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"Zweistaatenlösung ist praktisch unmöglich"

Gespräch mit Rashid Khalidi. Wie die USA den Friedensprozeß in Palästina unterminieren und in Libanon, Irak und Syrien religiöse Konflikte schüren

Interview: Amy Goodman und Aaron Maté *

Rashid Khalidi ist Inhaber der Edward-Said-Professur für Moderne Arabische Studien am Historischen Institut der New Yorker Columbia University und Leiter des Nahost-Instituts der School of International and Public Affiars an derselben Hochschule. »Democracy Now!« sprach mit dem palästinensisch-amerikanischen Wissenschaftler, kurz bevor US-Präsident Barack Obama am 20. März 2013 zum ersten Mal Israel und am Tag darauf das Westjor­danland besuchte.

Amy Goodman: US-Präsident Barack Obama besucht das Westjordanland in einer Zeit wiederauflebender Proteste gegen die israelische Besatzung. Die Not Tausender palästinensischer Häftlinge in israelischen Gefängnissen hat kürzlich Proteste in den besetzten Gebieten ausgelöst. Bewohner der Städte und Dörfer im Westjordanland haben ihre gewaltfreien Aktionen zivilen Ungehorsams fortgesetzt, um zu verhindern, daß ihnen durch die israelische Siedlungspolitik noch mehr Land weggenommen wird. Nicht besuchen wird Obama den Gazastreifen, der weiter unter der israelischen Blockade darniederliegt und sich von den letzten Angriffen Israels im November 2012 noch nicht erholt hat.

Unser heutiger Gast Rashid Khalidi sagt, daß die USA beim Erreichen eines Nahostfriedens eine entscheidende Rolle spielen könnten, wenn sie in ihrer jahrzehntelangen Politik der Unterstützung der israelischen Besatzung zu einer Umkehr bereit wären. Professor Khalidi ist Autor eine Reihe von Büchern zum Nahen Osten. Sein jüngstes ist gerade erschienen. Es heißt »Brokers of Deceit: How the U.S. Has Undermined Peace in the Middle East«. Am 12. März erschien unter dem Titel »Is Any Hope Left for Mideast Peace?« sein Kommentar in der New York Times.

Professor Khalidi, willkommen bei »Democracy Now!« Was sollte Obama in Israel und in den besetzten Gebieten tun?

Rashid Khalidi: Was er tun sollte, ist wahrscheinlich genau das, was er nicht tut, nämlich, wie Sie schon sagten, die Politik mehrerer Jahrzehnte umzukehren. Die Politik, der man bisher folgte, ist vollständig gescheitert. Es war niemals darauf ausgelegt, einen unabhängigen palästinensischen Staat zu errichten oder die Besatzung zu beenden. In meinem Buch zeige ich auf, daß diese Politik in Wahrheit ausgerechnet von Menachem Begin (israelischer Ministerpräsident 1977 bis 1983; d. Red.) entworfen wurde, um die permanente israelische Kontrolle über die besetzten Gebiete aufrechtzuerhalten. Und darin war sie bis heute auch sehr erfolgreich.

Präsident Obama sollte also ein paar Zeichen setzen: Die grundsätzliche Ablehnung der Besatzungspolitik und ihre Beendigung, die Ablehnung der weiteren Absorbierung von Territorium durch Israels Siedlungspolitik. Ich glaube nicht, daß allein dadurch schon das Problem gelöst würde, aber die USA würden sich so von Israel absetzen und deutlich machen, daß wir nicht länger eine Politik finanzieren, die nach meiner Ansicht eine Zweistaatenpolitik bereits praktisch unmöglich gemacht hat und Hürden errichtet hat, die kurzfristig nicht zu beseitigen sein werden.

Aaron Maté: Robert Gibbs, bis Fe­bruar 2011 Obamas Pressesprecher im Weißen Haus, hat im Kabelkanal MSNBC erklärt, der Konflikt sei unlösbar, und die USA könnten nur wenig tun. Was sagen Sie dazu?

Rashid Khalidi: Nun, die USA könnten viel mehr tun als sie derzeit tun. Sie haben in den letzten 35 Jahren den Konflikt dadurch verschärft, daß sie faktisch eine israelische Position unterstützt haben, die nicht darauf abzielte, den Konflikt, die Besatzung oder die Siedlungspolitik zu beenden.

