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Barri Atwan: "Ein gemeinsamer Staat in Palästina"

Der Chefredakteur der arabischen Zeitung "Al-Quds" hat eine Vision: das Friedensmodell Südafrika

Im Folgenden dokumentieren wir ein Interview, das René Gralla für die Wiener Zeitung "Die Presse" Anfang Januar 2004 geführt hat. Mit bestem Dank für die Überlassung des Manuskripts.


Barri Atwan unterbreitet einen unkonventionellen, radikalen Friedens-Vorschlag

Die Presse: Sie sind Palästinenser, geboren in einem der Flüchtlingslager von Gaza. Was ist Ihre Bilanz, nach einem weiteren Jahr voll enttäuschter Friedenshoffnungen?

Barri Atwan: Israels Premier Ariel Scharon befindet sich in einer verzweifelten Lage. Er sah sich mit mehreren Vorstößen auf internationaler Ebene konfrontiert, um den Palästina-Konflikt zu lösen. Aber Scharon will jede dieser Friedensinitiativen ins Leere laufen lassen. Deswegen versucht er immer wieder, Öl ins Feuer zu gießen und neue Gewalt zu provozieren. Seine Soldaten töten in Gaza die Mitglieder des islamischen Jihad. Zugleich fährt er fort, eine Mauer zwischen Israel und den Palästinensergebieten ziehen zu lassen, und er hat mehr als 60 Prozent der Westbank konfisziert. Im Ergebnis kreiert also Scharon die Probleme, unter denen die Menschen in der Region leiden. Und was sind die Konsequenzen? Radikale Elemente unter den Palästinensern reagieren entsprechend und schicken ihre Selbstmordangreifer nach Israel.

Die Regierung Scharon stellt die Lage ganz anders dar. Da sind die israelischen Operationen nur Reaktionen auf Terroranschläge oder sollen Attentaten vorbeugen.

Atwan: Meine Familie lebt in Rafah. Vor wenigen Tagen hat ein Geschoß unser Haus um 50 Meter verfehlt. Ich habe Angst um meine Angehörigen und weiß also, wovon ich rede. Die israelische Armee ist in das Flüchtlingslager Rafah eingedrungen, nachdem es zwei Monate lang nicht die geringste Gewaltanwendung auf Seiten der Palästinenser gegeben hatte. Scharon will keinen Frieden; er will bloß die Erniedrigung des palästinensischen Volkes fortsetzen.

Wenn er tatsächlich keinen Verhandlungsfrieden will, wie Sie ihm unterstellen: Welcher Logik soll denn dann die gegenwärtige Politik Israels folgen?

Atwan: Ein Verhandlungsfrieden müsste dazu führen, dass Israel die besetzten Gebiete räumt. Gleichzeitig wäre auch über das Rückkehrrecht der palästinensischen Flüchtlinge zu diskutieren. Das will Ariel Scharon nicht, deswegen rennt er buchstäblich vom Friedensprozess weg.

Vor der neuerlichen Welle der Gewalt hat Scharon doch viel versöhnlicher geklungen, als Sie das darstellen. Da hat er sogar von "schmerzlichen Konzessionen" gesprochen.

Atwan: Damit kann er nur die Palästinenser gemeint haben, deren Leben er noch elender macht. Der Mann spielt bloß mit Worten. Der Besuch des ägyptischen Außenministers war kaum vorüber, weniger als 24 Stunden, da schickte Israel schon seine Panzer nach Rafah - das direkt an der ägyptischen Grenze liegt. Ein klares Signal Richtung Kairo: "Ihr seid uns egal, Eure Vermittlungsversuche respektieren wir nicht."

Der deutsche Außenminister Joschka Fischer hat jetzt wieder davor gewarnt, die Gewalt im Nahen Osten erneut eskalieren zu lassen. Reichen solche Appelle noch aus?

