and the northern Gaza Strip. Two Israeli soldiers are reported to have been killed in the fighting. The IDF reports that it destroyed a truck carrying 160 rockets.

United Nations sources report at least four incidents of Israeli fire against ambulances and medical personnel. The Palestinian Ministry of Health has issued a call for diesel, in order to operate its ambulances. All United Nations Relief and Works Agency for Palestine Refugees in the Near East (UNRWA) schools have been closed, and many families are trapped inside their houses by the violence, unable to obtain medical aid or reach safety. I call on Israel to facilitate full access to hospitals and medical centres for the injured.

At the outset of this escalation, I have made clear publicly my deep concern, and I have been diplomatically engaged to press for a calming of the violence. I have spoken today to Palestinian President Abbas, Israeli Foreign Minister Livni and League of Arab States Secretary-General Moussa. United Nations agencies on the ground, especially UNRWA, are continuing their efforts to assist people in grave distress.

In light of these deeply disturbing developments, I would like to make the following clear:

I condemn Palestinian rocket attacks and call for the immediate cessation of such acts of terrorism, which serve no purpose, endanger Israeli civilians and bring misery to the Palestinian people. I call for an end to these attacks.

While recognizing Israel’s right to defend itself, I condemn the disproportionate and excessive use of force that has killed and injured so many civilians, including children. I call on Israel to cease such attacks. Israel must fully comply with international humanitarian law and exercise the utmost restraint. Incidents in which civilians have been killed or injured must be investigated and accountability must be ensured.

I am deeply concerned at the possibility of the violence escalating. I have offered our strong support for all efforts to bring about an end to the violence and a period of calm. I call on all parties to step back from the brink of even deeper and more deadly clashes.

I am also extremely concerned at the impact of these developments on the negotiation process. I call on all members of the international community, important stakeholders and Security Council members to exercise their influence on the parties to stop the violence and to allow humanitarian relief. All parties should rededicate their commitment to the peace process.

Quelle: Website der UNO; www.un.org



"Alles möglich"

Israel setzt Angriffe in Gaza fort **

Israel hat in der Nacht zum Montag (3. März) seinen Militäreinsatz »Heißer Winter« gegen die Palästinenser im Gazastreifen fortgesetzt. Nach palästinensischen Angaben wurden dabei fünf Mitglieder der Hamas getötet. Ein Geschoß schlug in der Nähe des Büros von Ministerpräsident Ismail Hanija ein, der sich jedoch nicht in der Region aufhielt. Die israelischen Besatzungstruppen behaupteten, sie hätten Waffenlager und Werkstätten angegriffen. Kämpfer der Hamas feuerten unterdessen erneut mehrere selbstgebaute Raketen auf Südisrael, verletzt wurde niemand.

Die westlichen Nachrichtenagenturen übernahmen die Sprachregelung der israelischen Armee. Den Rückzug der Bodentruppen aus Gaza erklärten sie zur Beendigung der Militäroffensive. Gleichzeitig kündigte Ministerpräsident Ehud Olmert die Fortsetzung der Attacken an. »Wir sind noch immer mitten im Kampf«, sagte der israelische Regierungschef am Montag vor Abgeordneten in Jerusalem. Die Offensive der vergangenen Tage sei »kein punktueller Schlag« gewesen. Im Vorgehen der israelischen Streitkräfte gegen die Hamas sei von Luftangriffen über den Einmarsch von Bodentruppen bis hin zu Kommandoeinsätzen »alles möglich«. Ziel des militärischen Vorgehens gegen die Hamas sei es zum einen, die Raketenangriffe auf israelisches Gebiet aus dem Gazastreifen »radikal zu reduzieren«, zum anderen solle die dortige Hamas-Führung derart geschwächt werden, daß sie den Gazastreifen nicht mehr länger kontrollieren könne.

Der israelische Verteidigungsminister Ehud Barak sagte, eine großangelegte Invasion sei noch immer möglich. Israel werde möglicherweise versuchen, die Hamas zu stürzen. »Wir werden Gewalt anwenden, um die Situation zu verändern«, sagte Barak nach Angaben seines Büros bei einem Treffen mit Offizieren.

Insgesamt wurden bei den Militärangriffen seit vergangenem Mittwoch (27. Feb.) mindestens 117 Palästinenser – die meisten von ihnen Zivilisten – von israelischen Soldaten getötet. Hunderte Palästinenser sind infolge der Zerstörungen obdachlos. Ein Bewohner der israelischen Stadt Sderot war bei einem Raketenbeschuß getötet worden, zwei Soldaten kamen bei den Kämpfen ums Leben.

