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Ein Hamastan und ein Fatahstan?

Helga Baumgarten über einen Verzweiflungsaufstand, die Spaltung der Palästinenser und Europas Vorurteile

Nur geringe Erfolgschancen räumen unabhängige politische Beobachter den jüngsten Nahost-Initiativen zur Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts ein. Die Androhung Israels, den Gaza-Streifen zum "feindlichen Gebiet" zu erklären, löst weltweit Entsetzen aus. Ohne Einbeziehung der Hamas in den Verhandlungsprozess gibt es keine realistische Friedensperspektive, meint die Politikwissenschaftlerin Helga Baumgarten. Mit der Professorin von der Birzeit Universität, Palästina, und Direktorin des Magisterprogramms "Democracy and Human Rights" sprach Adelbert Reif für die Tageszeitung "Neues Deutschland". Wir dokumentieren im Folgenden das Gespräch.



ND: Frau Professor Baumgarten, die Ereignisse in den palästinensischen Gebieten vermitteln ein widerspruchsvolles Bild. Wie beurteilen Sie die Situation?

Prof. Baumgarten: Was die Sicherheitslage im Gaza-Streifen betrifft, herrscht weitgehend Ruhe. Die Hamas ist dabei, die Waffen einzusammeln und ähnliches mehr. Das Problem sind die nahezu tagtäglichen israelischen Angriffe mit vielen Todesopfern auf der palästinensischen Seite und die Abriegelung des Gaza-Streifens. Das Westjordanland wiederum wird zu einem Großteil von der israelischen Armee kontrolliert. Es ist ein bis heute von den Israelis besetztes Land. In den palästinensischen Städten und in den wenigen Dörfern im Umland versucht die Fatah, Hamas-Leute zu verhaften. Wo sie die Kontrolle hat, ist sie dabei, die Hamas völlig zu eliminieren.

Hat die Spaltung der Palästinenser einen Grad erreicht, der keine Perspektive mehr bietet?

Die gesamte Situation scheint völlig verfahren, ohne jegliche Zukunftsperspektive. Es sei denn, man zwingt beide palästinensischen Gruppen an den Verhandlungstisch. Aber danach sieht es im Augenblick nicht aus. Es gibt wohl nur eine kleine Gruppe, zum Beispiel auch in der Arabischen Liga, angeführt von Katar, die nach wie vor Verhandlungen zwischen den beiden zerstrittenen Parteien als einzige zukunftsweisende Perspektive betrachtet. Der Westen, die USA und die EU, setzt eindeutig nur auf Mahmud Abbas. Doch ist kein Szenario erkennbar, welche Lösung das bringen soll.

Könnte eine andauernde »Trennung« der Palästinenser den Gaza-Streifen zu einer Art »Hochburg des Terrorismus« werden lassen?

Das steht zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht zu befürchten. Es könnte nur unter der Voraussetzung geschehen, dass Israel versuchen sollte, den Gaza-Streifen wirklich auszuhungern und parallel dazu seine Angriffe fortzusetzen oder sogar noch zu steigern. Dann wären weitere Selbstmordattentate und überhaupt Entwicklungen hin zu extremistischen Widerstandsformen aller möglichen Art nicht auszuschließen.

Woher erhält die Hamas ihre Unterstützung an kriegstechnischem Material?

Seit die Hamas die Fatah aus dem Gaza-Streifen vertrieben hat, besitzt sie die Verfügungsgewalt über alle jene Waffen, die die USA, Israel und die arabischen Staaten an die Fatah geliefert haben. Doch sollte man sich keinen übertriebenen Vorstellungen hinsichtlich der militärischen Qualität dieser Waffen hingeben: Sie sind alles andere als technisch hoch entwickeltes Kampfmaterial. Das gilt auch für die selbst gefertigten Kassam-Raketen, mit denen Israel aus dem Gaza-Streifen beschossen wird: Sie sind weder verlässlich noch zielsicher. Der Unterschied zwischen den Leuten der Hamas und einem Großteil der Fatah-Leute besteht darin, dass die Hamas-Leute unter einer klaren Führung stehen und diszipliniert sind. Eine disziplinierte und ideologisch eindeutig orientierte Gruppe vermag auch mit wenigen Waffen sehr viel mehr zu erreichen als lose zusammengewürfelte Gruppierungen, denen eine eindeutige Orientierung fehlt.

