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Mit Hamas leben?

Von Alexander Flores

Mit dem Sieg von Hamas bei den palästinensischen Parlamentswahlen ist eine neue Situation entstanden. Die israelische Regierung versichert, mit einer von Hamas dominierten palästinensischen Behörde könne sie nicht verhandeln. Wenn man sich vor Augen hält, daß sie auch mit der bisherigen an friedlichem Ausgleich interessierten Führung nicht verhandelt hat, verliert diese Ankündigung an Wucht. Unabhängig davon könnte man annehmen, daß der antisemitische Diskurs, die irredentistische Programmatik (Irredentismus wird hier und im ganzen Artikel verstanden als die Position, die sich nicht mit einem Palästinastaat neben Israel begnügt, sondern ganz Mandatspalästina als arabisches Land wiederherstellen will) und die terroristischen Kampfmittel sowie das damit einhergehende militante Auftreten von Hamas eine friedliche Regelung tatsächlich sehr erschweren. Der Artikel behandelt Hamas in ihren grundsätzlichen Zügen und ihrem bisherigen Verhalten, um Perspektiven nüchtern beurteilen zu können.

Hamas ist eine islamistische Organisation in Palästina. Der Islamismus, auch politischer Islam oder islamischer Fundamentalismus genannt, kommt heute beinahe überall vor, wo es Muslime in nennenswerter Zahl gibt. Er muß vom Islam als solchem genau unterschieden werden. Dieser ist eine weltumspannende Religionsgemeinschaft, in die man im allgemeinen hineingeboren wird, deren Ansprüche an ihre Angehörigen bescheiden und allgemein sind und in der sich ebenso viele und vielgestaltige Lebensformen, Haltungen und Verhaltensweisen finden wie in anderen Religionen vergleichbarer Größenordnung. Der Islamismus ist dagegen eine islamische Bewegung neueren Datums, die bei aller Vielfalt und Bandbreite doch verhältnismäßig gut abgrenzbar ist und die ganz bestimmte Hintergründe, Ziele, ideologische Züge sowie Organisations- und Bewegungsformen hat.

Entstehung des Islamismus

Die Entstehung und Erstarkung des Islamismus ist im Zusammenhang mit der zunehmenden Erfassung islamischer Länder durch Modernisierungsprozesse unter westlichem Vorzeichen zu sehen, von denen in den betroffenen Ländern nur Minderheiten profitierten, während große Teile der Bevölkerung sich an den Rand gedrängt sahen. Diese mißliche Lage breiter Kreise, gepaart mit der deutlichen Abhängigkeit der islamischen Weltregion von den westlichen Industrieländern, wird oft mit der überlegenen Position der islamischen Welt in den frühen Stadien der islamischen Geschichte kontrastiert; der Niedergang wird dann auf das Entschwinden des Islam als gesellschaftlich verbindliche Lebensregel zurückgeführt. Dieser Gedankengang, den man in der arabischen Welt schon im 18. Jahrhundert feststellen kann, der dann aber mit dem übermächtig werdenden westlichen Einfluß im 19. Jahrhundert hervortrat, führte zuerst zur Forderung nach dem Festhalten am Islam, dann aber zu der nach seiner Neugewinnung. Im 20. Jahrhundert wurde diese Forderung zum Hauptkennzeichen einer politischen Bewegung, eben des Islamismus. Die erste wichtige islamistische Organisation, die der ägyptischen Muslimbrüder, entstand 1928, in den folgenden Jahrzehnten erstarkte sie und breitete sich auf die umliegenden Länder aus, und in den 1970er Jahren konnte man noch einmal eine Intensivierung und Ausweitung der Bewegung feststellen. Die Islamisten fordern eine islamische Ordnung oder einem islamischen Staat. Wie der aussehen soll, sagen sie meist nicht, jedenfalls soll er aber das islamische Recht, die Scharia, zur Geltung bringen, die ja im Zuge der Modernisierung in aller Regel von positivem Recht abgelöst worden war. Aktions- und Organisationsformen der Islamisten sind unterschiedlich; sie fassen sowohl reformerische wie auch radikal umstürzlerische Aktion ins Auge – im einen Fall Predigt, Versuch der Beeinflussung durch die Medien, Teilnahme am legalen politischen Leben, etwa bei Parlamentswahlen, etc.; im anderen Fall die Abschottung von der Gesellschaft, den Aufbau einer kleinen, „idealen“ islamischen Gesellschaft und die gewaltsame Eroberung der Staatsmacht sowie ihren Einsatz zur islamischen Umgestaltung der gesamten Gesellschaft. Diese beiden Vorgehensweisen brauchen sich nicht auszuschließen; sie können nebeneinander oder alternierend bei ein und derselben Organisation vorkommen.