Amy Goodman: Der frühere israelische Außenminister Shlomo Ben-Ami hat 2006 auf »Democracy Now!« erklärt, der israelische Premierminister Yitzhak Rabin habe niemals erwartet, daß das Oslo-Abkommen mit der Schaffung eines palästinensischen Staates enden würde: »Arafat hat in Oslo ein Abkommen erzielt, in dem das Recht auf Selbstbestimmung der Palästinenser und die Notwendigkeit für die Israelis, die Siedlungspolitik zu beenden, nicht einmal erwähnt waren.«

F: Aaron Maté: Professor Khalidi, können Sie etwas zu dieser Äußerung sagen und über Ihre eigenen Erfahrungen sprechen, weil Sie doch Berater der palästinensischen Delegation waren, bevor das Oslo-Abkommen geschlossen wurde?

Rashid Khalidi: Shlomo Ben-Ami hat völlig recht. Leider haben die Leute, die auf der palästinensischen Seite die Verhandlungen führten, sich unsere Erfahrungen, die wir zwei Jahre lang in Washington gemacht, und die Lehren, die wir daraus gezogen haben, nicht zunutze gemacht, und haben ein Abkommen geschlossen, das nicht zur Staatsbildung führte. Tatsächlich gab es darin keinen Passus über die Anerkennung des Rechts der Palästinenser auf einen eigenen Staat oder auf Selbstbestimmung, was nur einer der zahlreichen Mängel des Abkommens ist. Es hatte keine Struktur, die zu einer Lösung des Konflikts hätte führen können. Was die USA machen, ist bestenfalls eine Verwaltung des Konflikts. Dafür kann man die Israelis verantwortlich machen, aber ich halte es für besser, unsere eigene Regierung für diese Farce in die Verantwortung zu nehmen. Das ist reiner Hohn, nichts als ein grotesker Orwellscher Prozeß. Sie benutzen das Wort »Friedensprozeß«. Aber da ist kein Friede. Das läuft jetzt schon seit 35 Jahren so, aber Frieden ist dabei keiner herausgekommen. Die sollten besser sagen, daß es ein Prozeß ist, in dem die USA den Leuten mit Hütchenspielertricks etwas vormachen, aber sie sollten nicht so tun, als wäre das ein Friedensprozeß.

Amy Goodman: Wofür stand Barack Obama, bevor er Präsident wurde? Welche Ansichten vertrat er? Sie haben ihn in Chicago kennengelernt. Sie lehrten dort beide an der Universität. Dann war er Senator in Illinois, bevor er in den US-Senat gewählt wurde. Und wofür steht er heute?

Rashid Khalidi: Als ich 2003 von Chicago wegging, war er noch Senator des Bundesstaats und noch nicht einmal in den US-Senat gewählt. Was er öffentlich äußerte, hatte nichts mit dem Nahen Osten zu tun. Ausnahme war eine Rede, in der er sich gegen den Irak-Krieg aussprach, bevor er begonnen wurde. Auch privat gab er nicht viel von sich, was das Thema betrifft. Er hörte mehr zu. Wir hatten einige Unterhaltungen miteinander. Er war weltgewandt und wußte einiges über die Welt, war sehr intelligent, und ich hatte den Eindruck, daß er ein paar Sachen begriffen hatte.

Aber er war ein Politiker, der nach einem höheren Amt strebte, und er wußte sehr genau, wie das politische Spiel in Chicago, in Illinois, in den USA lief. Nachdem ich aus Chicago weggegangen war und ihn nicht mehr traf, war mir schon lange klar, daß er ein außerordentlich vorsichtiger Politiker war, der nicht auf die zahlreichen Minen treten wollte, die sonst verhindert hätten, daß er ein höheres Amt erreicht. Ich hatte deshalb meine Erwartungen an ihn heruntergeschraubt. Und was ich dann noch von ihm erwartete, hat sich in vollem Umfang erfüllt, leider.

Aaron Maté: Sie beschreiben in Ihrem Buch ein Schlüsselerlebnis im September 2011, als Präsident Obama eine Rede vor der UN-Vollversammlung hielt, in deren Mittelpunkt seine Anerkennung der palästinensischen Bemühungen um einen eigenen Staat stand. In seinen Ausführungen gab er vor, einen palästinensischen Staat zu unterstützen, obwohl er gleichzeitig internationale Diplomaten davon zu überzeugen suchte, diesen abzulehnen. Vor der UNO erklärte Obama weiter, wegen der israelischen Sicherheitsinteressen sei es gerechtfertigt, den Palästinensern ihre Rechte zu verweigern. Was Obama dabei geflissentlich verschwieg, waren die Sicherheitsinteressen der Palästinenser, die Folter der Israelis und das Töten Zehntausender Menschen in den besetzten Gebieten und im Libanon. Was sagen Sie dazu, Professor Khalidi?

