Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Ausbruch aus dem Gazastreifen: Dramatische Zuspitzung der Lage

USA verhindern Resolution im UN-Sicherheitsrat - UN-Menschenrechtsrat verurteil Israel - Berichte und Dokumente

Parallel zu den wieder angelaufenen israelisch-palästinensischen Friedensverhandlungen eskalierten die Gewaltübergriffe Israels auf den Gazastreifen und die Raketenangriffe von Hamas auf israelisches Territorium. Die israelische Regierung verstärkte die Abriegelung des Gazastreifens, sperrte die Zufuhr lebenswichtiger Energielieferungen und hungerte die Bevölkerung im Gazastreifen regelrecht aus. Die dadurch herauf beschworene humanitäre Katastrophe rief den UN-Sicherheitsrat (eine Verurteilung Israels scheiterte aber wie üblich am Veto der USA) und den UN-Menschenrechtsrat auf den Plan. Letzterer tagte in einer Sondersitzung am 23. und 24. Januar in Genf und verabschiedete eine Resolution. Am 23. Januar nahm die Bevölkerung das Heft selbst in die Hand und überrannte zu Hunderttausenden die Grenze zu Ägypten.
Im Folgenden dokumentieren wir eine Reihe aktueller Beiträge, darunter eine Presseerklärung über die Sitzung des UN-Menschenrechtsrats (englisch). Die verabschiedete Resolution haben wir hier dokumentiert: "Human rights violations emanating from Israeli military attacks ...".



Die letzten Meldungen

Am zweiten Tag in Folge haben erneut hunderttausende Palästinenser aus dem Gazastreifen die Grenze nach Ägypten überquert. Schon in der Nacht seien tausende Menschen in die ägyptischen Städte Rafah und El Aritsch gependelt, um dort Lebensmittel und andere Güter zu kaufen, berichteten Augenzeugen. Der israelische Verteidigungsminister Ehud Barak forderte Kairo auf, die Situation unter Kontrolle zu bringen.
In Rafah seien viele Geschäfte bereits leergekauft, berichteten Augenzeugen. In El Aritsch stockten die Händler ihre Vorräte auf. Die Palästinenser hätten vor allem Interesse an Zigaretten, Zement und Elektrogeräten. Auch führten Palästinensische Händler Waren im Gazastreifen ein, um sie mit Aufschlägen zu verkaufen.
Nach Angaben des UN-Hilfswerks für palästinensische Flüchtlinge (UNRWA) pendelten seit Mittwoch (23. Jan.) mindestens 700.000 Palästinenser nach Ägypten. Am Mittwoch waren es demnach 400.000, am Donnerstag (24. Jan.) rund 300.000. Das UNRWA forderte die Golfstaaten auf, 9,8 Millionen Dollar (6,7 Millionen Euro) für Hilfslieferungen an die Bevölkerung im Gazastreifen bereit zu stellen. 57 Prozent der Bevölkerung müssten als arm gelten, 34 Prozent litten unter Lebensmittelknappheit, sagte ein UN-Vertreter.
Quelle: AFP, 24. Januar 2008

Einen Tag nach dem Ansturm hunderttausender Palästinenser auf die ägyptische Sinai-Halbinsel hat Israel damit gedroht, alle Verbindungen zum Gaza-Streifen zu kappen. Nach Öffnung der Grenze zu Ägypten sei Israel nicht mehr für das Palästinensergebiet am Mittelmeer zuständig.
Das erklärte der israelische Vize-Verteidigungsminister Matan Vilnai. "Wir wollen ihnen keine Elektrizität mehr liefern und auch kein Wasser und keine Medikamente". Dies müsse "von anderer Seite" übernommen werden.
Quelle: AP, 24. Januar 2008



Gaza befreit sich selbst

Zehntausende Palästinenser stürmen in Rafah Grenzanlagen zu Ägypten. USA verhindern im UN-Sicherheitsrat Verurteilung der israelischen Blockadepolitik