Im allgemeinen lassen sie sich aber schwerpunktmäßig verschiedenen Teilen der islamistischen Bewegung zuordnen: ihrem integrationswilligen Mainstream auf der einen, ihren radikalen, meist tief im Untergrund agierenden Teilen auf der anderen Seite. Die Ideologie der Islamisten betont die Notwendigkeit einer öffentlich sanktionierten Regelungsfunktion des Islam, das Bedauern über ihr Abhandenkommen durch die Außerkraftsetzung der Scharia, die Gegnerschaft gegen den Westen, dem von grundsätzlichem Haß getriebene Machenschaften gegen den Islam als solchen unterstellt werden, Gegnerschaft gegen Israel, den Zionismus und die Juden, wobei oft keine Unterscheidungen gemacht werden und den Juden eine Hegemonie über den Westen zugeschrieben wird. Dieses Motiv knüpft an religiös motivierte Judenfeindlichkeit an, die es in dem breiten Spektrum islamischer Überzeugungen neben einer positiven Haltung zu den Juden durchaus gab und gibt, macht aber auch kräftige Anleihen beim modernen europäischen Antisemitismus etwa der „Protokolle der Weisen von Zion“, des berüchtigten antisemitischen Machwerks vom Beginn des 20. Jahrhunderts.

Der Islamismus betont die religiöse Identität und weltweite Solidarität der Muslime, als Aktionsraum sieht er die ganze islamische Welt. Von daher sieht er sich in ausgesprochenem Gegensatz zu jedem, also etwa dem arabischen, Nationalismus, und bekämpft diesen scharf. Andererseits sind die Islamisten in jedem einzelnen Land gezwungen, sich dem Rahmen und der Dynamik der Politik anzupassen, und die sind in aller Regel nationalstaatlich geprägt. Daraus folgen dann oft auch für die Islamisten Konzessionen an die nationalistische Programmatik und nationale Ziele, wenn auch meist in islamischer Sprache formuliert. Die Wendung gegen den Westen erfolgt gerade bei den radikalen Islamisten oft mit antiimperialistischer Argumentation, die bei Austausch einiger Begriffe geradezu marxistisch anmuten würde.

Der Islamismus ist ein sehr breit gefächertes Phänomen; es gibt große Unterschiede in den jeweiligen nationalen Rahmenbedingungen und ein breites Spektrum politischer Positionen und Handlungsweisen – von der AKP, die in der erzsäkularistischen Türkei die Regierung trägt, bis hin zu den Exponenten des international operierenden Terrorismus.

Islamismus in Palästina

Hamas ist die bedeutendste islamistische Organisation in Palästina, genauer im 1967 von Israel besetzten „Rest“palästina: Westbank und Gazastreifen. Vornehmlich in Gestalt der Muslimbrüder gab es dort seit den 40er Jahren Islamisten; nach der palästinensischen „Katastrophe“ von 1948 versuchten sie dort unter den jeweiligen Bedingungen ihr Programm einer Islamisierung der Gesellschaft zu verwirklichen. Die Palästinafrage und der Kampf gegen Israel hatten dabei keine Priorität. So blieb es auch, nachdem die beiden Gebiete im Junikrieg 1967 von Israel besetzt worden waren. Trotz ihrer scharf antiisraelischen, ja antijüdischen Rhetorik blieben die Islamisten hier im Hinblick auf Widerstandsaktivitäten, in welcher Form auch immer, völlig abstinent. Eher brachte ihr Programm sie in Widerspruch, manchmal auch in gewaltsame Kämpfe, mit ihren nationalistischen palästinensischen Konkurrenten. Und die Besatzungsbehörden honorierten das, indem sie die Muslimbrüder ihrerseits völlig in Ruhe ließen.

Die große Auseinandersetzung jener Zeit war die zwischen der Besatzung, die durch ihre lange Dauer und eine Fülle einzwängender Maßnahmen immer unerträglicher wurde, und der Bevölkerung, die sich in dieser Frage durch die verschiedenen in der PLO zusammengeschlossenen nationalistischen Organisationen vertreten sah. Die Islamisten mit ihrer Widerstandsabstinenz blieben da am Rande. Das änderte sich erst nach mehr als 20 Jahren mit der (ersten) Intifada und ihrer enormen nationalistischen Mobilisierung und Euphorie. Der Groll der Bevölkerung hatte sich immer weiter aufgestaut und entlud sich Ende 1987 in einer flächendeckenden heftigen (aber nicht bewaffneten!) Protestbewegung, die das israelische Militär auch mit noch so harten Maßnahmen nicht mehr zurückdrängen konnte – jedenfalls nicht kurzfristig. Große Teile der Bevölkerung engagierten sich in den Massenprotesten. Diesem Sog konnten sich auch die Muslimbrüder bei Strafe ihrer völligen Marginalisierung nicht entziehen. Sie klinkten sich – wohl auch mitgerissen von ihrem eigenen Milieu, das an den Protesten teilnahm – in die Intifada ein und gaben sich einen neuen Namen – eben „Hamas“. Eine Art Umgründung also.