Aber selbst die straffeste Disziplin kann eine »soziale Explosion« der Menschen im Gaza-Streifen nicht verhindern …

Mit einem Verzweiflungsaufstand der Menschen gegen die totale Abriegelung des Gaza-Streifens von der Außenwelt durch Israel muss natürlich gerechnet werden – und darin liegt auch das Dilemma der Hamas-Führung, seit sie im März 2006 an die Regierung kam. Man möchte die palästinensischen Gebiete entwickeln, die Situation der Menschen verbessern, nur wurde die palästinensische Autorität, wie sie 1994 geschaffen wurde, so vollständig von Israel sowie von Europa und den USA abhängig gemacht, dass es einen langen Prozess brauchen würde, um eine einigermaßen selbstständige und nachhaltige Entwicklung in Gang zu setzen. Das lässt sich nicht realisieren, ohne eine längere Periode der kontinuierlichen Unterstützung aus dem Ausland.

Wie bewertet Israel die Gefahr, dass es zu einem »Verzweiflungsaufstand« der Bevölkerung im Gaza-Streifen kommt?

Israel scheint sich der Gefahr, dass der Gaza-Streifen möglicherweise explodieren könnte, durchaus bewusst zu sein. Daher hat man sich wohl – zumindest für die nächste Zeit – entschieden, die Grenzstellen zum Gaza-Streifen zwar nicht zu öffnen, aber doch kontrolliert so viele Güter durchzulassen, dass die Menschen überleben können. Das ändert freilich nichts an dem Grundproblem: Wie lange kann das weitergehen?

Im Westen zirkulieren alarmierende Nachrichten über die Herrschaft der Hamas in Gaza, die den Charakter eines rigiden islamistischen Regimes trage …

Nach meinen Informationen stimmt nichts von dem. Was das Tragen von Kopftüchern betrifft, so ist es unsinnig zu sagen, es sei ein »Kopftuchgebot« erlassen worden. Der Gaza-Streifen ist ein sehr konservatives Gebiet und die überwiegende Mehrheit der Frauen zieht Kopftücher auf, weil das Teil ihrer Auffassung von Religion ist. Zur Pressefreiheit lässt sich sagen, dass die Bewohner des Gaza-Streifens alle Fernsehstationen über Satellit empfangen können. Alle großen arabischen Fernsehsender sind mit Korrespondenten am Ort vertreten und berichten über die Vorgänge aus den unterschiedlichsten Perspektiven. Von einer »Verfolgung der Christen« kann ebenfalls keine Rede sein. Nach Gesprächen, die ich mit Christen aus dem Gaza-Streifen führte, verhält es sich eher umgekehrt: Seit die Hamas die Macht übernommen hat, ist die Situation der Christen eine bessere als zuvor. Natürlich kann niemand voraussagen, wie sich die Dinge in der Zukunft entwickeln werden. Aber laut der politischen Programmatik der Hamas, insbesondere ihrer Führung, steht nicht zu erwarten, dass sie Zuflucht zu totalitären Maßnahmen nehmen wird.

Eine Reihe palästinensischer Schriftsteller warf der Hamas vor, sie strebe eine vollständige Vernichtung der säkularen palästinensischen Kultur an ...

Es gibt im Westjordanland säkulare Intellektuelle, die genauso falsch informiert sind über die Hamas und dieselben Vorurteile pflegen, wie sie im Westen vorherrschen. Gewiss fühlt sich jeder säkular denkende Mensch beeinträchtigt durch die Möglichkeit, dass die Religion eine immer größere Rolle in der Öffentlichkeit spielt. Nur verläuft dieser Prozess schon seit vielen Jahren, auch ohne die Hamas.

