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"Der Kampf wird lange dauern"

Über den arabischen Frühling, die Rolle des Islam im Nahen und Mittleren Osten und über Perspektiven für die Befreiung Palästinas. Ein Gespräch mit Nayef Hawatmeh *


Nayef Hawatmeh ist Generalsekretär der Demokratischen Front für die Befreiung Palästinas, DFLP. Der 1938 in Salt (Jordanien) geborene Hawatmeh entstammt einer arabischen christlich-orthodoxen Großfamilie, die im ganzen historischen Palästina verstreut lebte. Mit 16 Jahren schloß Hawatmeh sich der Arabischen Nationalbewegung an, war Mitbegründer der Palästinensischen Front zur Befreiung Palästinas und am 22. Februar 1969 Mitbegründer von deren Abspaltung, der DFLP. Hawatmeh studierte in Amman und Moskau Medizin, Psychologie und Philosophie, er promovierte in Moskau über die Entwicklung der nationalen Bewegung zu einer linken Bewegung.

Kurz bevor die Umbrüche in der arabischen Welt begannen, die wir als »Arabischer Frühling« bezeichnen, haben Sie ein Buch über die Rolle und Aufgaben der Arabischen Linken geschrieben …

Das Buch war schon früher fertig, im September 2009, die erste Auflage erschien im Dezember desselben Jahres. 2010 folgten zehn weitere Auflagen des Buches in verschiedenen arabischen Ländern.

Als hätten Sie geahnt, daß solche Umbrüche kurz bevorstünden.

Es war klar, daß es nicht so ruhig bleiben konnte, wie es war. Insbesondere mit den Entwicklungen und den demokratischen Revolutionen in Südamerika, in Asien und in Afrika. Ja, es war wie eine Voraussage, daß die arabische Welt sich verändern würde und daß demokratische Umwälzungen und soziale Gerechtigkeit auch in der arabischen Welt Einzug halten würden. Ein Grund für die Verzögerung ist die dominierende Rolle der herrschenden Religion in der arabischen Gesellschaft. Hinzu kommen die psychologischen, historischen und sozialen Traditionen in den arabischen Ländern.

Warum hat die Religion so eine große Bedeutung in der arabischen Welt?

Anders als Europa haben die arabischen Länder keine historische Phase der Aufklärung durchlebt. Es gab keine industrielle Revolution. Darum ist die gesamte Region hier eher unterentwickelt. In Europa gab es Umbrüche in der herrschenden Religion, es gab Reformen. Daraufhin folgte die industrielle Revolution. In der arabischen Welt gab es das nicht, es gab keine Veränderungen. Die seit jeher herrschenden Mächte waren immer stark genug, sich gegen neue Ideen und Veränderungen, die von aufkommenden, jungen Gruppen gefordert wurden, durchzusetzen und das Neue zu unterdrücken. In Europa entstanden religiöse Reformbewegungen, die Lutheraner, die Calvinisten. Ihnen gelang es, die herrschende Macht der Kirche zu brechen, zu dezentralisieren, und schließlich wurde die kirchliche und religiöse Macht von der politischen Macht getrennt. Diese Entwicklung gab es in der islamischen arabischen Welt nicht. Das historische und das psychosoziale Erbe behinderten den Fortschritt, und jede Macht, jede, auch die, die hier versuchten, demokratische Veränderungen oder ähnliches einzuführen, bediente sich der Repression. Hinzu kommen die Auswirkungen der Gründung von Israel im 20. Jahrhundert und die britische und französische Kolonialherrschaft. Das alles hat die Krisen in den arabischen Ländern vertieft und sie in diesem Zustand der Unterentwicklung gehalten. Die historische Rolle der Religion ist der wichtigste Faktor, warum sich die arabischen Gesellschaften nicht entwickelt haben. Das gilt auch für nicht-arabische, muslimische Länder. Es gibt 22 arabische islamische Staaten, hinzu kommen weitere 35 islamische nicht-arabische Staaten. Weltweit gibt es 57 islamische Länder. Nur eines davon, das kleine Malaysia, hat die Phase der industriellen Revolution durchlebt und hat religiöse Reformen umgesetzt.

Um was für religiöse Gruppen handelt es sich, die heute in der arabischen Welt das Sagen haben?

Es gab individuelle religiöse Vertreter, die in Syrien, Ägypten oder Tunesien selbst im Irak versuchten, religiöse Reformen durchzusetzen. Aber sie erhielten keine Unterstützung von religiösen Einrichtungen, die sie zur Umsetzung der Reformen gebraucht hätten. Statt dessen entstanden politisch-religiöse Parteien. Die hatten keine reformerische Orientierung, sondern nach meiner Einschätzung entstanden sie auf einer faschistischen Grundlage, wie bei der Muslimbruderschaft. So entstand der politische Islam in der arabischen Welt.

Die Umbrüche, bei denen Freiheit, Gerechtigkeit und Demokratie gefordert wurde, begannen vor zwei Jahren. Heute herrschen Gewalt und Kampf, man hört nichts mehr über politische Reformen und Programme. Wohin treibt diese Entwicklung?