Von Karin Leukefeld *

Mit wehenden grünen Fahnen der Hamas trotzten am Dienstag (22. Januar) Hunderte aufgebrachte Einwohner des Gazastreifens in eisiger Kälte den Wasserwerfern wie den Schüssen ägyptischer Grenzsoldaten. Die Demonstranten, unter ihnen viele Frauen, forderten am südlichen Grenzübergang Rafah die Öffnung der Grenze, um dringend benötigte Lebensmittel, Medikamente und Benzin einkaufen zu können. Als kein Entgegenkommen signalisiert wurde, griffen »palästinensische Kämpfer«, wie es in einer Hamas-Erklärung hieß, am frühen Mittwoch morgen zu anderen Mitteln. Mit Sprengsätzen zerstörten sie Teile der Grenzmauer. Die entstandenen Öffnungen wurden durch Bulldozer erweitert, so daß Zehntausende Demonstranten hindurch gelangten. Amr El-Khaky, Korrespondent des Nachrichtensenders Al Dschasira in Ägypten, berichtete, die ägyptischen Grenzsoldaten hätten daraufhin nicht mehr geschossen. Viele Palästinenser hätten sich bei den Soldaten dafür bedankt. Hamas-Vertreter hätten die Bevölkerung instruiert, die ägyptischen Soldaten zu respektieren, einzukaufen, was sie bräuchten und dann nach Gaza zurückzukehren, berichtete El-Khaky weiter.

Appell an alle Araber

Die Palästinenser kamen zu Fuß, mit Autos oder Eselskarren, um in Rafah einzukaufen. Die meisten hatten Kanister bei sich, um Benzin und Kerosin für Generatoren und Kochgeräte zu kaufen. Die erfolgreiche Aktion sei ein »Appell an alle Araber«, erklärte Um Ahmad, eine palästinensische Demonstrantin, dem Team von Al Dschasira. »«Sie sollten uns helfen, die Blockade aufzuheben, sie sollten an unserer Seite sein, nicht gegen uns.« Bei einer Konferenz palästinensischer Organisationen in Damaskus forderte auch der im syrischen Exil lebende Hamas-Vorsitzende Chaled Meschaal die »Aufhebung der Blockade«. Sie sei »eine Tragödie, ein unmoralisches Verbrechen« und müsse von den Palästinensern weiter mit »Volkszorn gegen die Zionisten und die Amerikaner« beantwortet werden. Israel äußerte sich wie gewohnt besorgt um die eigene Sicherheit und erklärte, Ägypten sei verantwortlich, sollten in dem allgemeinen Chaos der Grenzöffnung bewaffnete Kämpfer und Waffen in den Gazastreifen gelangt sein.

US-Veto für Israel

Fast zeitgleich mit der Demonstration am Dienstag (22. Januar) hatte der US-Botschafter bei den Vereinten Nationen, Zalmay Khalilzad, eine von Libyen eingebrachte Resolution zur Verurteilung der israelischen Blockadepolitik gegenüber Gaza per Veto verhindert. Libyen hält derzeit den Vorsitz im UN-Sicherheitsrat. Die Erklärung sei »unakzeptabel«, hatte Khalilzad argumentiert, weil darin die »Raketenangriffe gegen unschuldige Israelis« nicht vorkämen. Riad Mansour, Vertreter der Palästinenser bei den Vereinten Nationen mit Beobachterstatus, bezeichnete die israelische Politik als »äußerst riskant«. Sie führe zu einer »humanitären Katastrophe im Gazastreifen, steigert Ängste und Spannungen, hetzt auf, provoziert und schürt den Teufelskreis der Gewalt«. Gilda Cohen, der israelische UN-Botschafter, erklärte hingegen, es sei die Pflicht jedes Staates, »das Leben und die Sicherheit seiner Bürger zu schützen, besonders vor brutaler Gewalt und Terrorismus«.

