Bruderkrieg
Hintergründe des blutigen Konflikts zwischen Hamas und Fatah im Gazastreifen
Von Peter Schäfer, Ramallah *
Im Mai eskalierte der innerpalästinensische Konflikt zwischen der radikalislamischen Hamas und der
Fatah, die gemeinsam eine Regierung stellen. Es geht um die Macht im Staat.
Über hundert Tote forderte der interne palästinensische Konflikt im Gazastreifen in den vergangenen
Monaten. Die Schießereien zwischen offiziellen, von der Fatah kontrollierten Sicherheitsdiensten,
Fatah-Gruppen und Hamas-Milizen dauern in der heutigen Form seit Februar an. Derzeit währt zwar
ein Waffenstillstand. Der ist allerdings alles andere als stabil und nur vor dem Hintergrund der
israelischen Offensive gegen die Hamas zu erklären.
Die Fatah möchte nicht als Kampfgenosse Israels erscheinen, denn dieser Vorwurf wurde ihren
Sicherheitsdiensten von der Opposition schon zu oft gemacht. In Gaza gibt man der internen Ruhe
aber wenig Chancen auf Langzeitwirkung. Damit steht insgesamt die Zukunft der palästinensischen
Einheitsregierung aus Fatah, Hamas und anderen Parteien auf dem Spiel. Der blutige Konflikt
zwischen der Fatah und der Hamas, der sich mit Unterbrechungen im Gazastreifen abspielt, ist
allerdings nicht auf das Westjordanland übergesprungen. Trotz einiger Provokationen durch Fatah-
Milizen – wie Knieschüsse und Entführungen – blieb die Hamas hier ruhig. In einigen Städten gab es
gemeinsame Demonstrationen gegen die Ereignisse in Gaza. Und die großen Familienverbände
unterzeichneten ein Ehrenabkommen, sich nicht gegenseitig zu bekämpfen.
Die Vorgänge im Gazastreifen als Gefecht zwischen Hamas und Abbas-loyaler Fatah zu bewerten,
greift jedoch zu kurz.
Zwölf Monate Hamas-Alleinregierung
Die Hamas bildete im März 2006 eine Alleinregierung, nachdem keine der anderen Parteien ihrem
Koalitionsaufruf gefolgt war. Die Sicherheitskräfte waren fortan zwar Innenminister Siad Siyam
unterstellt. Verschiedene Offiziere machten aber klar, dass eine Zusammenarbeit mit der Hamas für
sie nicht in Frage komme. Faktisch behielt die Fatah auch nach ihrer Wahlniederlage im Januar
2006 die Kontrolle über weite Teile der Palästinensischen Autonomiebehörde, insbesondere die
Sicherheitsdienste. Siyam gründete deshalb die sogenannte Exekutivtruppe im Gazastreifen, eine
Hamas-eigene Polizei. Diese wurde von der Bevölkerung anfangs begrüßt und konnte einige Erfolge
in der Verbrechensbekämpfung aufweisen. Die Fatah-Polizei hatte sich hier in den letzten Jahren
keinen guten Namen gemacht. Kriminelle Banden und Fatah-Milizen sind personell oft nicht zu
trennen. Und die Beamten gehen nur ungern gegen Verbrecher aus der eigenen Bewegung vor,
auch wenn deren Namen und Untaten stadtbekannt sind.
Einheitsregierung Fatah-Hamas
Die Bevölkerung verband große Hoffnungen mit der Bildung der Einheitsregierung, auch hinsichtlich
der internen Sicherheitslage und der gestiegenen Kriminalität. Autodiebstähle und
Schutzgelderpressungen häuften sich im vergangenen Jahr. Insbesondere im Gazastreifen wurden
nicht nur Ausländer, sondern auch Palästinenser entführt. Die Kidnappings waren anfangs
politischer Natur. Mit der Zeit mehrten sich aber Forderungen nach Lösegeld.
Angesichts der parteipolitischen Zwickmühle eines Innenministers einigten sich Hamas und Fatah
auf den Unabhängigen Hani Qawasmi. Dieser schaffte es jedoch nicht, die Sicherheitsdienste unter
seine Kontrolle zu bringen und trat vor Kurzem wieder zurück. Nun besetzt Premier Hanija von der
Hamas, der auf die offiziellen palästinensischen Sicherheitsorgane überhaupt keinen Einfluss hat,
diese Position.
