Palästina: Die Initiative kommt wieder von unten
Arafats Auferstehung? Ein Beitrag aus Ramallah
Von Subhi al-Zobaidi
Der folgende Beitrag stammt aus der Schweizer Wochenzeitung WoZ vom 21. März 2002.
... Die deprimierendste und entfremdetste Phase erreichte Palästina vor zwei
Monaten. Denn zusätzlich zur israelischen Belagerung, den nächtlichen
Beschiessungen von Wohngebieten, den Morden und den vielen
Einschränkungen im Alltag trat ein neuer Konflikt zutage. Die
Palästinensische Autonomiebehörde (PNA) hatte den Generalsekretär der
Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP), Ahmed Saadat, verhaften
lassen und damit ein deutliches Signal an die PalästinenserInnen gesandt:
Nichts ist heilig. Diese Verhaftung machte die politischen Gefangenen zum
wichtigsten Thema vieler palästinensischer Parteien. Der Spalt zwischen
der PFLP und den Islamisten auf der einen und der Fatah, der
dominierenden und grössten Partei, auf der anderen Seite vergrösserte
sich. Ich wurde selber Zeuge einer Freitagsdemonstration, bei der
Demonstranten mit Fäusten und Knüppeln aufeinander losgingen anstatt
auf die israelischen Soldaten hundert Meter weiter. Einige Tage danach
stürmten PFLP-Anhänger das Regierungsgebäude, worin sich Jassir
Arafats Büro befindet, und das wichtigste Gefängnis. Glücklicherweise
eskalierten diese Auseinandersetzungen nicht weiter.
Alle waren frustriert: die politischen Parteien, die gegen die israelische
Besetzung kämpften und dafür von den lokalen Polizeikräften verhaftet und
bestraft wurden, aber auch die PNA, denn sie erhielt von den Israelis keine
Gegenleistungen für ihre Hilfe. Von US-Präsident George Bush und dem
israelischen Ministerpräsidenten Ariel Scharon hörten wir nur: «Arafat
muss mehr tun.» Dabei ist klar, dass «mehr tun» Bürgerkrieg bedeuten
würde. Darauf haben die Israelis sorgfältig hingearbeitet.
Das Bild wird deutlicher, wenn man noch etwas weiter zurückschaut.
Immer mehr PalästinenserInnen frustrierte es, dass Selbstmordattentate
das einzige Mittel waren, den Israelis zu schaden. Doch in unseren
Medien gab es nicht eine Stimme, die die dafür Verantwortlichen
aufgefordert hätte, ihre Angriffsziele zu überdenken. Erst vor einigen
Monaten publizierten zwei palästinensische AkademikerInnen, Musa
Budeiri und Rima Hamami, die beide hier in Palästina unterrichten,
gemeinsam einen entsprechenden Artikel in der Zeitung «al-Ayyam». Sie
sprachen für jene grossen Teile der Bevölkerung, die mit
Selbstmordattentaten nicht einverstanden sind und wünschten, wir hätten
andere Mittel für unseren Kampf. Immer mehr Menschen werden sich
bewusst, dass Selbstmordattentate den PalästinenserInnen genauso
schaden wie den Israelis.
Aus dieser Lage gab es keinen Ausweg, keine politische Lösung. Hier,
weit weg von den Medien, aber konfrontiert mit israelischen Helikoptern
und Panzern, wussten wir, was geschah. Scharon drosch auf Arafat und
sein Establishment ein, während er ihn aufforderte, seine Bevölkerung
besser zu kontrollieren. Schritt um Schritt arbeitete Scharon daran, Arafat
und die PNA zu eliminieren.
Doch eine Bevölkerung, die aus mehreren Millionen Flüchtlingen und
hunderttausenden ehemaligen politischen Gefangenen besteht, mit mehr
als fünfzehn politischen Fraktionen und jahrzehntelangem Widerstand
gegen die israelische Besetzung, lässt sich nicht so einfach unter
Kontrolle halten. Das bewies sie. Genau in diesem Moment der
Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit wurde der palästinensische
Widerstand wiedergeboren. Mit vier grossen Angriffen – diesmal wieder
gegen die israelische Armee – wurde Scharon erwischt. Zwei Angriffe
kamen in Gaza zustande (bei einem wurde ein Merkava-Panzer gesprengt)
und zwei in der Westbank. Sie galten Checkpoints, und die meisten dort
postierten Soldaten kamen um. Einer der Angriffe schuf jenes nationale
Symbol, nach dem sich die PalästinenserInnen so lange gesehnt hatten.
