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Abzug der Israelis aus dem Gazastreifen:

Anfang vom Ende der israelischen Besatzung?

Mitte August 2005 begann der Abzug der Israelis aus den Siedlungen im besetzten Gazastreifen. Hierzu dokumentieren wir im folgenden ein Interview mit Abdallah Frangi, dem Chef der Fatah-Bewegung im Gazastreifen, sowie einen Korrespondentenbericht aus Jerusalem.



Ein Schritt zum eigenen Staat

ND-Gespräch mit Abdallah Frangi, Chef der Fatah-Bewegung im Gazastreifen

Nach Ablauf der Frist für den freiwilligen Abzug der israelischen Siedler aus dem Gazastreifen begann um Mitternacht die Zwangsräumung durch Polizei und Armee. Abdallah Frangi (61) ist Chef der Fatah-Bewegung im Gazastreifen. Mit dem langjährigen Repräsentanten der palästinensischen Autonomiebehörde in Deutschland sprach Olaf Standke.

ND: Wie schätzen Sie den bisherigen Verlauf des Abzugs ein?

Im Großen und Ganzen läuft es trotz der Proteste von Siedlern nicht schlecht, friedlicher, als man befürchten musste.

Rechnen Sie in der Phase der Zwangsräumungen dennoch mit Aktionen militanter Siedler?

Die Siedler haben mit Blick auf ihre Ideologie sehr viel verloren, finanziell aber auch viel gewonnen. Jeder, der sein Haus verlassen hat, bekam dafür eine halbe Million Dollar und neues Land, ungefähr 1000 Quadratmeter. Das ist ein sehr gutes Geschäft. Deshalb bleiben die meisten auch ruhig. Die ideologischen Aktivisten allerdings, die oft gar keine Siedler aus Gaza sind, sind unberechenbar.

Hat sich beim Abzug die Zusammenarbeit zwischen israelischen und palästinensischen Sicherheitskräften bewährt?

In einigen Punkten ja. Andererseits hat die israelische Seite viele Vereinbarungen auch nicht eingehalten, vor allem im nördlichen Westjordanland, wo ja auch Siedlungen geräumt werden, aus Gebieten, drei Mal so groß wie der Gazastreifen.

Ihr Präsident Mahmud Abbas hat jetzt von einem historischen Schritt auf dem Weg zum Frieden gesprochen – also auch zum eigenen palästinensischen Staat?

Ja, denn Frieden im Nahen Osten ist letztlich nicht möglich ohne die Gründung eines palästinensischen Staates.

Muss man nach dem israelischen Abzug im Gazastreifen ein Machtvakuum befürchten?

Ich denke nicht. Sicher, Hamas ist hier stärker geworden. Aber diese Stärke ist vor allem der Tatsache geschuldet, dass Fatah immer noch zu schwache Strukturen in der Region hat. Aber wir sind auf dem besten Wege, diese Schwächen zu minimieren.

Die radikalen Organisationen Hamas und Dschihad haben sich für die Zeit des Abzugs zu einem Waffenstillstand bereit erklärt und die Zusammenarbeit mit Fatah gesucht – die Grundlage auch für eine weitere friedliche Entwicklung im Gazastreifen?

Ich glaube, Hamas und Dschihad haben inzwischen festgestellt, dass sie mehr gewinnen, wenn sie im Rahmen aller palästinensischen Organisationen agieren. Sie profitieren ja davon, wenn sie durch Wahlen mehr Macht und Einfluss bekommen – viel mehr als durch den bewaffneten Kampf.

Nun ist die Entwicklung im Gazastreifen nicht nur eine politische Frage. Gaza gilt als das am dichtesten besiedelte Gebiet der Welt, mit einer Arbeitslosigkeit von 90 Prozent. Wie will die palästinensische Selbstverwaltung die sozialen und wirtschaftlichen Probleme anpacken?

Wir waren ja vor über zehn Jahren schon einmal mit diesen Fragen konfrontiert, nach der Unterzeichnung des Gaza-Autonomieabkommens durch Arafat und Rabin. Die Region war wirtschaftlich am Boden, die Infrastruktur katastrophal. Wir haben es in zwei Jahren geschafft, den Gazastreifen deutlich zu entwickeln. Die Palästinenser sind ein fleißiges Volk, besitzen fachlich sehr gute Arbeitskräfte. Auch Kapital sollte kein Problem sein, weil viele Palästinenser aus dem Ausland kommen und investieren werden. Voraussetzung für Investitionen ist aber, dass jetzt endlich eine friedliche Phase im Gazastreifen beginnt.

In Gaza findet ein vollständiger Abzug statt, im Westjordanland gibt Israel nur wenige kleinere Siedlungen auf; die Mehrheit der 240 000 Siedler bleibt. Wäre ihr Abzug nicht auch notwendig für den von Ihnen geforderten souveränen palästinensischen Staat?

