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"Das Leben in Gaza ist die Hölle"

Wegen der Abriegelung durch Israel fehlt es den Kliniken an Medikamenten und Ersatzteilen für medizinische Geräte. Gespräch mit Tsafrir Cohen *



Was wissen Sie über die aktuelle medizinische Versorgung im Gazastreifen?

Die Situation ist kritisch, und die Lage spitzt sich täglich zu. Bis zu 100 Medikamenten aus der essentiellen Medikamentenliste – darunter zur Behandlung von Krebs, Herz- und Nierenkrankheiten – sind ausgegangen, und es werden täglich mehr werden, wenn nichts geschieht. Ein noch größeres Problem sind die medizinischen Geräte: Diese können nicht repariert werden, weil die israelischen Behörden keine Ersatzteile hereinlassen. Dialysemaschinen oder Inkubatoren fallen reihenweise aus. Israel läßt derzeit nur noch zwölf Grundmaterialien die Grenze passieren. Weil Israel die Energiezufuhr gekürzt hat, gibt es häufig Stromausfälle, die die Arbeit der Krankenhäuser gefährlich einschränken und die zur Unterbrechung der Kühlkette von Medikamenten führen. Ambulanzen können nur noch begrenzt eingesetzt werden, und Operationssäle werden geschlossen, weil Zement für notwendige Reparaturen fehlt. Immer mehr Patienten müssen daher außerhalb des Gazastreifens behandelt werden.

Laut UN-Berichten sind in den vergangenen Monaten Dutzende schwerkranke Patienten gestorben, weil die israelischen Behörden keine Ausreisegenehmigung erteilt haben. Welche Kranken dürfen passieren und welche nicht?

Ausreisegenehmigungen werden nur dann erteilt, wenn keine Sicherheitsbedenken vorliegen und die Behandlung im Ausland »lebensrettend« ist. Was »lebensrettend« bedeutet, veranschaulichen folgende Beispiele: Einem Patienten mit einer Augenkrankheit sowie mehreren jungen palästinensischen Männern, die von Hamas am Bein angeschossen wurden, verweigerte Israel die Ausreise mit der Begründung, daß nicht ihr Leben in Gefahr sei, sondern »nur« eine Beeinträchtigung der Lebensqualität vorliege. Aufgrund dieser Entscheidung mußten den Männern die Beine amputiert werden, und der Patient mit dem Augenleiden erblindete – was die israelischen Behörden billigend in Kauf nahmen. Was die Sicherheitsbedenken angeht, so geht es vor allem um eins: »Arbeite mit uns, oder geh zurück und stirb in Gaza« ist ein Satz, den die Patienten oftmals zu hören bekommen. Israel nutzt ihre verzweifelte Lage aus, um sie als Spitzel zu gewinnen.

Wie können die Menschen in Gaza überhaupt noch überleben?

Sie müssen auf Milchprodukte, Fleisch oder Obst und Gemüse zugunsten von Brot und Öl verzichten. Dazu kommt die katastrophale wirtschaftliche Situation: Die Menschen leben durchschnittlich von etwas mehr als einem Euro am Tag, während die Preise durch die künstliche Verknappung um teilweise bis zu 500 Prozent gestiegen sind. Alles, was ein gesundes und menschenwürdiges Leben ausmacht, ist von der Blockade betroffen: Das gesamte Ab- und Wassersystem steht vor dem Kollaps, da die Abwässer die Trinkwasserquellen zu kontaminieren drohen. Viele können sich schon jetzt sauberes Trinkwasser nicht mehr leisten. Das Leben in Gaza ist zur Hölle geworden.

Können die Geld- und Sachspenden überhaupt in Gaza eingesetzt werden?

Man kann die Bewohner Gazas nicht einfach allein lassen. Solange wir nichts in den Gazastreifen liefern können, ist es vor allem wichtig, über symbolische politische Projekte auf die Situation aufmerksam zu machen und den Menschen in Gaza unsere Solidarität zeigen. Auch psychosoziale Arbeit ist dringend erforderlich.

Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz verlangt eine sofortige politische Lösung für den Gaza¬streifen. Jede humanitäre Hilfe sei ein Tropfen auf dem heißen Stein und könne nicht mehr greifen. Welchen Standpunkt nimmt medico dazu ein?

Das gilt jetzt verschärft für Gaza, aber auch für die Westbank. Wir – und unsere palästinensischen und israelischen Partner – würden noch weitergehen und sagen: Humanitäre Hilfe ist notwendig, doch ohne politische Kritik entlastet sie den israelischen Staat nicht nur finanziell von seiner Verantwortung für die von ihm kontrollierte Bevölkerung. Es kann nicht sein, daß ausländische Geldgeber einen Status quo von Besatzung, Verdrängung und Isolierung finanzieren – und damit ungewollt zu Komplizen werden, falls diese Hilfe nicht durch politischen Druck begleitet wird.

Wie wirkt sich dieser Ansatz in Ihrer Arbeit vor Ort aus?

Gerade weil wir keine Entlastungsfunk¬tion wahrnehmen wollen, hat sich medico für eine Repräsentanz vor Ort entschieden, um an der Schnittstelle zwischen Projektförderung, konkreter Hilfe und Aufklärung zu arbeiten. Unsere Spendenprojekte zielen auf den Erhalt und die Erweiterung von Spielräumen, die auf die sich vertiefenden Ausgrenzungen in den besetzten Gebieten aufmerksam machen und jenseits von ihnen Nischen von Solidarität ermöglichen. Damit Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit der Menschen in Palästina nicht in Haß und Selbstzerstörung umschlagen, sondern gewaltfreie Aktionsformen entwickelt werden können, die emanzipatorisch nach innen wirken, unterstützen wir ansässige Nichtregierungsorganisationen, wie beispielsweise den medico-Partner Palestinian Medical Relief Society. Darüber hinaus arbeiten wir mit Physicians for Human Rights – Israel zusammen und schicken mobile Kliniken in den Gazastreifen, um Israel und die internationale Gemeinschaft daran zu erinnern, daß allen Menschen das Recht auf Leben und Gesundheit zusteht und daß es ohne Bewegungsfreiheit und Achtung grundlegender Menschenrechte keine nachhaltige Entwicklung geben kann.

Interview: Andrea Bistrich

* Tsafrir Cohen ist seit September 2007 Repräsentant von medico international in Palästina/Israel mit Sitz in Ostjerusalem.

Aus: junge Welt, 27. Dezember 2007



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