Die Angriffe auf Südisrael mit selbstgebauten Raketen aus dem Gazastreifen haben seit April 2006 -- dem Beginn der internationalen Isolierungspolitik gegen die Hamas-Regierung und die Bevölkerung -- zugenommen. Ziel ist vor allem die Stadt Sderot. Etwa zehn Prozent der 23.000 Einwohner haben den Ort inzwischen verlassen. Die als Khassam-Raketen bekannten Geschosse verursachen vor allem psychologischen Streß und Angst, sie fliegen bis zu zehn Kilometer weit und können nicht gesteuert werden. Seit 2005 wurden zehn Israelis durch Raketen getötet. Bei israelischen »Vergeltungsmaßnahmen« starben im gleichen Zeitraum 700 Palästinenser.

In der libanesischen Tageszeitung The Daily Star verglich der Kommentator Rami Khoury den Widerstand der »Leute aus Gaza« mit dem der »Juden in babylonischer Gefangenschaft« und dem der Afroamerikaner in den USA der 1950er Jahre. »Unterdrückte Völker können nicht für immer unterdrückt bleiben«, zitierte Khoury aus den Gefängnisbriefen Martin Luther Kings (Birmingham, April 1963). »Die Sehnsucht nach Freiheit wird eines Tages Gestalt annehmen.«

* Aus: junge Welt, 24. Januar 2008



UNITED NATIONS
Press Release

HUMAN RIGHTS COUNCIL OPENS SPECIAL SESSION ON VIOLATIONS STEMMING FROM ISRAELI INCURSIONS IN OCCUPIED PALESTINIAN TERRITORY

Human Rights Council
23 January 2008

High Commissioner for Human Rights Calls for an End to Restrictions on Aid and Essential Supplies to Gaza;
Underscores International Community's Responsibility to Protect


The Human Rights Council today opened its sixth Special Session on "human rights violations emanating from Israeli military incursions in the Occupied Palestinian Territory, including the recent ones in occupied Gaza and the West Bank town of Nablus", hearing United Nations High Commissioner for Human Rights Louise Arbour express her concern over the escalating violence in the occupied Palestinian territories, which added to the already critical situation in the Gaza Strip, where 1.4 million people were living under the most abhorrent conditions.

Ms. Arbour said that in December 2007, 58 Palestinians in Gaza had reportedly been killed due to the conflict, making December the month with the highest Gaza Strip death toll in 2007. Israeli military operations continued also in the West Bank and in particular in the city of Nablus. The Israeli practice of collective punishment, disproportionate use of force, and targeted killings continued, as did the Palestinian militants' practice of indiscriminate firing of mortars and rockets into Israel. The escalating violence had added to the already critical situation in the Gaza Strip, where all legitimate trade with Gaza had come virtually to a halt. The level of desperation became even more starkly apparent this morning when thousands of Palestinians poured out of Gaza into Egypt rushing to buy food, fuel, medicines and other supplies that had become scarce in Gaza. On Sunday, 20 January, Gaza's main power plant shut down.

The High Commissioner exhorted Israel to completely lift all restrictions to the free flow of desperately needed aid and essential supplies to Gaza. While States had the primary responsibility to protect all persons under their jurisdiction from war crimes, crimes against humanity, genocide and ethnic cleansing, the international community shared the responsibility to protect civilians, in particular where the authorities concerned were unable or unwilling to do so.

Palestine, speaking as a concerned country, said the current occupation, siege and raids into Gaza represented war crimes. The perpetrators should be brought to international justice. Israel's impunity marked a discourse in international law granting it the most favoured nation status, which exempted it from accountability before international law. The international community should intervene and put an end to the Israeli occupation and the suffering of the people.

In the general debate, delegations deplored the dire humanitarian situation in the Gaza Strip, and called for an immediate end to Israel's disproportionate use of military force, as well as the lifting of the siege of Gaza. Speakers agreed that they had to address a clear message to Israel; the impunity which it enjoyed encouraged Israel to pursue its violations. A speaker said it was deeply frustrating that those incidents had occurred at a time when new political initiatives, both in the European Union and in the United States, were taking place to revive the stalled peace process. Many concurred that such actions undermined the process, while others felt it belied Israel's real aim to deliberately abort all Arab and international peace efforts. A number of speakers expressed concern about indiscriminate attacks that harmed civilians on both sides. A partial approach to the current situation, without a call for moderation to all parties involved in the hostilities, could jeopardize the legitimacy of the Council, as well as the efficacy of any decision taken on the issue, a speaker warned. All speakers, however, agreed in calling on Israel to guarantee free access of humanitarian services and supplies to Gaza.