Was hier geschieht ist vergleichbar mit dem, was die Europäer im 18. Jahrhundert erlebten. Im frühen 19. Jahrhundert herrschte in Ägypten Mohammed Ali. Er versuchte – ähnlich zu dem, was in Europa geschehen war –, Reformen einzuführen: Demokratie, bürgerliche Freiheiten. Aber er scheiterte und wurde massiv von den hochrangigen Religionsführern des damaligen Ägypten unter Druck gesetzt. Das Kapital verband sich mit den politisch Mächtigen der damaligen Zeit, es entstanden tyrannische Regime. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verschärften die Rückständigkeit, die mangelnde Entwicklung und die Dominanz der politischen islamischen Parteien die Situation. Die islamischen politischen Parteien feilschten ständig mit den tyrannischen Regimen und – während des Kalten Krieges – legten sich selbst mit den USA und einigen europäischen Staaten an. Beispielsweise finanzierte der Religionsstaat Saudi-Arabien, der ein enger Verbündeter der Amerikaner ist, die islamischen politischen Parteien. In Ägypten oder in Syrien, wo diese Parteien verfolgt wurden, unterstützte Saudi-Arabien sie. Deren Vertreter fanden in Saudi-Arabien Zuflucht, wenn sie es brauchten oder wollten. In Syrien verschärfte sich diese Auseinandersetzung vor 40 Jahren (mit der Machtübernahme der Baath-Partei, einer entschiedenen Widersacherin der Muslimbruderschaft, K.L.). Das ist der Hintergrund, vor dem die Aufstände mit dem Ruf nach Demokratie und Freiheit begannen. Ihre Träger waren junge Leute der Mittelschicht, die von den ganz armen Schichten unterstützt wurden. Die Forderungen in Tunesien, in Ägypten und auch hier in Syrien ähnelten sich: Brot, Würde, eine moderne Demokratie und soziale Gerechtigkeit. Der politische Islam spielte anfangs überhaupt keine Rolle.

Wie kam es, daß die ursprünglichen Forderungen und Aktivisten verdrängt wurden?

Inzwischen ist allgemein bekannt, daß Saudi-Arabien und Katar die islamischen politischen Parteien vom ersten Tag an unterstützt haben. In den ersten Monaten sahen wir die jungen Leute der Mittelschicht, dann tauchten die politischen islamischen Parteien auf und bestimmen das Geschehen bis heute. Der Kampf wird lange dauern, doch ich bin überzeugt, daß die islamischen politischen Parteien unfähig sind, für die sozialen, politischen, kulturellen oder wirtschaftlichen Probleme der arabischen Staaten Lösungen anzubieten. Sie haben einfach keine. Ihre Ideologie ist mittelalterlich und ungeeignet für die heutigen Gesellschaften.

Die Palästinenser haben sich ja an den Aufständen nicht beteiligt, obwohl sie doch allen Grund dafür hätten. Warum haben sie sich nicht erhoben?

Die Palästinenser haben lange vor den anderen arabischen Völkern ihren Aufstand begonnen. Vor mehr als 40 Jahren, 1967 nahmen sie ihren Kampf gegen die israelische Besatzung auf, gegen den Raub palästinensischen Bodens. Wir haben eine moderne Befreiungsbewegung aufgebaut, die PLO vertrat verschiedene palästinensische politische Parteien mit ihren unterschiedlichen Ansichten. Seitdem haben die Palästinenser Rechte, die gesamte Welt erkennt die PLO als legitime Vertretung der Palästinenser an, die Vereinten Nationen haben den Staat Palästina in den Grenzen von 1967 anerkannt, mit dem besetzten Ostjerusalem als Hauptstadt. Die Palästinenser haben zwei weitere Aufstände gemacht, die erste Intifadah (1987-1993) und die zweite Intifadah (2000-2003). Die Forderungen waren »Freiheit« und »Unabhängigkeit«.

Sie sind bekannt als Unterstützer der Zweistaatenlösung. Als kürzlich eine Delegation – darunter auch James Carter – die Westbank besuchte, äußerten sie sich anschließend sehr pessimistisch. Sie sagten, es werde keine Zweistaatenlösung mehr geben, weil Israel nichts tue, um diese umzusetzen. Glauben Sie noch immer an die Zweistaatenlösung?

Wir sind davon überzeugt, daß es einen palästinensischen Staat in den Grenzen von 1967 geben muß und wird, mit Ostjerusalem als Hauptstadt, der eine gemeinsame Grenze mit einem Staat Israel haben wird. Es ist das Recht der Palästinenser, selbstbestimmt und frei, in Sicherheit und Stabilität, in einem demokratischen und fortschrittlichen Staat zu leben und ihr eigenes Schicksal zu bestimmen. Ja es stimmt, die Regierung Netanjahu versperrt jeden Weg für eine politische Lösung. Sie setzen ihre kolonialistische Ausdehnung im besetzten Ostjerusalem fort und ignorieren und mißachten alle diesbezüglichen Resolutionen des UN-Sicherheitsrates. Sie schaffen Fakten, die es immer schwieriger machen, die Zweistaatenlösung zu erreichen.

