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"Flüchtlingsdebatte ist ideologisch aufgeladen"

Palästinenser haben ein Recht auf Rückkehr, das heißt aber nicht, daß auch alle zurückkehren werden. Ein Gespräch mit Sari Hanafi

Sari Hanafi ist Professor für Soziologie am Lehrstuhl für Sozial- und Verhaltenswissenschaften an der Amerikanischen Universität in Beirut (AUB). Der Palästinenser Hanafi wuchs im Flüchtlingslager Yarmouk in Damaskus (Syrien) auf. Er studierte Soziologie, erhielt ein Stipendium und beendete sein Studium in Paris, wo er die französische Staatsangehörigkeit beantragte. Ausgestattet mit einem französischen Paß war es Sari Hanafi möglich, als Professor nach Beirut zu wechseln.



Sechzig Jahre nach der Vertreibung aus ihrer Heimat müssen Palästinenser noch immer in Flüchtlingslagern leben. Müssen sie akzeptieren, daß es für sie keine Rückkehr gibt?

Als Soziologe habe ich den Eindruck, daß die Debatte über das Recht auf Rückkehr oft eine sehr ideologische Debatte ist. Auf seiten der Israelis bricht jedes Mal, wenn über die Rückkehr gesprochen wird, eine demographische Phobie aus. Als würden die viereinhalb Millionen Palästinenser am nächsten Tag zurückkommen und den israelischen Staat zerstören. Das ist natürlich unhistorisch. Flüchtlinge kehren nach einer so langen Zeit des Konflikts nicht massenhaft zurück. Was die Palästinenser betrifft, ist die Botschaft oft verschwommen. Eine Lösung für die Palästinenser betrifft nicht nur das Recht auf Rückkehr, sondern auch alle zivilen Rechte in den heutigen Gaststaaten. In jedem Fall ist die Forderung wichtig, um die Dynamik für eine gerechte Lösung für die Palästinenser aufrecht zu erhalten.

Die »internationale Gemeinschaft« betrachtet das Problem der Palästinenser meist unter dem Aspekt der »Sicherheit«. Im Sommer gab es in Berlin eine Konferenz zu dem Thema. Nutzt das der Sicherheit?

Es ging ja eher darum, Geld für die palästinensischen Sicherheitskräfte zu sammeln, als um einen grundsätzlichen Lösungsansatz des palästinensisch-israelischen Konflikts. Unglücklicherweise wird dieser Konflikt meist automatisch in verschiedene Kategorien unterteilt: die Sicherheit, die Flüchtlinge, die Terroristen. Dabei fehlt das Gesamtbild und das bedeutet, daß die Besatzung Israels andauert.

Ist denn Sicherheit auch für die Palästinenser ein wichtiges Thema?

Natürlich, genau wie für die Israelis. Wobei die Zahl der toten Palästinenser fast zehnmal so hoch ist wie die der Israelis. Die Gewalt endet nur mit dem Ende der Besatzung. Die Israelis können die Palästinenser in ihre »Bantustans« quetschen und in ihren Dörfern einsperren, aber das wird nicht mehr Sicherheit bringen. Eine Mauer ist keine Lösung, das hat die Geschichte in Berlin gezeigt. Aber Israel lernt nicht aus der Geschichte und meint, wenn es sich einmauert, wäre es sicherer. Die Regierung von Frau Merkel will keinen Druck auf Israel ausüben, sondern stellt sich im Gegenteil an seine Seite, obwohl Israel die Besatzung fortsetzt. Und über den ungebremsten Siedlungsbau Israels verliert man kein kritisches Wort.

Israel fordert ein Ende des palästinensischen »Terrorismus«. Sind die Ereignisse im Flüchtlingslager Naher Al-Bared im Nordlibanon nicht ein Beweis, daß es den gibt? Immerhin kamen bei den Kämpfen im Sommer 2007 zwischen der libanesischen Armee und der islamistischen Gruppe Ansar Al-Islam, die sich dort ausgebreitet hatte, mehr als 400 Menschen ums Leben. Die 30000 Einwohner mußten fliehen, das Lager wurde weitgehend zerstört.

So einfach ist das nicht. Aus jeder vernachlässigten Wohngegend wird früher oder später ein Slum, das ist ein Prozeß. Und die Gemeinschaft eines Slums, speziell im Fall eines Flüchtlingslagers, weist historisch und sozioökonomisch eine besondere Struktur auf. Seit langem haben diese Leute keinen Zugang zum Arbeitsmarkt, sie dürfen keine Wohnung, kein Haus, kein Geschäft im Libanon besitzen, das zerstört die Gemeinschaft in einem Flüchtlingslager. Die ständig wachsende Armut und völlige Isolation von der Umgebung ermöglichen erst, daß sich alle möglichen Gruppen, und seien sie noch so unbedeutend, in einem solchen Slum, im Flüchtlingslager niederlassen und agieren können. Das haben wir in Naher Al-Bared gesehen. Drei Monate haben gereicht, daß so eine Gruppe sich dort festsetzen konnte, die Folgen waren katastrophal.

Welche Alternative gibt es zu einem Flüchtlingslager?