Speaking in the general debate were representatives of Syria (on behalf of the Group of Arab States and the Organization of the Islamic Conference), Egypt (on behalf of the African Group), Cuba (on behalf of the Non-Aligned Movement), Slovenia (on behalf of the European Union), Indonesia, Egypt, India, Saudi Arabia, Malaysia, Zambia, China, Jordan, Nicaragua, the Russian Federation, Pakistan, Bangladesh, Senegal, Nigeria, Sri Lanka, Brazil, Qatar, South Africa, Switzerland, Bolivia, Canada and Angola.

This sixth Special Session is being held at the request of the Group of Arab States and the Group of the Organization of Islamic Conference.

The Council will resume its Special Session at 10 a.m. on Thursday, 24 January, when it will continue the debate and take action on a related draft resolution before closing the session.

UN - Human Rights Council, Press release, 23.01.2008

Der UN-Menschenrechtsrat hat Israel für die Abriegelung des Gazastreifens in einer Resolution verurteilt. In der in Genf am 24. Januar 2008 verabschiedeten Entschließung wird Israel aufgefordert, die Blockade des Gebietes aufzuheben und die militärischen Vorstöße in den Gazastreifen zu beenden. Der Text wurde mit 30 Stimmen bei 15 Enthaltungen und einer Gegenstimme angenommen. Sämtliche EU-Staaten enthielten sich der Stimme, weil sie die Resolution für einseitig hielten. Sie erwähne nicht den palästinensischen Raketenbeschuss vom Gazastreifen aus auf Ziele in Israel.
Die Resolution mit der Nummer A/HRC/S-6/L.1 haben wir hier dokumentiert (pdf-Datei, englisch)




"Wir haben unsere Freiheit nach außen und innen verloren"

Die Lage im Gaza-Streifen ist dramatisch. Der Unmut über die Hamas wird jedoch nicht in Liebe zur Fatah oder zu Israel umschlagen

Von Oliver Eberhardt, Jerusalem **

Explosion an der Grenze: Nachdem Hamas-Kämpfer in der Nacht zum Mittwoch (23. Januar) die Grenzbefestigung zwischen dem Gaza-Streifen und Ägypten gesprengt haben, sind 350 000 Palästinenser ins Nachbarland geströmt -- auf der Flucht vor einer katastrophalen humanitären Lage.

Mit bloßen Händen trägt er sie zur Tür herein, hinein ins gleißende Licht der Fernsehscheinwerfer, während ein Arzt hinzu eilt, um das apathisch in den Armen ihres Vaters liegende neunjährige Mädchen zu versorgen. »Vermutlich Dehydrierung«, diagnostiziert der Arzt mit einem fachkundigen Blick und schaut zum Vater: »Geben Sie ihr Wasser, so viel Sie können, und etwas Salz. Wir müssen unsere Infusionen für die wirklich schweren Fälle aufheben.« Dann dreht der namenlose Mediziner das Gesicht in die Kameras, und für einen Moment scheint es, als würde hier, am Samstagabend, eine neue Folge einer Ärzte-Serie gedreht.

Doch dies ist keine erfundene Klinik irgendwo in Leipzig oder Chicago, sondern das Schifa-Krankenhaus in Gaza-Stadt. Aber was Wahrheit ist, was Fiktion, ausgedacht von PR-Strategen und Funktionären in fernen Büros und dankbar aufgenommen von den Dutzenden Fernsehteams aus aller Welt, das liegt hier genauso im Dunkeln wie ein großer Teil des Krankenhauses, das einst der Stolz des vorbildlichen palästinensischen Gesundheitssystems war. »Wir mussten viele Stockwerke räumen, weil wir nicht genug Strom haben«, sagt Mohammad Abu Khalil, der sich als Sprecher des Krankenhauses ausgibt, eigentlich aber Funktionär der Hamas sein soll. »Natürlich haben wir Generatoren, die bei Stromausfällen einspringen sollen. Aber dafür brauchen wir Treibstoff, den wir nicht haben, weil Israel die Lieferungen eingestellt hat.«

