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Vielleicht sehen wir Schweine fliegen

Warum der amerikanische Krieg nach Pakistan zieht

Von Tariq Ali *

Warum haben die USA beschlossen, einen so wichtigen Verbündeten derart zu schwächen, wie das seit Monaten der Fall ist? In Pakistan ist immer öfter die Ansicht zu hören, dies sei ein sorgfältig geplanter Schritt, um den pakistanischen Staat weiter zu destabilisieren, indem man eine Krise herbeiführt, deren Auswirkungen weit über die Einöden im Grenzgebiet zu Afghanistan hinausreichen. Dahinter stehe das Ziel, Pakistan seine nuklearen Reißzähne zu ziehen. Träfe das zu, müsste Washington tatsächlich entschlossen sein, den pakistanischen Staat zu zerschlagen, da das Land ein Desaster solchen Ausmaßes schlichtweg nicht überleben würde.

Meiner Auffassung nach hat die Ausweitung des Krieges viel mehr mit der von der Bush-Regierung zu verantwortenden desaströsen Besetzung Afghanistans zu tun. Das Regime des Präsidenten Karsai gerät mit jedem Tag mehr in die Isolation, während die Kämpfer der Taliban immer näher an Kabul heranrücken.

Es ist ein altes imperiales Credo, einen Krieg im Zweifelsfall eskalieren zu lassen. Insofern bezeugen die US-Militärschläge gegen Pakistan den verzweifelten Versuch, einen Feldzug zu retten, der inzwischen vollkommen aus dem Ruder zu laufen droht. Man kann sie vergleichen mit der Entscheidung Präsident Nixons und seines damaligen Sicherheitsberaters Henry Kissinger aus dem Jahr 1970, Kambodscha zu bombardieren und dann dort einzumarschieren. Eine Entscheidung, die schließlich Pol Pot und seine Monster [1] an die Macht brachte.

Es stimmt, dass Guerilla-Verbände, die gegen die NATO-Besatzung kämpfen, mit Leichtigkeit die pakistanisch-afghanische Grenze passieren. Allerdings haben die USA bis zuletzt oft heimlich mit den Aufständischen verhandelt. Mehrere Fühler wurden in Richtung der pakistanischen Taliban ausgestreckt, der US-Geheimdienst schaut regelmäßig im Serena Hotel von Swat vorbei, um mit dem örtlichen Führer Mullah Fazlullah zu verhandeln, der kein Hehl aus seinen Sympathien für die Taliban macht. Gleiches geschieht auch auf der anderen Seitre der Grenze.

Nach der Invasion der Amerikaner in Afghanistan vor sieben Jahren wechselte eine ganze Gruppe der mittleren Taliban-Führungsschicht nach Pakistan hinüber, um sich neu zu formieren. 2003 begannen ihre Guerilla-Einheiten wieder mit Angriffen auf die Besatzungstruppen jenseits der Grenze. 2004 schlossen sich ihnen ortsansässige Rekruten einer neuen Generation an, die erst durch die Besatzung radikalisiert worden waren und bei denen es sich keineswegs allein um Djihadisten handelte.

In gewisser Hinsicht ist es die Ausbreitung des Kapitalismus, die dazu beiträgt, dass weltweit die Hegemonie der USA erodiert

Obwohl in der Wahrnehmung der von den westlichen Medien beherrschten Welt die Taliban vollständig mit al-Qaida verschmolzen sind, lässt sich ihre Position vielfach aus der Situation vor Ort erklären. Würden die NATO und die USA Afghanistan irgendwann räumen, würde sich die politische Gangart dieser Leute vermutlich kaum noch von jener der domestizierten pakistanischen Taliban unterscheiden.

Afghanistans Neo-Taliban beherrschen heute mindestens 20 Bezirke in den Provinzen Kandahar, Helmand und Uruzgan. Es ist kein Geheimnis, dass viele Beamte in dieser Gegend enge Kontakte mit der Guerilla pflegen. Obwohl deren Operationen oft als Bauernaufstand charakterisiert werden, müssen diese Taliban-Milizen die Städte im Süden längst nicht mehr meiden. 2006 konnten sie in Kandahar sogar zu einer Art Tet-Offensive ausholen wie die Vietcong-Verbände 1968 in Südvietnam. Andernorts machen Mullahs, die ursprünglich als Verbündete von Präsident Karsai galten, nun Stimmung gegen "die Ausländer" und die Regierung in Kabul. Erstmals werden auch in den nicht-paschtunischen nordöstlichen Grenzprovinzen Takhar und Badakhsahn Jihad-Rufe laut.