„Hamas“ ist die Abkürzung der arabischen Bezeichnung für „islamische Widerstandsbewegung“, das Wort Hamas bedeutet Eifer, Enthusiasmus. Hamas beteiligte sich an den Massenaktivitäten der Intifada und stellte sich im großen und ganzen hinter die nationalistischen Forderungen, die es allerdings in islamischer Sprache formulierte. Der grundsätzliche Unterschied in den Konzeptionen zwischen den Nationalisten der PLO und den Islamisten von Hamas blieb bestehen. Wo die Nationalisten den Gegensatz zwischen Israel und den Palästinensern als politischen Konflikt sehen, scharf, aber doch im Prinzip regelbar, stellt ihn Hamas als einen religiösen Gegensatz zwischen Juden und Muslimen hin, der seit Muhammad andauert und bis zum Jüngsten Tag dauern wird. Die „Charta“ von Hamas (August 1988), ihr wohl wichtigstes programmatisches Dokument, stellt die Juden als ewige Feinde der Muslime hin und verdammt ausdrücklich die Preisgabe irgendeines Teils von Palästina sowie Verhandlungen mit Israel.

Mit der „Umgründung“ sprang Hamas auf den Zug des palästinensischen Nationalismus auf. Die Intifada erreichte allerdings ihr Ziel – Beendigung der Besatzung und Gründung eines palästinensischen Staats neben Israel – nicht. Israel hielt eisern an der Besatzung fest; trotz des enormen Einsatzes großer Teile der palästinensischen Bevölkerung erschöpfte die Intifada letzten Endes ihre Kräfte. In dieser Situation der Schwäche, die durch regionale Entwicklungen (2. Golfkrieg) verschärft wurde, ließ sich die PLO-Führung auf den Oslo- Prozeß ein. Damit ging sie ein Bündnis mit Israel ein, und das Gros der palästinensischen Nationalisten folgte ihr. Während also die Islamisten nun in die nationalistische Konfrontation mit Israel eingetreten waren, verabschiedete sich das Gros der palästinensischen Nationalisten von seinem diesbezüglichen Engagement oder legte es zumindest auf Eis. Das geschah in der Hoffnung, der Oslo-Prozeß werde liefern, was die Intifada nicht gebracht hatte. In der ersten Zeit nach der Einigung von Oslo stimmten auch die meisten Palästinenser ihr zu und erwarteten viel von ihrer Durchführung. Das wurde bald anders. Die erhofften Vorteile verflüchtigen sich angesichts der fortdauernden oder intensivierten israelischen Abschnürungs- und Unterdrückungsmaßnahmen und dem Fortgang der Siedlungstätigkeit in den besetzten Gebieten. Gegen Ende der 90er Jahre schwand die Hoffnung weiter, und mit dem Mißerfolg der Verhandlungen von Camp David über einen endgültigen Status der Gebiete im Juli 2000 und dem Ausbruch der neuen Intifada im Herbst 2000 wurde das Scheitern des Prozesses von Oslo deutlich. Oslo scheiterte vornehmlich aufgrund des israelischen Unwillens, Siedlungen in den besetzten Gebieten aufzugeben, und viele seiner Begleiterscheinungen waren für die Palästinenser so unerträglich, daß sich bei ihnen enorme Frustration breitmachte.

Eine Erfolgsstory?