Atwan: Die bisherige Haltung der Europäer ist viel zu weich. Das ermutigt Scharon, seine Politik fortzusetzen - eine Politik, die zunehmende Instabilität im Nahen und Mittleren Osten erzeugt. Das wiederum begünstigt radikale Organisationen wie Bin Ladens al-Qaida. Europa liegt nahe am Mittleren Osten, die Europäer sollten sich also Sorgen um ihre Sicherheit und Stabilität machen. Entweder stoppt Europa die unmenschliche Politik der Scharon-Regierung oder Sie werden die Konsequenzen spüren - mehr Terrorismus, mehr Flüchtlinge. Deswegen müssen die Europäer zu Israel sagen: "Genug ist genug."

Sie wissen doch nur zu gut: Wegen der Last der Vergangenheit, wegen des besonderen Verhältnisses zu Israel kann Europa nur schwerlich Druck auf Jerusalem ausüben.

Atwan: Auch viele Israelis sind bestürzt über das Vorgehen Scharons. Seit dem Beginn der Intifada starben beinahe 3600 Palästinenser, 49.000 wurden verletzt. Wann endlich erhebt Europa seine Stimme gegen diese unmenschliche Politik?

Der Krieg gegen den Irak ist von den USA unter anderem auch mit dem Argument begründet worden, der Sturz des Regimes in Bagdad würde ein gewichtiges Hindernis auf dem Weg zu einer umfassenden Friedensregelung im Nahen Osten beseitigen.

Atwan: Die Amerikaner haben ein Problem gelöst - und sich zehn neue geschaffen. Sie haben den Irak angegriffen, um den Terrorismus zu stoppen. Aber was ist geschehen? Seitdem sie in Bagdad einmarschiert sind, hat auch der Terrorismus zugenommen. Die Amerikaner ziehen Radikale aus der ganzen Welt an, die gegen die US-Besatzer kämpfen wollen. Und al-Qaida hat einen neuen Stützpunkt gefunden: Irak.

Momentan heißt der heimliche Sieger nicht Bush, sondern Osama Bin Laden?

Atwan: Osama bin Laden hat den größten Traum seines Lebens wahr gemacht. Er hat mir einmal persönlich gesagt: Es wäre für ihn ein beispielloser Erfolg, wenn es ihm gelänge, die Amerikaner nach Arabien zu bringen, auf seinen eigenen Grund und Boden. Das hat er geschafft. Das wird am Ende schlimmer als Vietnam.

Sie sind einer der wenigen Journalisten, die Osama bin Laden interviewt haben. Ist er tatsächlich noch am Leben?

Atwan: Ich nehme an, dass er lebt und bei bester Gesundheit ist. Die angeblichen Nierenprobleme sind nur eine der vielen Geschichten, die über ihn verbreitet werden.

Zurück zum Ausgangspunkt: Wie sollte ein Friedensplan für Nahost aussehen?

Atwan: Ich träume von einer Lösung wie in Südafrika. Wir leben in einer multi-kulturellen Welt. Die multikulturellen USA haben sich zu einer Supermacht entwickelt. Europa verwandelt sich in einen multi-ethnischen und multi-religiösen Kontinent. Warum soll sich da Israel zurückentwickeln zu einem Zustand, den es vor 2000 oder 4000 Jahren gegeben hat, und ein Staat exklusiv für jüdische Menschen bleiben? Warum können wir in Palästina nicht alle zusammenleben? Das Vorbild Südafrika sollte auf Palästina übertragen werden: one man, one vote. Palästina ist ein kleines Gebiet: Wir können es nicht zerteilen. Lasst uns gemeinsam daran Anteil haben, als Gleiche unter Gleichen.

Ein gemeinsamer jüdischer und arabischer Staat, nach so viel Blutvergießen?

Atwan: Ja. Auch in Südafrika ist viel Blut vergossen worden. Auch zwischen Deutschland und Frankreich - und doch leben beide heute friedlich zusammen in der EU.

Da sollte man dann vielleicht Nelson Mandela um Vermittlung bitten.

Atwan: Das hoffe ich von ganzem Herzen.

Aus: Die Presse, Wien, 02.01.2004


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