Deshalb habe ich immer gesagt, dass man die Entwicklung im Gazastreifen nicht losgelöst vom Westjordanland betrachten kann. Ihre Sicherheitsfragen sind untrennbar miteinander verbunden, und die Räumung der Siedlungen auf palästinensischem Gebiet in der Westbank ist unabdingbar. Die internationale Gemeinschaft, die USA, die EU, aber auch viele Israelis sind der Meinung, dass die Palästinenser ihr Land in der Westbank bekommen müssen, um einen lebensfähigen eigenen Staat gründen zu können.

Was eine Lösung für die 900 000 Flüchtlinge im Gazastreifen einschließt?

Die Frage der Flüchtlinge und des Rückkehrrechts der Palästinenser ist eingebettet in eine Resolution des Weltsicherheitsrates und muss in diesem Rahmen gelöst werden.

Erwarten Sie jetzt auch einen Schub für neue internationale Verhandlungen im Friedensprozess?

Wie brauchen Partner, die in der Lage sind, die Israelis zu überzeugen, dass der Frieden auch in ihrem Sinne ist. Und Frieden heißt nicht, dass sie uns vorschreiben, wie wir zu leben haben, Frieden bedeutet uneingeschränkte Unabhängigkeit und Freiheit, die man als Palästinenser genauso genießen können muss wie als Israeli.

Aus: Neues Deutschland, 17. August 2005


Wende in Siafa

Von Oliver Eberhardt, Jerusalem

Ein Jahr lang wurde die Räumung der Gazasiedlungen geplant. Doch auf der diplomatischen Ebene sind noch viele Fragen ungeklärt.

Siafa ist ein trauriges Dorf: Am nördlichen Rand des Gazastreifens gelegen, ist die kleine Gemeinschaft von nur wenigen hundert Menschen völlig von israelischen Siedlungen umgeben. Früher lebte man hier von der Landwirtschaft. Doch die Oliven- und Obstbäume mussten Sicherheitszonen weichen; viele der Felder wurden mit Stacheldraht eingezäunt. So ändert sich das Leben der Menschen von Siafa nun dramatisch. In wenigen Tagen schon werden sie wieder ihre Felder erreichen können; die Kontrollpunkte auf der Straße nach Gaza werden verschwunden sein.

»Das wird der schönste Tag meines Lebens«, sagt Abu Rabija, einer der Dorfbewohner. Doch es könnte sein, dass die Vorfreude verfrüht ist. Auch wenn sich die Menschen im Gazastreifen in einigen Tagen wieder frei werden bewegen können, gehen sie doch in eine ungewisse Zukunft. Der Weg zu den Arbeitsplätzen in Israel wird ihnen ebenso versperrt bleiben wie die Grenze nach Ägypten. Obwohl die Politik auf beiden Seiten mehr als ein Jahr Zeit hatte, um zu einer Übereinkunft zu gelangen, sind bislang nur wenige Fragen geklärt.

Sicher, Gaza wird einen Seehafen bekommen; der Flughafen wird wieder geöffnet werden; die Treibhäuser der Siedlungen werden in palästinensischen Besitz übergehen. Doch der künftige Status des Gazastreifens bleibt ebenso ungeklärt wie die Frage der ausreichenden Bewaffnung des Sicherheitsapparates und die der wirtschaftlichen Überlebensfähigkeit der Region.

»Da sind die Palästinenser selber Schuld«, behauptet Raanan Gissin, Sprecher von Israels Regierungschef Ariel Scharon. »Bevor wir weiterreichende Zugeständnisse machen werden, müssen wir sehen, dass die palästinensische Führung ihr Haus in Ordnung bringt.« Man werde auf keinen Fall dulden, dass Gaza »zu einer internationalen Terrorzentrale« wird, sagt derweil Verteidigungsminister Schaul Mofas. Bei einer Pressekonferenz am Montag kündigte er harte Vergeltung an, falls israelische Städte und Dörfer nach dem Abzug weiterhin vom Gazastreifen aus angegriffen werden sollten. »Es ist durchaus möglich, dass unsere künftigen Reaktionen härter als je zuvor sein werden.«

Doch für die Menschen in Israel und den palästinensischen Gebieten sind dies im Moment rein hypothetische Fragen. Während es in Gaza immer wieder Freudenfeiern gibt, palästinensische Politiker die Räumung als »Anfang vom Ende der israelischen Besatzung« bezeichnen und alle möglichen Gruppen den Erfolg für sich beanspruchen, steht Israels Gesellschaft vor einer Zerreißprobe. Im Laufe des Dienstag wurden die Auseinandersetzungen zwischen Sicherheitskräften und Siedlern immer massiver; am Mittag gab es erste Verletzte.

Aus: Neues Deutschland, 17. August 2005


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