Welche politischen Folgen hätte eine Spaltung der palästinensischen Gebiete in »Hamastan« und »Fatahstan«?

Es ist schwierig, hier von politischen Folgen zu sprechen. Im Augenblick haben wir es mit einem Stillstand zu tun. Dieser Zustand ist für alle Beteiligten – für die Palästinenser insgesamt, für Israel, für den Westen – letztlich unhaltbar. Daher denke ich, dass über kurz oder lang die Einsicht kommen wird, dass diesem Zustand ein Ende bereitet werden muss. Ich kann mir auf längere Sicht nicht vorstellen, dass selbst Israel mit dieser Trennung glücklich werden würde. Als Folgen für die nächsten zwei Jahre sehe ich entweder eine Explosion von solcher Stärke, dass sie alles mit Gewalt überziehen wird, oder die politische Reaktion im Sinne einer Rückkehr an den Verhandlungstisch. In einer dauerhaften Spaltung kann ich keine realistische politische Perspektive erkennen.

Dennoch setzen der Westen und Israel politisch auf »Fatahstan«. Geht diese Festlegung an den politischen Realitäten vorbei?

Es ist mir unverständlich, wie es im Westen zu einer derart eklatanten Fehleinschätzung der Fatah gekommen ist und dass sie weiter aufrechterhalten wird. Man zählt die Fatah-Leute offenbar den Säkularen zu. Das ist ein grotesker Irrtum. Die Fatah-Anhänger sind nicht anders als die Hamas-Anhänger. Zwischen ihnen bestehen zum Teil nur graduelle Unterschiede. Vor allem ist die Fatah – genau wie die Hamas – als Organisation davon abhängig, ob Israel, das ja die Besetzung aufrechterhält, irgendeine Lösung anbietet.

Wenn Israel das Westjordanland, die Golan-Höhen und den Gaza-Streifen tatsächlich räumen würde: Wäre dann der israelisch-palästinensische Konflikt im Wesentlichen behoben?

In dem Augenblick, da Israel auch nur ernsthafte Signale geben würde, dass das Ende der Besatzung in greifbare Nähe rückt, wäre der entscheidende Durchbruch zu einer Lösung des Konflikts erreicht. Ein solches Signal würde von den Palästinensern sofort honoriert werden: Das gilt 100-prozentig für die Fatah und das gilt, denke ich, zu 99,9 Prozent auch für die Hamas insgesamt und zu 100 Prozent für die Hamas-Führung, die sich ja klar für eine Lösung auf der Basis des palästinensischen Staates im Westjordanland und im Gaza-Streifen mit Ost-Jerusalem als Hauptstadt ausgesprochen hat.

Halten Sie es für denkbar, dass die israelische und westliche Ablehnungsfront gegenüber Verhandlungen mit der Hamas aufbrechen könnte?

Ich hätte gedacht, dass nach dem totalen Scheitern der amerikanischen und europäischen Politik seit dem vergangenen Jahr die Verantwortlichen endlich einsehen würden, wie kurzsichtig diese Politik eigentlich ist. Das ist offensichtlich nicht geschehen. Permanent wiederholen die USA und die EU dieselben Fehler. Von der EU wurde die Hamas sogar auf die »Terrorliste« gesetzt. Alle, die näher an der palästinensischen Wirklichkeit dran sind – Persönlichkeiten aus Israel, aber auch meine Fachkollegen – erklären ganz eindeutig: An der Hamas kommt keiner vorbei. Sie ist die wichtigste politische Kraft im heutigen Palästina. Ich habe den Eindruck gewonnen, dass Europa und die USA alles unternehmen, um den Konflikt nicht einer Lösung zuzuführen, sondern ihn am Leben zu erhalten und jegliche Lösung der Problemlage systematisch zu vereiteln. Für die nächste Zukunft sehe ich weit mehr Gewalt als rationales politisches Handeln am Werk – zum Schaden für die Palästinenser, zum Schaden für Israel und letztlich auch zum Schaden für Europa.

* Aus: Neues Deutschland, 22. September 2007


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