Gibt es für Sie eine Alternative zur Zweistaatenlösung?

Ich bin nicht der Meinung, daß die Zweistaatenlösung gescheitert ist. Aber wenn Sie nach einer Alternative fragen, würde das bedeuten, daß Palästina weiterhin unter ein Mandat gestellt würde, wie zur Zeit der britischen Besatzung (1920–1948). Das wird sowohl von Netanjahu als auch von einer Mehrheit der Israelis abgelehnt. Netanjahu will einen »jüdischen Staat«, in dem die Palästinenser nicht vorkommen. Unter einem Mandat hätten die Palästinenser die gleichen, bürgerlichen Rechte wie die Israelis, aber das wollen die Israelis nicht.

Kann die Gründung eines gemeinsamen Staates die Lösung sein?

Netanjahu, die israelische Rechte und die Extremisten lehnen einen Staat grundsätzlich ab, egal ob er Israel oder Palästina oder sonst wie heißen würde. Sie wollen niemals, daß unsere zwei Völker gleichberechtigt gemeinsam in einem Staat leben. Darum ist es für uns, die Palästinenser die einzige Option, einen eigenen, unabhängigen Staat in den Grenzen von 1967 zu gründen.

Interview: Karin Leukefeld in Damaskus

* Aus: junge Welt, Freitag, 28. Dezember 2012


Hintergrund:

Palästinenser im Syrien-Krieg **

Bewaffnete Aufständische versuchen seit Monaten, die in Syrien lebenden Palästinenser auf ihre Seite zu zwingen. Mitglieder der Hamas hatten bereits 2011 aktiv in den Konflikt eingegriffen und die Kämpfer unterstützt. Aktiv beteiligten sich Palästinenser an der Hilfe für Inlandsvertriebene, teilweise im Rahmen von offiziell nicht anerkannten Organisationen, zumeist im Rahmen der palästinensischen Volkskomitees und – inoffiziell – mit Hilfe der UN-Organisation zur Unterstützung der palästinensischen Flüchtlinge, UNRWA.

Im Januar 2012 zog die Hamas-Führung sich aus Damaskus zurück, wo sie seit dem mißglückten Mordanschlag auf Hamas-Führer Khaled Meschaal in Jordanien (1997) ein festes Quartier hatte. Die linken palästinensischen Organisationen DFLP und PFLP lehnen die Einmischung in den innersyrischen Konflikt ab. Kritik äußern sie auch an der Volksfront zur Befreiung Palästinas – Generalkommando (PFLP-GC), deren Kämpfer sich aktiv an die Seite der syrischen Armee und Sicherheitskräfte gestellt haben.

Das einstige Flüchtlingslager Yarmuk im Süden von Damaskus beherbergt heute knapp 200000 der insgesamt 500000 Palästinenser, die in Syrien leben. Zwar wird Yarmuk von den Palästinensern noch immer als »Lager« bezeichnet, tatsächlich ist es aber ein Stadtteil mit rund einer Million Einwohner. In den umliegenden Ortschaften Tadamoun und Hajar al-Aswat richteten bewaffnete Gruppen seit Sommer 2012 Stützpunkte ein, von wo sie Angriffe auf Yarmuk starteten, das wie ein Puffer zwischen den Außenbezirken und der Damaszener Innenstadt liegt.

Am 16. Dezember starteten die Aufständischen eine Offensive auf Yarmuk und verkündeten wenige Tage später die Einnahme des Lagers. Zehntausende waren vor den Kämpfen in andere Stadtviertel, teilweise zu Verwandten bis in den Libanon geflohen. Berichte von Angriffen der syrischen Luftwaffe auf das Lager wurden offiziell dementiert. Die Armee sei nicht eingeschritten, erklärte Informationsminister Omran al-Zorbi.

DFLP und PFLP forderten in einer gemeinsamen Stellungnahme die Aufständischen (der »Freien Syrien Armee«) auf, sich sofort zurückzuziehen, ansonsten würden die palästinensischen Selbstverteidigungskräfte ihre Wohnviertel verteidigen. Ein DFLP-Vertreter, der anonym bleiben wollte, erklärte gegenüber jW, die Organisationen hätten Waffen an die Bevölkerung verteilt.

Nach dem Rückzug kehrten viele Menschen wieder in ihre Wohnungen in Yarmuk zurück. UNRWA riet allerdings wegen anhaltender Schießereien davon ab. An Weihnachten waren 5775 syrische und palästinensische Vertriebene aus Yarmuk in UNRWA-Schulen und Ausbildungszentren in anderen Teilen von Damaskus registriert.

(kl)

** Aus: junge Welt, Freitag, 28. Dezember 2012


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