Im Westjordanland wurde am Montag ein 15jähriger Junge von einem israelischen Siedler mit einem Kopfschuß getötet, wie Sanitäter berichteten. Er hatte mit anderen Kindern Steine auf eine illegale israelische Siedlung bei Ramallah geworfen. Auch israelische Soldaten eröffneten daraufhin das Feuer.

** Aus: junge Welt, 4. März 2008


Hilferuf für Gaza

Schluß mit den israelischen Angriffen – Protestaktion am Montag (3. März)

Von Rüdiger Göbel ***


Internationale Hilfsorganisationen und Menschenrechtsgruppen schlagen Alarm. Die Lebensbedingungen im Gazastreifen sind so schlecht wie noch nie unter der seit 40 Jahren andauernden Beherrschung durch Israel. »Die Situation der 1,5 Millionen Palästinenser ist die schlimmste seit Beginn der israelischen Besetzung 1967«, beklagen acht Nichtregierungsorganisationen in einem am Donnerstag (28. Februar) veröffentlichten Bericht. Er wurde unter anderem von Oxfam, Save the ­Children, Care International und Christian Aid sowie dem britischen Zweig von Amnesty International verfaßt. 80 Prozent der Gaza-Bewohner seien von Nahrungsmittelhilfen abhängig, die Arbeitslosigkeit liege bei 40 Prozent, klagen die Organisationen.

Die Blockade durch Israel trifft die gesamte Bevölkerung Gazas, heißt es in dem 16 Seiten umfassenden Hilferuf »Gaza Strip: A Humanitarian Implosion«. Die Abriegelung habe zu gravierenden Engpässen bei Lebensmitteln, Medikamenten und Energie geführt. Selbst Krankenhäuser hätten oft bis zu zwölf Stunden keinen Strom. Patienten könnten nicht mehr adäquat betreut werden. Täglich müßten rund 50 Millionen Tonnen Abwasser ungeklärt ins Mittelmeer geleitet werden. »Die gesamte Infrastruktur steht vor dem Zusammenbruch – ob es nun Wasser, Sanitäranlagen oder auch nur ärztliche Versorgung ist«, zitierte die Nachrichtenagentur Reuters den Leiter der UN-Hilfsmission für die Palästinenser, John Ging. Ein weiterer israelischer Militärvorstoß gegen Gaza wäre »verheerend«.

Politisch unkorrekt schlußfolgern die Hilfsorganisationen: »Die internationale Politik der Isolierung der Hamas hat nichts Positives gebracht«. Sie sei »inakzeptabel, illegal und bringt weder den Israelis noch den Palästinensern Sicherheit«. Amnesty, Oxfam und die anderen Unterzeichner fordern die Europäische Union auf, endlich auch mit Hamas-Vertretern ins Gespräch zu kommen. Israel müsse die Blockade des Gazastreifens beenden. Nach internationalem Recht ist die Besatzungsmacht für die Lage in den von ihr okkupierten Gebieten verantwortlich. Die israelische Regierung wies die Kritik der internationalen Hilfsorganisationen am Donnerstag allerdings pauschal zurück und schob die Schuld für das Desaster auf die Hamas.

Beobachter rechnen mit neuerlichen massiven israelischen Angriffen auf die Palästinenser im Gazastreifen. Am Donnerstag wurden bei einer Kommandoaktion gegen einen israelischen Stützpunkt am Rande des Gazastreifens ein Besatzungssoldat getötet und drei weitere verletzt, einer von ihnen schwer. Die palästinensische Gruppe Islamischer Dschihad übernahm die Veranwortung. Es handele sich um eine Vergeltungsaktion für einen israelischen Militäreinsatz vom Dienstag, bei dem ein Anführer der Organisation und ein Baby ums Leben gekommen seien. Bei der in der vergangenen Woche gestarteten Militäroffensive »Heißer Winter« waren mehr als 120 Palästinenser von israelischen Soldaten getötet worden.

Laut AP kamen nach dem palästinensischen Coup ranghohe Offiziere der israelischen Besatzungstruppen zu einer Krisensitzung zusammen, um »Vergeltungsschläge« zu beraten. Das Verteidigungsministerium kündigte zudem an, die – illegalen – Siedlungskomplexe im Westjordanland ausbauen zu wollen. Ägypten begann unterdessen mit dem Bau einer Mauer entlang seiner Grenze zum Gazastreifen.

*** Aus: junge Welt, 4. März 2008


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