Die Fatah hat sich in den letzten Jahren immer mehr fragmentiert. Die Bewegung versteht sich seit
Ende der 1960er Jahre als Bewegung für alle Palästinenser und ist ideologisch diffus. Der Idee nach
vereinigt sie Säkulare und Islamisten, politisch Rechte und Linke. Heute verläuft sich die Fatah in
diese verschiedenen Einzelströmungen.
Ein wichtiger Grund dafür ist die seit 1989 unveränderte Führung. Die Basis fordert seit Jahren die
Reform der Organisation, scheitert aber an den Chefs. Diese stellen seit 1993 auch die Führung der
Autonomiebehörde, und sie kontrollieren mit etwa 100 Monopolen große Teile der palästinensischen
Wirtschaft. Diese Kompradorenbourgeoisie lebt sehr gut mit der israelischen Besatzung und genießt
Bewegungsfreiheit. Sie verdient beispielsweise Millionen mit Zementlieferungen für den Bau der
israelischen Mauer innerhalb des Westjordanlands. Und die Wasserressourcen, die im trockenen
Gazastreifen nach Räumung der israelischen Siedlungen zugänglich wurden, sind nun in
Privathand. Das Wasser kommt nicht der Bevölkerung zugute, die Trinkwasser in Flaschen kaufen
muss, sondern damit werden Blumen für den Export produziert, die oft an den geschlossenen
Grenzen verrotten.
Die jüngere Generation der Fatah ist mit dieser Entwicklung nicht zufrieden. Sie genießt zwar die
Unterstützung der Basis, hat jedoch wenig Einfluss auf die Parteipolitik. Die Parteikasse ist für sie
unerreichbar und sie erhält nur wenig Gelegenheit zum Aufbau eigener politischer Kontakte ins
Ausland. So war die im September 2000 begonnene Intifada anfangs ein Aufstand gegen die Fatah-
Führung/Autonomiebehörde. Fatah-Aktivisten wollten mit der militanten Revolte zeigen, dass sie die
politischen Geschicke bestimmen. Arafat vermochte jedoch, den bewaffneten Unmut gegen Israel
umzuleiten. Falls es zur dritten Intifada kommt, und dessen sind sich hier viele sicher, wird diese
zunächst gegen die »Sulta«, die Autonomiebehörde, gerichtet sein. »Sulta« ist auch heute noch,
über ein Jahr nach Regierungsantritt der Hamas, Synonym für die Fatah-Führung.
Der politische Kopf der Jungen im Westjordanland ist Marwan Barguti (nicht zu verwechseln mit dem
ehemaligen Präsidentschaftskandidaten Mustapha Barguti). Er sitzt allerdings seit April 2002 in
israelischer Haft wegen des Vorwurfs der Unterstützung von Angriffen gegen israelische Siedler im
Westjordanland.
Im Gazastreifen wird der Großteil der Fatah-Basis von Muhammad Dahlan angeführt. Im Gegensatz
zu Barguti ist er allerdings nicht nur in Freiheit, sondern unterhält beste Beziehungen zu Israel, den
USA und der Europäischen Union. Und er ist es, dem Palästinenser die Schuld für das Versagen
von Innenminister Qawasmi zuschreiben.
Dahlan ist Gründungsmitglied der Fatah-Jugend und machte sich in der Intifada gegen die
israelische Besatzung ab 1987 einen Namen. Sein Einfluss war groß genug, dass sich Arafat
veranlasst sah, ihm 1994 einen guten Posten in der neu gegründeten Autonomiebehörde zu geben.
Dahlan leitete fortan die stärkste Polizeitruppe der Palästinenser im Gaza-Streifen, die »Präventive
Sicherheit«. In dieser Funktion baute er eine Truppe militärischer und ziviler Beamter von
mindestens 20 000 Personen auf. Heute ist er Berater von Präsident Abbas in Fragen nationaler
Sicherheit.
Abbas, Dahlan und Israel
Aus westlicher Sicht gibt es nun zwei unterstützenswerte Fatah-Politiker. Der eine ist Präsident
Abbas, dessen Truppe von den USA mit Geld, Waffen und Training gegen die Hamas aufgebaut
werden soll. Abbas steht allerdings für Dialog mit und politische Einbindung der Hamas. Er will keine
weitere arabische Diktatur.
Der zweite ist Dahlan, verbriefter Gegner der Hamas. Seine Präventive Sicherheit ging in den
1990er Jahren massiv gegen die Islamisten vor. Oppositionelle wurden gefoltert, einige starben im
»Verhör« unter ungeklärten Umständen. Durch sein Vorgehen hat er sich über die Jahre einen guten
Ruf in Israel und den USA erarbeitet. Im April 2002 sagte der damalige israelische
Verteidigungsminister Ben-Eliezer vor einem Knessetausschuss aus, dem Fatah-Führer die
Kontrolle über den Gaza-Streifen angeboten zu haben. Dahlan wird auch von Organisationen aus
Europa hofiert.