Die Alternative ist, den Palästinensern im Libanon zivile Recht zu geben. Man muß ihnen erlauben zu arbeiten, man muß die Lebensbedingungen in den Lagern verbessern. Hier im Libanon können die Leute das Lager nicht verlassen, weil sie kein Geld haben. Ihr Lebensraum wird immer enger, es entstehen Spannungen in den Familien, zwischen Nachbarn, die Leute werden krank. Die Flüchtlingslager in Libanon müssen so werden, wie in Syrien und Jordanien. Dort gibt es so eine Art Drehtür. Das bedeutet, daß die Leute hinausgehen und außerhalb des Lagers arbeiten und wohnen können. Die Lager sind offen, es gibt einen gesellschaftlichen Austausch, man schließt Freundschaften, heiratet. Die Palästinenser sind sehr bereit, sich sozial zu integrieren.

Interview: Karin Leukefeld, Beirut

* Aus: junge Welt, 2. September 2008


Kriegsbilder im Kopf

60 Jahre Vertreibung aus der Heimat: Ein Besuch im palästinensischen Flüchtlingslager Mar Elias in Beirut

Von Karin Leukefeld **

Mar Elias in Beirut ist das kleinste Lager für palästinensische Flüchtlinge im Libanon. Als es 1952 gegründet wurde, lag es außerhalb des alten Zentrums der libanesischen Hauptstadt. Heute ist Mar Elias einer von vielen Stadtteilen Beiruts, knapp 600 Menschen leben auf engstem Raum in dem Gewirr verwinkelter Gassen. Die Lebens-, Arbeits- und Gesundheitsbedingungen für die Menschen sind schlecht. Armut und hohe Arbeitslosigkeit sind allgegenwärtig, für Jugendliche und Kinder gibt es wenig Perspektive. Nicht weit vom schmalen Eingang entfernt, liegt der Kindergarten der Ghassan-Kanafani-Stiftung, in dem viel Wert auf die intellektuelle, emotionale, soziale und kreative Entwicklung gelegt wird. Kunst und Kunsthandwerk, Tanz und Theater, Geschichten erzählen, malen, schreiben und musizieren stehen auf dem Programm.

Die Stiftung ist benannt nach Ghassan Kanafani (1936-1972), einem palästinensischen Journalisten und Schriftsteller, der 1948 im Zuge der gewaltsamen Staatsgründung von Israel aus seiner Heimatstadt Jaffa vertrieben worden war. Nach einer ruhelosen Zeit zwischen Libanon, Syrien und Kuwait lebte Kanafani seit 1960 im Libanon, wo er am 8. Juli 1972 zusammen mit seiner Nichte Lamis durch ein Attentat des israelischen Geheimdienstes getötet wurde. »Kinder sind unsere Zukunft«, so die Überzeugung Kanafanis, der neben seinen politischen Artikeln und Romanen auch viele Kinderbücher schrieb. Die Stiftung wurde 1974 von seiner Frau Annie gegründet und unterhält heute in den palästinensischen Flüchtlingslagern des Libanon Kindergärten für gesunde und behinderte Kinder sowie Kulturzentren und Büchereien.

Jedes Jahr präsentieren die Kinder des Kanafani-Kindergartens ihr künstlerisches Können der Öffentlichkeit. Die diesjährige Ausstellung war der Nakba gewidmet: »60 Jahre Vertreibung der Palästinenser aus ihrer Heimat«. Die Kinder, die fern von ihrer palästinensischen Heimat in Lagern aufwachsen, kennen das frühere Leben im alten Palästina nur aus den Erzählungen ihrer Eltern, die es von ihren Eltern und Großeltern gehört haben. Khadiyeh Taha (37), eine der Erzieherinnen, wurde nicht weit von Mar Elias, im Flüchtlingslager Schatila geboren. Auch sie kennt ihre palästinensische Heimat nur von Fotos, Filmen und aus Erzählungen. In der geschlossenen palästinensischen Flüchtlingsgemeinschaft sei die Erinnerung an die Heimat, die Hoffnung auf Rückkehr fast das einzige, was den Menschen geblieben sei, erzählt die Mutter von zwei Kindern. Sich an das alte Palästina zu erinnern helfe, den Frustrationen des Alltags zu entkommen. Für die Kinder sei es wichtig, von Flucht und Vertreibung zu erfahren, um die Sorgen und Ängste der Eltern und Großeltern emotional verstehen zu können, und außerdem gehöre es für die Palästinenser in der Westbank und in Gaza noch immer zum Alltag: »Die Nakba hat nicht aufgehört.«

In einem langsamen Prozeß entstehen erste Skizzen, Farbbilder, Collagen, Selbstporträts. Bilder von Menschen, die ihre Habseligkeiten auf dem Kopf davontragen, die in Zelten leben, die vor der israelischen Armee fliehen. Ein Vogel trägt eine kunstvolle palästinensische Stickerei im Schnabel, ein Dorf feiert Hochzeit, Viehhirten durchstreifen Olivenhaine und Obstplantagen. Die Bilder der Kinder, die im Lager lebten, unterschieden sich stark von den Bildern der Kinder, die außerhalb leben könnten, sagt die Erzieherin Taha. Kampf- und Kriegssituationen malen Kinder draußen nur noch selten.

** Aus: junge Welt, 2. September 2008


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