Rashid Khalidi: In seiner Rede wiederholte Obama einige der altbekannten Klischees über Israels Opferrolle. Wenn man davon ausgeht, daß Israel ein Land mit großem Sicherheitsbedürfnis ist, spielt die Sicherheit der Palästinenser dann keine Rolle mehr, wenn man die Vorstellung hat, daß dieses Land nur das zuletzt betroffene ist in einer langen Abfolge der Judenverfolgung, wenn man in der Geschichte vom Holocaust zurückgeht bis zur Inquisition und so fort. Das ist jedenfalls die Argumentation, die der Präsident leider in vielen seiner Reden von sich gegeben hat.

Das palästinensische Volk ist in den vergangenen 60 Jahren aus seinem Heimatland vertrieben worden und mußte entweder unter autoritären arabischen Regimes oder unter dem Besatzungsregiment leben. Aber niemand spricht über seine Sicherheit. Die expansive Auslegung dieses Begriffs aus dem israelischen Lexikon schließt mit ein, daß armen Dorfbewohnern im Süden des Westjordanlandes der Zugang zu Trinkwasser verwehrt wird, weil sonst angeblich die Sicherheit Israels gefährdet wäre. Oder man läßt im Namen der Sicherheit keine Teigwaren nach Gaza hinein, weil dieser Begriff aus dem israelisch-amerikanischen Lexikon so weit ausgelegt wird.

Auf diese Weise wird man also zu keiner Lösung kommen. Wenn die USA fortfahren, sich diese einseitige Darstellung Israels zu eigen zu machen – und ich rede hier von dem, was unter mehreren Präsidenten geschehen ist, ich kritisiere nicht nur den amtierenden, sondern auch die Präsidenten Carter, Bush senior und andere –, dann wird man zu keiner Lösung kommen. Dann kommt man nur dahin, wo man schon ist: bei einer Pro-Israel-Position, die zu einer weiteren Absegnung eines sehr, sehr schlechten Status quo führt.

Amy Goodman: Sie plädieren schon seit Jahren für eine Zweistaatenlösung?

Rashid Khalid: Ja.

Amy Goodman: Aber Sie sagen, daß sie jetzt fast unmöglich geworden ist. Warum?

Rashid Khalidi: Weil israelische Planer seit Jahrzehnten systematisch dafür gesorgt haben, einen palästinensischen Staat unmöglich zu machen, indem sie Siedlungen in Regionen gebaut haben, die es dort unmöglich machen, einen zusammenhängenden lebensfähigen palästinensischen Staat zu schaffen – die Siedlung Ariel, die Siedlung Maale Adumim. Die sind so angelegt, daß das Westjordanland in Streifen geschnitten wird, so daß Israel die meisten Gebiete kontrollieren kann, solange diese Siedlungsblocks bleiben, wo sie sind.

Und die USA finanzieren das alles. Wir geben Israel drei Milliarden US-Dollar Militärhilfe, die es zum Schutz seines Besatzungsregimes einsetzt. Diese Waffen dienen angeblich der Selbstverteidigung, aber die Verteidigung eines illegalen Besatzungsregimes ist keine Selbstverteidigung. Und viele dieser Waffen dienen nur diesem einen Zweck. Und durch die sogenannten karitativen Hilfsorganisationen, die nach Paragraph 501 (c) (3) von der Steuer befreit sind und extremistische, gewalttätige, radikale, rassistische Siedler in den besetzten Gebieten mit Geld versorgen, werden wir durch unsere Steuergelder faktisch dazu herangezogen, die Siedlungspolitik zu subventionieren.

Jeder unserer Politiker könnte diese Politik jederzeit beenden. Jeder israelische Politiker könnte sofort beginnen, diesen Prozeß umzukehren. Aber ich sehe nicht, daß das geschieht. Deshalb sage ich, daß die Zweistaatenlösung praktisch unmöglich ist. Wir haben uns faktisch in einem Einstaatenergebnis festgefahren. Es gibt nur einen einzigen Staat zwischen dem Mittelmeer und dem Jordan.

Aaron Maté: Wofür sollten sich also Leute, die Frieden im Nahen Osten wollen, hier in den USA einsetzen?

Rashid Khalidi: Wir sollten uns für die Veränderung der Politik unseres Landes einsetzen. Im jetzigen Stadium kann man die Israelis nicht zwingen, etwas zu tun. Man kann die Palästinenser genauso wenig zwingen, etwas zu tun. Aber wir können unsere eigene Politik verändern. Wir müssen uns also fragen, werden unsere Waffen für jährlich drei Milliarden US-Dollar zur Selbstverteidigung eingesetzt? Israel hat insgesamt 115 Milliarden US-Dollar bekommen, das meiste seit 1973. Mehr als jedes andere Land. Haben wir da nicht die Pflicht, genau hinzuschauen, für welche Zwecke das Geld eingesetzt wird?