Diese Frustration nutzte Hamas nun relativ geschickt aus. Erstens spielte sie ihren Irredentismus aus, also ihren offiziell verkündeten Unwillen, irgendeinen Teil von Palästina preiszugeben. Das ist angesichts der realen Kräfteverhältnisse völlig unrealistisch, und nachdem die Palästinenser dem von der PLO ja akzeptierten und weithin propagierten 2- Staaten-Programm, also dem Verzicht auf das Staatsgebiet Israels, zugestimmt hatten, verwundert zunächst einmal die zeitweise große Zustimmung für Hamas, das ja weitergehende Forderungen stellt. Aber man kann das erklären: Wenn Israel sich halsstarrig weigert, den Palästinensern wenigstens 22% von Mandatspalästina zuzugestehen, dann will man’s ihnen zeigen, dann erinnert man daran, daß man „eigentlich“ Anspruch auf das ganze Land hat. Sicherlich politisch nicht klug (und von der israelischen Propaganda weidlich ausgeschlachtet!), aber nachvollziehbar. Auch Arafat ist ja gelegentlich zum Konsum fürs heimische Publikum wieder in militante Rhetorik („Jihad“ etc.) verfallen, aber da er auf dem Boden von Oslo stand, war er damit weniger glaubwürdig als Hamas, die den Oslo-Prozeß nie akzeptiert hat. Der Charakter von Hamas als Fundamentalopposition gegen alle Verhandlungen und Kompromißlösungen mit Israel gibt der Organisation seit der Vereinbarung von Oslo einen besonderen Status. Sie tritt seitdem als konsequentester Gegner dieser Vereinbarung auf und kann so von der Enttäuschung über die Ergebnisse des Prozesses profitieren. Zweitens hat Hamas nicht nur eine scharf antiisraelische, sondern eine ausgesprochen antijüdische Ideologie; seine Dokumente, am prominentesten sicher die „Charta“ von 1988, verbinden Elemente des modernen europäischen Rassenantisemitismus mit dem judenfeindlichen Strang der islamischen Tradition.

Und drittens hat Hamas früher, systematischer und massiver als andere Gruppen terroristische Kampfmittel eingesetzt; vor allem Bombenattentate gegen israelische Zivilisten. Diese berüchtigten Selbstmordattentate begannen 1994 nach dem Massaker von Baruch Goldstein in der Hebroner Ibrahim-Moschee. Zunächst waren sie sporadisch, es gab teilweise lange Pausen zwischen ihnen. Seinerzeit dienten sie der spektakulären Ablehnung des Friedensprozesses, sollten ihn wohl auch stören und taten das auch, wenn Israel auf sie mit der erwartbaren Härte antwortete. Manchmal waren sie übrigens auch die Antwort auf provokative israelische Aktionen – so etwa nach der Ermordung des Hamas-Aktivisten Yahya al-Ayyash Anfang 1996. Der Ausbruch der neuen Intifada Ende September 2000 war Ausdruck palästinensischer Verzweiflung und Perspektivlosigkeit; die harte Reaktion der Armee, der viele Palästinenser zum Opfer fielen, verstärkte dieses Gefühl und rief ein Bedürfnis nach Rache hervor. Da hinein stieß Hamas mit neuen Selbstmordattentaten, diesmal zahlreicher und in kürzeren Abständen als in den Jahren davor. Wiederum wirkte hierbei die israelische Armee mit, die mit einer Kombination von flächendeckender Unterdrückung und gezielter Ermordung palästinensischer Aktivisten solche Attentate provozierte und gleichzeitig die Atmosphäre erzeugte, in der sie bei vielen Palästinensern auf Zustimmung stießen – ein zusätzliches Motiv für Hamas (und, später, auch andere Kräfte), solche Anschläge zu unternehmen. Diese Anschläge waren nicht nur unmenschlich; sie trieben auch viele potentiell kritische Israelis in die Zustimmung zur harten Unterdrückungspolitik ihrer Regierung und eskalierten damit den Konflikt. Das sahen auch viele Palästinenser. Es gab immer wieder Aufrufe, diese Attentate zu beenden, insgesamt verringerte sich die Zustimmung für sie, und sie sind ja auch in der Tat sehr viel seltener geworden.

Irredentismus und Militanz festigten das Bild von Hamas als kompromißlos nationalistische Opposition, während die palästinensische Autorität (PA) zumindest offiziell mit Israel vertraglich verbunden war. Überdies galt und gilt Hamas wohl mit Recht als effizienter und weniger korrupt als die PA. Weiter unterhält die Organisation ein weitgespanntes Netz zur sozialen Unterstützung von Bedürftigen, was bei der verbreiteten Not und Arbeitslosigkeit zu ihrem Ansehen beiträgt. Und schließlich kehrt sie ihren islamischen Charakter sehr hervor, und auch das hilft ihr: In schlechten Zeiten wendet man sich gern zu Gott. Alles dies hat die Zustimmung zu Hamas weit über den Kreis seiner festen Sympathisanten hinaus verstärkt, und zwar um so mehr, je mißlicher oder aussichtsloser die Lage war. Das erklärt auch den Wahlsieg der Organisation.

