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"Jeden Tag können die Planierraupen anrücken"

Israel will humanitäre Hilfsprojekte für Palästinenser dem Erdboden gleichmachen. Ein Gespräch mit Tsafrir Cohen *


Tsafrir Cohen, Nahostreferent von »medico international«, war von 2007 bis 2010 Büroleiter in Ramallah. Er war zuletzt im April im Westjordanland.


Israelische Behörden erteilen Abrißverfügungen für humanitäre Projekte im Westjor­danland, die die Hilfsorganisation medico international errichtet hat. Was soll denn abgerissen werden?

Am Montag haben wir Verfügungen erhalten, die besagen, daß täglich der Abriß unserer Projekte im palästinensischen Dorf Tuba beginnen kann: Sie gelten für Solar- und Windanlagen in dieser Gemeinde im Westjordanland, die »medico international« in Zusammenarbeit mit der israelischen Organisation Comet-ME gebaut hat, damit 80 Menschen dort Strom haben. Insgesamt rund 1500 Palästinenser sind von dieser dezentralen, regenerativen Energieversorgung abhängig. Entgegen dem Völkerrecht hat die israelische Verwaltung den Anschluß an die bestehenden Wasser- und Stromleitungen in den ländlichen Regionen, den sogenannten C-Gebieten, verweigert. Damit diese Menschen nicht ohne Strom sind, haben wir 2009 mit unseren Projekten begonnen. Die israelische Abrißverfügung für Tuba umfaßt nun eine Windturbine und zehn Solarpaneele. Nicht einmal eine Toilette, die andere Helfer dort gebaut haben, wollen die israelischen Behörden der Dorfbevölkerung lassen.

Wie lautet die offizielle Begründung?

Eine Abrißverfügung gibt es dann, wenn keine Baugenehmigung vorliegt. Gemäß der Osloer Verträge von 1993/94/95 zwischen der israelischen Regierung und der PLO sind die israelischen Behörden in den C-Gebieten nicht nur für militärische und sicherheitstechnische Angelegenheiten zuständig, sondern auch für zivile verwaltungstechnische Dinge. Jede Bauabnahme ist von den israelischen Behörden zu genehmigen. Das gilt selbst für banale Dinge, von denen bislang nicht klar war, daß für sie überhaupt eine Genehmigung benötigt würde. Jetzt will die Behörde sogar für bewegliche Solarpaneele eine verlangen – würden wir allerdings danach fragen, hätten wir keine erhalten.

Die Projekte sind mit deutschen Spendengeldern über medico international, aber auch mit finanzieller Unterstützung des Auswärtigen Amtes in Berlin zustande gekommen. Wie reagiert man dort darauf, daß die israelischen Behörden es abreißen wollen?

Das Auswärtige Amt engagiert sich für die humanitären Belange der palästinensischen Bevölkerung in der Projektregion der Südhebronhügeln und stellte medico etwa 600000 Euro für die regenerative Energie zur Verfügung – natürlich ist es besorgt und führt deshalb Gespräche mit den Behörden.

Gibt es weitere Projekte, die Israel abreißen will?

Ja, ähnliche wie in Tuba, nur in anderen Gemeinden. Seit Januar haben wir diese Anlagen aufgebaut und erhielten dafür ebenfalls Abrißverfügungen. Danach gab es einen internationalen Aufschrei, auch von Medien wie der New York Times und auf höchster diplomatischer Ebene. Die israelische Regierung wurde aufgefordert, das sein zu lassen. Deren Antwort ist eindeutig: Wir gehen darauf nicht ein. Jeden Tag können also Planierraupen anrücken und alles abreißen.

Was sind die Folgen für die Bevölkerung?

Zum ersten Mal hatten diese Leute Strom – jetzt soll er ihnen wieder genommen werden. Wenn um sechs Uhr abends die Sonne untergegangen ist, sitzen sie in ihren ärmlichen Behausungen im Dunkeln. Kinder können keine Hausaufgaben machen, der Fernseher läuft nicht. Frauen müssen schwere Arbeiten, wie Butter schlagen und Käse herstellen, wieder mit der Hand verrichten. Kühlschränke funktionieren nicht, deshalb müssen sie jeden Tag wieder 20 Kilometer zum nächsten Markt fahren, um einzukaufen. Sie können ihr Handy nicht mehr aufladen. Insofern können sie, bevor sie losfahren, noch nicht einmal zuvor anrufen, und sich nach dem Preis erkundigen, der sich jeden Tag ändert.

Wie ist Ihre politische Einschätzung dieses Vorgehens?

Die israelische Politik erteilt so einer Zweistaatenlösung faktisch weiterhin eine Absage. Die Palästinenser sollen in die überfüllten städtischen Enklaven Ramallah oder Hebron abgedrängt werden. Aber ohne den ländlichen Raum der C-Gebiete – immerhin 60 Prozent der Westbank! – ist kein lebensfähiger palästinensischer Staat möglich. Darin sind sich auch Bundesregierung, EU, UN und Weltbank einig.

Interview: Gitta Düpertha

* Aus: junge Welt, Donnerstag, 21. Juni 2012


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