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"Die Wahlen wollte die EU, aber das Ergebnis nicht"

Musa Muhammad Abu Marzuq (Hamas) zur Fatah und zum Westen *

Musa Muhammad Abu Marzuq ist stellvertretender Vorsitzender der Hamas und deren Verhandlungsleiter beim innerpalästinensischen Dialog mit der Fatah. Der 59-jährige, in einem Flüchtlingslager in Rafah (Gaza-Streifen) geborene Marzuq war Mitte der 90er Jahre ohne Angabe von Gründen auf einem New Yorker Flughafen verhaftet und nach zwei Jahren nach Jordanien abgeschoben worden. Karin Leukefeld sprach mit ihm für das "Neue Deutschland" (ND) in seinem derzeitigen Exil in Damaskus.

ND: Am Mittwoch (24. Nov.) setzen Sie die Gespräche mit der Fatah fort. Besonders schwierig ist eine Einigung über die palästinensischen Sicherheitskräfte. Warum?

Marzuq: Vorgesehen ist, einen Obersten Sicherheitsrat einzusetzen, der die Truppen kontrollieren soll. Die bislang gültige Regel sagt, dass dieser Rat vom (Fatah)-Präsidenten Mah- mud Abbas eingesetzt wird. Wir sind aber der Ansicht, das Fatah und Hamas gemeinsam über die Besetzung des Gremiums befinden sollten. Die Fatah meint, es sei zwar möglich, dass der Präsident sich mit Hamas berät, aber es sei allein seine Aufgabe, die Mitglieder zu ernennen. Außerdem will Fatah, dass ihre Sicherheitskräfte, die 2007 Gaza verließen, zurückkehren und alle anderen bewaffneten Gruppen im Gaza-Streifen aufgelöst werden. Sie will die alleinige Kontrolle in Gaza, da liegen unsere Ansichten zu weit auseinander.

Die europäischen Staaten unterstützen Ausbildung und Ausrüstung der Sicherheitskräfte, als »unverzichtbare Voraussetzung für einen funktionsfähigen palästinensischen Staat«, wie es in einer Erklärung des deutschen Außenministeriums heißt. Ist diese Unterstützung in Ihrem Sinne?

Das ist nicht leicht zu beantworten. Natürlich wollen wir als Palästinenser unsere eigenen Sicherheitskräfte. Doch die Sicherheitskräfte, die es jetzt im Westjordanland gibt, sorgen nicht für die Sicherheit der Palästinenser, sondern für die Sicherheit Israels und der Siedler.

Das ist ein schwerer Vorwurf.

Sie verhaften diejenigen, die Widerstand leisten oder dem Widerstand helfen; sogar Leute, die nur über Widerstand reden. Kurz gesagt dienen diese Sicherheitskräfte der israelischen Politik. Nach meiner Ansicht sind sie der Hauptgrund für das Wachstum der Siedlungen. Als die Israelis noch selber für ihre Sicherheit sorgen mussten, gab es Hunderte Siedler im Westjordanland, heute sind es Hunderttausende. Diese Art Sicherheitskräfte dienen nicht den Interessen der Palästinenser. Die Europäer helfen uns mit vielen guten Dingen. Sie bauen Schulen, Krankenhäuser, bieten Bildungsprogramme an, aber in Sachen Sicherheitskräfte dient ihre Hilfe nicht. Wenn sie uns helfen wollen, einen palästinensischen Staat aufzubauen, sollten sie aufhören, Israel zu unterstützen, und stattdessen klar sagen, dass es die Unabhängigkeit der Palästinenser anerkennen muss.

Sie erwähnten die Repression durch die Sicherheitskräfte im Westjordanland, doch gibt es auch Berichte über Repression der Hamas im Gaza-Streifen.

Ja, darüber sprechen wir seit zwei Jahren auch mit der Fatah. Und ich mache kein Hehl daraus, dass wir viele Fehler im Gaza-Streifen gemacht haben, so wie sie Fehler im Westjordanland machen. Heute können Sie jedes Gefängnis in Gaza besuchen, und Sie werden keinen politischen Gefangenen dort finden. Aber in allen Gefängnissen des Westjordanlands gibt es Gefangene der Hamas. Das sind keine Verbrecher, das sind politische Gefangene. Unsere Leute in Gaza waren nicht geschult und unerfahren. Sie mussten lernen, wie man mit den Menschen redet und das Gesetz befolgt, und wir geben uns Mühe, unsere Fehler zu korrigieren. Bei uns sind das Fehler, im Westjordanland ist es Politik.

Kürzlich hat der deutsche Außenminister Guido Westerwelle den Gaza-Streifen besucht, sich aber geweigert, mit der Hamas zu sprechen.

Es hätte ihm nicht geschadet, mit unseren Vertretern dort zu sprechen. Er hätte sich die andere Sicht der Dinge anhören sollen. Vielleicht hatte er Fragen zu dem, was er gesehen hat, und es wäre gut gewesen, jemandem zuzuhören, der den Gaza-Streifen organisiert und regiert.

Ich weiß, es ist europäische und deutsche Politik, uns zu isolieren, aber diese Politik ist falsch. Sie sollten mit allen Seiten sprechen. Schließlich ist die Hamas nicht irgendwer, wir haben die Wahlen gewonnen und vertreten die Palästinenser. Wenn Ihr Außenminister wissen möchte, was die Leute wollen, sollte er der Hamas zuhören.

Der frühere USA-Präsident Jimmy Carter, der 2006 die Abstimmung der Palästinenser beobachtet hat, bezeichnete sie als die »demokratischsten Wahlen, die in der arabischen Welt« stattgefunden hätten. Von der EU wurden sie finanziell und logistisch unterstützt.

Nicht nur das. Auch die USA und Ägypten haben uns, die Hamas, gedrängt, an den Wahlen teilzunehmen, das war ja damals nicht unsere Politik. Und dann haben wir kandidiert und gewonnen. Aber sie missachten das Wahlergebnis. Das ist unfair. Nun, wir warten auf die nächsten Wahlen, die hoffentlich genauso sauber verlaufen, und dann werden wir sehen, was die Palästinenser wollen.

Andrew Whitley, ein hochrangiger UN-Vertreter, sprach kürzlich davon, dass die palästinensischen Flüchtlinge »ihre Hoffnung auf das Recht zur Rückkehr aufgeben« sollten. Stimmen Sie dem zu?

Das ist ein Punkt bei den Gesprächen der Fatah mit Israel. Es ist das Ziel des israelischen Staates, ein Rückkehrrecht unserer Flüchtlinge definitiv auszuschließen. Aber alle Palästinenser außerhalb Israels wollen in ihre Heimat zurück, dazu gibt es keine für uns akzeptable Alternative.

* Aus: Neues Deutschland, 22. November 2010


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