Die Neo-Taliban haben verkündet, sie würden sich in Kabul an keiner Regierung beteiligen, solange die Ausländer nicht das Land verlassen. Dies führt zu der Frage, welche strategischen Ziele die Amerikaner eigentlich verfolgen. Trifft zu, was der NATO-Generalsekretär de Hoop Scheffer jüngst vor Gästen des Brooklyn Institute angedeutet hat, dass nämlich der Krieg in Afghanistan wenig damit zu tun habe, dort so etwas wie "Good Governance" durchzusetzen, ja nicht einmal damit, die Überreste von al-Qaida zu beseitigen? Gibt es jenen Masterplan, den ein Stratege in der Zeitschrift NATO Review im Winter 2005 skizzierte: Nämlich den Fokus der NATO über die euro-atlantische Zone hinaus zu erweitern, da "die NATO im 21. Jahrhundert ein Bündnis werden muss, das in der Lage ist, die systemische Stabilität über seine Grenzen hinaus sicherstellen"? Weiter hieß es im gleichen Text: "Auf unserem Planeten verlagert sich das Gravitationszentrum der Macht unweigerlich in Richtung Osten. Mit dieser Verlagerung ändert sich auch der Charakter der Macht selbst. Der asiatisch-pazifische Raum verleiht der Welt zahlreiche dynamische und positive Impulse, doch ist der dortige rasche Wandel bisher weder stabil noch in stabile Institutionen eingebettet. Bis das erreicht wird, ist es die strategische Verantwortung von Europäern und Nordamerikanern wie der von ihnen errichteten Institutionen bei den Bemühungen um strategische Stabilität die Führung zu übernehmen In einer Welt wie der unseren ist Leistungsstärke im Sicherheitsbereich ohne ausreichende Legitimität und entsprechende Fähigkeiten nicht möglich."

Eine solche Strategie würde eine permanente Militärpräsenz an den Grenzen sowohl Chinas als auch des Iran bedeuten. Angesichts der Tatsache, dass dies für die Bevölkerungsmehrheit in Pakistan und Afghanistan nicht hinnehmbar ist, würde es die Region in einen Zustand des permanenten Chaos versetzen, zu immer mehr Gewalt und Terror führen und die Sympathie für den jihadistischen Extremismus stetig wachsen lassen, was im Umkehrschluss die weitere Überdehnung eines ohnehin schon überdehnten Empire zur Folge hätte.

Anhänger der Globalisierung suggerieren, die Hegemonie der USA und die Ausbreitung des Kapitalismus seien zwei Seiten derselben Medaille. War dies im Kalten Krieg zweifellos noch der Fall, so lässt sich das Verhältnis der beiden, die gestern noch ein Zwillingspaar waren, heute fast besser begreifen, wenn man es als Gegensatz denkt. Denn in gewisser Hinsicht ist es die Ausbreitung des Kapitalismus, die dazu beiträgt, dass die Hegemonie der USA in der Welt nach und nach erodiert. Premier Putins Triumph in Georgien belegt dies auf eindrückliche Weise. Der von den Amerikanern in den vergangenen Jahren unternommene Versuch, weiter in den Mittleren Osten vorzustoßen, um Washingtons Primat gegenüber den eurasischen Mächten zu demonstrieren, ist schwerer Konfusion gewichen und bedarf nun der Hilfe derer, die damit beeindruckt werden sollten.

Pakistans neuer Präsident Asif Zardari, ein korrupter "Pate" par excellence, signalisierte seine Unterstützung für die Strategie der USA, indem er Afghanistans Staatschef Hamid Karsai als einzigen ausländischen Führer zu seiner Vereidigung nach Islamabad bat. Dass er sich mit dem in Kabul diskreditierten Vasallen sehen ließ, mochte zwar im Weißen Haus Eindruck machen - es schadet aber dem Witwer Benazir Bhuttos im eigenen Land, und zwar gewaltig.

Pakistan, Iran, Indien und Russland könnten eine stabile Regierung in Kabul und den Wiederaufbau in Afghanistan gewährleisten

Die Schlüsselrolle kommt in Pakistan wie immer den Streitkräften zu. Sollten die erwähnten Kommando-Unternehmen und Bombenangriffe der Amerikaner die Lage weiter eskalieren lassen, könnte dies die viel gepriesene Einheit der obersten Militärführung einer echten Belastungsprobe aussetzen. Bei einem Treffen von ranghohen Militärs am 12. September in Rawalpindi erhielt Generalstabschef Ashfaq Kayani volle Zustimmung für seine relativ moderate, aber öffentliche Verurteilung der jüngsten US-Militärschläge in Pakistan. Er sagte, Grenzen und Souveränität des Landes würden "um jeden Preis" verteidigt. Dies zu behaupten, ist das eine, einem solchen Versprechen auch Taten folgen zu lassen, das andere - dies ist der Kern des Widerspruchs. Vielleicht hören die US-Angriffe am 4. November auf, dem Tag der US-Präsidentschaftswahl, vielleicht werden wir Schweine fliegen sehen, vielleicht erleben wir ein Wunder. Aber nur vielleicht.

Was die Region indes wirklich braucht, das ist ein Plan für einen Rückzug des Westens (der NATO wie der US-Streitkräfte der Operation Enduring Freedom) aus Afghanistan und für eine regionale Lösung unter Einschluss Pakistans, Irans, Indiens und Russlands. Diese vier Staaten könnten eine stabile Regierung in Kabul und einen tatsächlichen Wiederaufbau in Afghanistan gewährleisten. Die NATO, besonders aber die Amerikaner, sind grandios gescheitert.

[1] Gemeint ist das Regime der Roten Khmer, die Kambodscha von 1975 bis 1979 regierten und deren Terror etwa zwei Millionen Menschen zum Opfer fielen.

Übersetzung: Holger Hutt

* Aus Wochenzeitung "Freitag", Nr. 43, 23. Oktober 2008 (Rubrik: "Dokument der Woche")


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