Ein einzelner Mann griff mit seinem alten Gewehr einen Checkpoint an und
tötete sieben Soldaten und drei Siedler. Für ein Volk, das von einer
Supermacht links und rechts geschlagen wird, das von der «internationalen
Gemeinschaft» verlassen und von der eigenen Führung verwirrt ist, wirkte
dieser Angriff magisch. Der Mut kehrte zurück.
Die Verwirrung schwand. Der Feind war wieder deutlich auf der Karte
markiert und der Ausweg ebenso. Der lokale Fatah-Führer Marwan
Barghuti rief dazu auf, alle Gewehre auf die Checkpoints zu richten.
Tatsächlich stand die Fatah hinter einigen der Angriffe, was alle, selbst die
Fatah-Führung, überraschte. Fatah gilt hier beinahe als Synonym für die
PNA oder zumindest als Regierungspartei. Für die Israelis gehört die
Fatah Arafat, sie steht unter seiner Kontrolle – wie kommt sie nun dazu,
so etwas zu tun, nach all den Schlägen, die Arafat einstecken musste?
Und die alte Garde der Fatah erkannte die neue Kraft der neuen
Generation von Kämpfern.
Zu Beginn der Intifada schrieb ich in der WoZ über die vielfältigen Kräfte
innerhalb der Fatah, die aus ihrer breiten und pragmatischen Struktur
resultieren (siehe WoZ Nr. 48/00). Ich ging davon aus, nur die Fatah könne
die PNA beeinflussen, dank ihrer Vielfalt: Flüchtlinge, Intellektuelle,
Mittelklasse und Arme gehören ihr an. Gerade weil der Fatah ein
ideologisches Rückgrat fehlt, wie es etwa die islamistischen Dschihad und
Hamas sowie die linken PFLP und DFLP besitzen, kann es innerhalb der
Fatah zu Entwicklungen und Interpretationen kommen, die in anderen
Parteien nicht möglich sind.
Die bewaffneten Angriffe der jungen Fatah-Generation und der anderen
Fraktionen auf Soldaten und Siedler haben die politische Karte des
Widerstands neu gezeichnet. Das Wichtigste dabei ist, dass diese
Angriffe hier riesige Zustimmung erhielten, ganz anders als die
Selbstmordattentate gegen israelische ZivilistInnen. Jetzt können die
Menschen wenigstens die politischen und moralischen Resultate
vergleichen. Und das tun sie auch, in den Zeitungen, in
Fernseh-Talkshows, auf der Strasse. Das Stadtgespräch geht darum,
welche Angriffe heldenhafter sind, und es gilt als heroischer, SoldatInnen
anzugreifen als ZivilistInnen. Wesentlich ist auch, dass diese Angriffe eine
Art nationaler Einheit an der Basis schufen, die auf Regierungs- und
Führungsebene immer noch fehlt. Aus dieser Einheit konnte Arafat jene
Stärke zurückgewinnen, die er nach den politischen Verhaftungen und den
danach drohenden Unruhen verloren hatte.
Die israelischen Menschenrechtsverletzungen, die heftige Aggression
gegen die PalästinenserInnen, fielen auf Scharon und seine Regierung
zurück. Die internationale Entwicklung – Uno-Resolution, EU-Deklaration,
politische Interventionen von Menschenrechtsgruppen – gibt den
PalästinenserInnen eine gewisse Stärke. Und nach den
Friedensvorschlägen des saudischen Kronprinzen Abdallah erscheint
Arafat plötzlich wieder als mächtigster Beteiligter. Und er scheint fähig,
das politisch zu nutzen.
Aus: WoZ, 21. März 2002
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