Der Irredentismus von Hamas scheint jede friedliche Regelung unmöglich zu machen. Die antisemitische Diktion ihrer Charta, die Militanz ihrer Sprache, die militaristischen Umzüge mit Masken, Gewehren, Beilen und der Verherrlichung von Selbstmordattentaten bis hin zum Mitführen von Kleinkindern mit Attrappen von Sprengstoffgürteln, die religiöse oder pseudoreligiöse Märtyrerideologie – alles das, wir kennen es zur Genüge aus Presse und Fernsehen, ist widerwärtig. Daß viele Palästinenser dem zustimmen, befremdet. Allerdings: Daß zur Schau gestellte Militanz mit Märtyrerverherrlichung und allem Drum und Dran in den besetzten Gebieten Zustimmung findet, liegt an der unerträglichen Situation unter der Besatzung, für die Israel und diejenigen verantwortlich sind, die ihm sein Verhalten durchgehen lassen. Und das war auch die beste Wahlkampfhilfe für Hamas – auf die Spitze getrieben in den Drohungen, bei seiner Wahl würden die Zahlungen der Geberländer eingestellt.

Bei aller offiziell vertretenen Härte ihrer Position haben die Führer von Hamas in der Vergangenheit auch gezeigt, daß sie kühl kalkulierende Realpolitiker sind. Sie wissen, daß ihre Maximalziele kaum zu erreichen sind. Sie haben sie propagiert, um hoch zu pokern und der eigenen Bevölkerung ihr „hartes“ Gesicht zu zeigen. Sie kennen aber das Kräfteverhältnis und lehnen Kompromisse nicht völlig ab. So haben wichtige Führer mehrfach die Bereitschaft der Organisation angedeutet, bei Zustandekommen einer Zwei-Staaten-Regelung weitergehende Pläne auf Eis zu legen oder völlig zu begraben (siehe z.B. Helga Baumgarten, „Soziale Integration und bewaffneter Widerstand“, Inamo 38, Sommer 2004). Und sie haben sich mehrfach an Waffenstillstandsabkommen beteiligt und sie in aller Regel eingehalten – das letzte Anfang 2005, das bis heute hält!

Wird Hamas als Regierungspartei jeden Ausgleich unmöglich machen? Seinen Irredentismus wird es offiziell sicher nicht schnell aufgeben, kann ihn aber ohne weiteres de facto auf Eis legen, ja wird das tun müssen – in der Regierung eher als in der Opposition! Die antisemitischen Züge der Hamas-Ideologie sind widerwärtig, haben aber Israel nicht von seiner Duldung ihrer Vorgänger, der Muslimbrüder, abgehalten. Auch die hatten das schon im Programm. Terroristische Anschläge hat Hamas schon vor mehr als einem Jahr eingestellt – und es ist kaum anzunehmen, daß es sie als Regierungspartei wieder aufnimmt.

Hamas hat die Wahlen gewonnen. Das läßt sich erklären, wie hier versucht. Es ist kein Anlaß, in Verzweiflung zu verfallen und Katastrophenszenarien zu entwerfen. Es muß kein Hindernis für eine Verhandlungsregelung – und sollte kein Vorwand für deren Unterlassung sein! Die vernünftigste Option ist wohl, auch mit dieser Regierung zu sprechen und in Kontakt zu bleiben; für Israel, mit ihr Verhandlungen aufzunehmen. Irgendein Anlaß zur Freude oder zu gesteigertem Optimismus besteht freilich nicht. Eine Regelung des Konflikts – die ja nach wie vor oben auf der Tagesordnung steht! – wird nicht leichter. Hamas wird das Schwergewicht ihrer irredentistischen Positionen selbst bei gutem Willen nicht ohne weiteres abschütteln können, und angesichts ihrer Vergangenheit wird das israelische Mißtrauen ihr gegenüber noch ungleich größer sein als gegenüber der von Fatah gestellten PA. Der israelische Unwille, überhaupt in Verhandlungen einzutreten, wird sich also noch leichter rechtfertigen lassen als bisher. Und auch für die Palästinenser kann man sich eine angenehmere Perspektive vorstellen, als daß ihnen zusätzlich zur drückenden israelischen Besatzung künftig auch noch der Mühlstein einer Regierung am Hals hängt, die kaum in der Lage sein wird, etwas Effektives gegen die Besatzung zu tun, aber versucht sein dürfte, mit Zwangsmitteln die Islamisierung der eigenen Gesellschaft zu betreiben.

* Alexander Flores, Hochschule Bremen


Dieser Beitrag erschien in: INAMO (Informationsprojekt Naher und Mittlerer Osten e.V.), Heft Nr. 45/Frühjahr 2006, 12. Jahrg., Seiten 4-8

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