In der Tat liegt Gaza in dieser Nacht in tiefster Finsternis, und auch auf dem Trockenen, weil »kein Strom« auch »kein Wasser« bedeutet, denn Wasser wird mit Pumpen gefördert. »Das ist das wirklich Schlimme«, sagt Osama Schweiki, 36 Jahre alt und Vater zweier Kinder, »Ich kann weniger essen und weniger trinken. Ich kann die Gasheizung ausgeschaltet lassen. Aber überlegen zu müssen, ob ich auf die Toilette gehe oder ob ich mir das Gesicht wasche, das ist unerträglich.« Den Samstag hat er in einem Teehaus in Gazas Stadtmitte verbracht, zusammen mit Dutzenden anderen Männern, die wie er arbeitslos sind.

Täglicher Kampf ums Überleben

Wenn man sie fragt, sprechen sie vom Kampf ums Überleben, davon, dass nach der Übernahme des Gaza-Streifens durch die Hamas zwar die Sicherheitslage besser, aber die humanitäre Situation schlechter geworden ist. Man fühlt sich verlassen: von der Palästinensischen Autonomiebehörde im fernen Ramallah, das die meisten nie besucht haben, weil zwischen hier und da Israel liegt; von der ägyptischen Regierung, die man hier als Marionette Israels sieht; und auch von der Hamas, von der man gehofft hatte, dass sie endlich für geordnete Verhältnisse in diesem völlig übervölkerten Landstrich sorgt, und die sich stattdessen einen ewigen Kleinkrieg mit Israel liefert. »Ich bin mir nicht sicher, ob es notwendig ist, Israel zu provozieren. Wir wissen doch alle, was dann passiert«, sagt Schweiki, der einzige, der seinen Namen nennen will. Die Hamas hat im Laufe der vergangenen sieben Monate nicht nur große Schritte unternommen, um den erzkonservativen Gaza-Streifen unter ein islamisches System zu stellen, sondern auch eine Atmosphäre der Paranoia geschaffen. Wenn Ausländer mit Einheimischen sprechen, dauert es meist nicht lange, bis sich ein Mitglied der Massenorganisation Hamas einschaltet, um das Gespräch in die richtige, will heißen der Parteilinie entsprechende Richtung zu lenken. »Wir haben in den vergangenen Monaten unsere Freiheit nach außen und nach innen verloren«, sagt einer der Männer, »Es wird nicht mehr lange dauern, bis hier alles in die Luft geht.«

Es ist genau diese Explosion, die sich Israels Regierung von der vollständigen Abriegelung des Gaza-Streifens erhofft. »Die Menschen müssen sich bewusst werden, dass die Dinge nur besser werden können, wenn sie sich gegen die Hamas wenden«, sagen Sprecher der israelischen Regierung immer wieder und verweisen darauf, dass die Einstellung von Strom- und Treibstofflieferungen bereits Erfolge zeige: Die Zahl der Raketenangriffe auf Israel sei stark zurückgegangen, bevor am Dienstag wieder eine größere Treibstofflieferung genehmigt wurde. Zudem habe das israelische Militär es geschafft, Hamas und Islamischen Dschihad durch die Tötung von Funktionären der beiden Organisationen massiv zu schwächen. Man hoffe darauf, dass es dadurch der Notstandsregierung der Palästinensischen Autonomiegebiete im Westjordanland möglich werde, wieder die Macht über den Gaza-Streifen zu übernehmen.