Das zweite, was wir tun können, ist, darauf zu achten, daß die Steuergelder, die an diese sogenannten karitativen Organisationen gehen, tatsächlich für karitative Zwecke eingesetzt werden. Wenn damit ein Krankenhaus in Tel Aviv unterstützt wird, fein. Wenn aber Steuergelder in die besetzten Gebiete fließen, verstehe ich nicht, warum die US-Bundessteuerbehörde (IRS) und das Bundesfinanzministerium dagegen nicht genauso hart durchgreifen, wie sie es auch in anderen Fällen tun. Deshalb denke ich, daß wir als Bürger einiges dafür tun können, dafür zu sorgen, daß die USA nicht länger eine Politik ermöglichen und finanzieren, die die meisten US-Amerikaner – und übrigens auch die meisten Israelis – verwerflich finden.

Aaron Maté: In welchem Maß können Ihrer Meinung nach Palästinenser Einfluß darauf nehmen, den Konflikt zu lösen, oder sind sie einfach machtlos? Aber wenn sie Einfluß darauf haben, wie groß ist das Hindernis durch die Spaltung zwischen Fatah und Hamas?

Rashid Khalidi: Sie ist ein großes Hindernis. Eine schrecklich polarisierende Sache. Und das ist die Schuld der Palästinenser. Man kann die USA und Israel bis in alle Ewigkeit beschuldigen, die Spaltung verschlimmert zu haben, aber man kann sie nicht für die eigentliche Spaltung verantwortlich machen. Und solange diese nicht aufgehoben ist – und bis nicht die Politik, für die beide Organisationen stehen, und die, wie ich es sehe, bankrott ist, verändert wird –, besteht für die Palästinenser keine Hoffnung, ihre Situation zu ändern. Das müssen die Palästinenser selbst tun. Es herrscht eine ungeheuer große Unzufriedenheit über die Politik der Palästinensischen Autonomiebehörde in Ramallah. Auch in Gaza herrscht eine enorme Unzufriedenheit mit der Hamas-Regierung, und sie haben die öffentliche Meinung in weiten Teilen gegen sich. Das Problem ist aber, daß diese Leute sehr stark von außerhalb unterstützt werden und ein eigennütziges Interesse daran haben, den Status quo zu erhalten, egal ob sie sich in ihrem Luxus in Ramallah eingerichtet haben oder sich ihrer Vergünstigungen in der Regierung von Gaza erfreuen.

Amy Goodman: Anläßlich des zehnten Jahrestages des Irak-Krieges haben Sie auch sehr viel über Irak geschrieben. Welche Auswirkungen hat die dortige Entwicklung auf den Nahen Osten?

Rashid Khalidi: Die Auswirkungen sind katastrophal. Irak ist das zweite von drei nahöstlichen Ländern, die durch Bürgerkrieg und ausländische Intervention verwüstet wurden. Libanon war das erste. Es ging durch fünfzehn Jahre Hölle. Irak war das zweite. Es hat jetzt zehn Jahre Hölle hinter sich, die noch nicht vorbei ist. Und das von den USA, von Paul Bremer (ab Mai 2003 von US-Präsident Bush jr. eingesetzter Statthalter im Irak; d. Red.) installierte System religiöser Spaltung wirkte so, als wenn man in einen ohnehin kranken Körper noch zusätzlich Gift injiziert. Die USA haben in Irak ein konfessionelles System errichtet, ähnlich dem in Libanon, wo es in rund hundert Jahren drei Bürgerkriege ausgelöst hat. Das hat Wellen in der ganzen Region geschlagen und eine ohnehin angespannte Situation weiter verschärft.

Und was wir jetzt traurigerweise in Syrien erleben, ist, wie ein drittes arabisches Land durch einen Bürgerkrieg verwüstet wird. Das bedeutet nicht nur furchtbare Verluste an Menschenleben, sondern auch die Zerstörung staatlicher Infrastrukturen. Es bedeutet die Zerstörung von Rechtsstaatlichkeit. Es bedeutet die Zerstörung von Gewohnheiten, die seit der Zeit des Osmanischen Reiches über Generationen gewachsen sind und eine bestimmte Regierungsform geschaffen haben. Man kann darüber sprechen, wie schlecht das syrische Regime war oder das irakische oder das konfessionelle System Libanons, aber auch diese Regierungsstrukturen hatten gute Seiten, die zum Beispiel in Irak völlig vernichtet wurden. Und wie in den Fällen Irak und Libanon ist es auch in Syrien nicht einfach ein Bürgerkrieg. Es ist ein Stellvertreterkrieg.

Das Gespräch erschien zuerst am 19. März auf der Website »Democracy Now!« (www.democracynow.org)

Übersetzung: Jürgen Heiser

* Aus: junge Welt, Samstag, 20. April 2013


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