Zur Kontrolle über Gaza kam es dann zwar nicht. Über die Präventive Sicherheit und bewaffnete
Fatah-Gruppen ist Dahlan jedoch in der Lage, die Geschicke des abgeriegelten Gebiets zu
bestimmen. Viele sehen ihn beispielsweise hinter den Angriffen gegen Kirchen und ausländische
Vertretungen in Gaza im Januar 2006 nach der Veröffentlichung der Muhammad-Karikaturen in
Dänemark. Die Botschaft des gestifteten Chaos war: Hamas kann die Lage ohne die Fatah nicht
kontrollieren.
Blutiger Kampf um die Macht
Polizei und Sicherheitsdienste haben sich nicht für die Hamas geöffnet. Diese hat die letzten Jahre
deshalb zur Waffenbeschaffung und zum militärischen Training genutzt. Und das hat sich offenbar
bezahlt gemacht. Bewohner Gazas berichten, dass Hamas-Kämpfer denen der Fatah überlegen
sind. Das soll ausgenutzt werden, bevor die Fatah-loyalen Sicherheitsdienste mit Hilfe der USA und
Ägyptens aufgerüstet und besser ausgebildet sind. Denn dann, so die Befürchtung der Hamas, ist es
zu spät.
Allerdings beteiligen sich nicht alle Fatah-Milizen und Sicherheitsdienste an den Schießereien.
Beispielsweise erklärte ein einflussreicher Anführer von Fatah-Milizen in Gaza, Ahmad Hils, dass
sich seine Gruppe gegen eine Konfrontation mit der Hamas ausspreche.
»Die Schlacht führen wir ganz klar mit Dahlan und seinen Leuten und nicht mit der Fatah als
Ganzes«, erklärte der Parlamentsabgeordnete Salah Bardawil gegenüber Associated Press. Und in
dieser Schlacht geht es darum, wer den Gazastreifen in Zukunft regiert: Muhammad Dahlans Fatah
oder die Hamas, eventuell zusammen mit anderen Bewegungen.
Im Westjordanland ist die Hamas dagegen schwach. Sie konnte hier keine dem Gazastreifen
ähnliche Struktur herausbilden. Aber hier hat auch Muhammad Dahlan keinen Einfluss auf die
Fatah. Das versuchte er vor einigen Wochen zwar zu ändern, indem er im verarmten Jenin 2000
Dollar pro Person an die Mitglieder der lokalen Fatah-Milizen austeilte, so ein Bewohner der Stadt.
Gewirkt habe das zunächst nicht. Aber die Armut lasse sich sicher ausnutzen. Auch die Polizei hat
seit über einem Jahr nur einen Bruchteil ihres Gehalts bezogen. Motivieren tut das nicht.
Ziel: Vorgezogene Neuwahlen
Dahlan strebt Neuwahlen an. Und das klappt nur, wenn die Front zwischen Hamas und Fatah nicht
zur Ruhe kommt und die Einheitsregierung scheitert. Eine Umfrage der Universität Nablus vom 19.
Mai zeigt, dass die Fatah mit 41 Prozent im Gazastreifen die besten Chancen hätte. Nur ein Fünftel
der Bevölkerung würde für die Hamas stimmen.
Dahlan als Machthaber in Gaza bedeutet israelische Sicherheitsgarantien gegen verstärktes
Vorgehen gegen die Opposition. Die wird sich allerdings nicht mehr so einfach unterdrücken lassen
wie in den 1990er Jahren. Mit dem Abschuss weiterer selbstgebauter Raketen auf Israel könnte sich
die Hamas dann leicht als einzige Widerstandsgruppe gegen die israelische Besatzung darstellen.
Die internationale Unterstützung für Dahlan zeigt allerdings, dass im westlichen Ausland eine Option
bevorzugt wird, die in vielen arabischen Staaten seit langem Praxis ist: der undemokratische
Polizeistaat.
Die zweite Option wäre die von der Mehrheit der Palästinenser gewünschte: Unterstützung von
Präsident Abbas und volle Einbindung der Hamas in die politische Struktur. Nur so können sich die
verschiedenen Kräfte friedlich gegenseitig kontrollieren und eine gemeinsame Lösung für den
Konflikt mit Israel erarbeiten.
* Aus: Neues Deutschland, 2. Juni 2007
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