»Israel wird schnell nachgeben müssen«

Nur: »Unmut über die Hamas wird nicht in Liebe für die Fatah oder für Israel umschlagen«, sagt ein Mitarbeiter des arabischen Nachrichtensenders »Al Arabija«, der ebenfalls seinen Namen nicht nennen will. »Die Fatah bleibt für die Menschen hier eine Marionette Israels. Ich denke eher, dass Israel sehr schnell wird nachgeben müssen, denn wie lange kann man 1,7 Millionen Menschen von den Dingen des täglichen Lebens abschneiden, ohne dafür international in die Kritik zu geraten? Zudem droht die Gefahr, dass die Lage im Westjordanland ebenfalls eskaliert.«

Die Hamas arbeitet in diesen Tagen hart daran, dass dies eher früher als später geschieht. So sendet »Al Aksa TV«, der Fernsehsender der Hamas, trotz der Stromausfälle ununterbrochen. Immer wieder werden der versammelten Weltpresse dramatische Bilder geliefert. Das Ziel sei, ist von Eingewehten zu hören, vor allem die öffentliche Meinung in der arabischen Welt gegen Israel aufzubringen, um damit den Friedensprozess mit der Autonomiebehörde zu torpedieren.

»Das vieles von dem, was wir senden, gestellt ist, dessen sind wir uns bewusst«, sagt der »Al-Arabija«-Journalist am Sonnabend im Schifa-Krankenhaus in Gaza-Stadt: »Die Lage wird deshalb ja nicht weniger schlimm.« In der Tat lässt sich die Verzweiflung, die Hoffnungslosigkeit in den Familien, von Freunden und Bekannten, nicht einmal durch Geld lindern, weil das Banksystem meist nicht funktioniert. Und wenn doch einmal eine Überweisung durchgeht, ist oft nicht genug Bargeld vorhanden, um sie auszuzahlen. Funktionäre der Hamas machen, zumindest hinter vorgehaltener Hand, kaum einen Hehl daraus, dass sie wenig Interesse daran haben, den täglichen Überlebenskampf der Menschen zu zeigen, weil darin keine Spur des Durchhaltewillens zu erkennen ist, wie ihn das Drehbuch der PR-Strategen der Hamas vorsieht. »Jeder, den ich kenne, ist am Ende«, sagt Osama Schweiki, »Das hier ist kein Leben.«

Zu »Revolutionären«, wie es sich Israels Regierung erhofft, werden sie deshalb noch nicht. Ganz im Gegenteil: Man flüchtet ins Private. »Wir können doch nichts ändern«, ist immer wieder zu hören: »Wir werden Israel nicht besiegen, und weder die Hamas noch die Fatah werden unser Leben bessern. Die verfolgen doch beide ihre eigenen Ziele.«

Ägypten fürchtet Destabilisierung

Und so ist auch die große Explosion, die sich in der Nacht zum Mittwoch ereignete, eine gestellte: Am Dienstagabend sprengten palästinensische Kämpfer, vermutlich Mitglieder der Hamas, an mehreren Stellen den Zaun entlang der ägyptischen Grenze. Nach UN-Angaben strömten daraufhin hunderttausende Bewohner des Gaza-Streifens nach Ägypten, vor allem, um Lebensmittel und Treibstoff zu kaufen, während Israel und Ägypten tatenlos zuschauen mussten. »Wir haben einfach nicht genug Personal in dieser Region, um dagegen anzugehen«, antwortet ein Sprecher des ägyptischen Außenministeriums auf die Forderung Israels, Kairo solle umgehend die Grenze sichern.

In der Tat regelt der ägyptisch-israelische Vertrag von Camp David die Zahl der ägyptischen Polizisten und Soldaten auf der Sinai-Halbinsel. Doch Ägyptens Regierung hat im Moment ohnedies kaum ein Interesse daran, Maßnahmen zu ergreifen, die sich für sie selbst ungünstig auswirken könnten. Denn in Kairo fürchtet man, dass die Lage im Gaza-Streifen die Situation in Ägypten destabilisieren könnte: Dort wird die islamistische Opposition stärker. Die dramatischen Bilder aus dem Schifa-Krankenhaus im Dunkeln und von anderswo haben ihre Wirkung auf die ägyptische Öffentlichkeit nicht verfehlt.

** Aus: Neues Deutschland, 24. Januar 2008


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