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"Der Westen trägt eine wesentliche Mitschuld"

Nach den jüngsten Anschlägen wird Pakistan zu einem "Zentrum des Terrorismus" stilisiert. Interview

Shahid Fiaz über Islamisten in Pakistan und das Terror-Problem

Shahid Fiaz ist Generalsekretär der pakistanischen Sektion des Südasien-Forums für Menschenrechte (South Asia Forum for Human Rights, SAFHR) und aktives Mitglied des Forums für Frieden und Demokratie in Pakistan. Der 36-Jährige lebt in Lahore. Über die politische Situation in seiner Heimat im Zeichen des internationalen "Antiterrorkampfes" sprach mit ihm Stefan Mentschel*.

ND: Seit den Anschlägen von London wird Pakistan in den westlichen Medien als Zentrum des islamistischen Terrorismus dargestellt. Teilen Sie diese Einschätzung?

Fiaz: In Pakistan gibt es Elemente, die Formen des gewalttätigen Widerstands unterstützen. Doch die Existenz dieser Leute – mögen wir sie »Terroristen« oder »Dschihadis« nennen – muss in einem größeren politischen und historischen Zusammenhang gesehen werden.

Bitte werden Sie konkreter.

Ende der 70er Jahre hatten in Iran die Islamisten das Zepter übernommen. Daher blieb den USA und anderen westlichen Staaten nur noch Pakistan als Basis, um dem wachsenden Einfluss der Sowjetunion in Afghanistan Einhalt zu gebieten und ihre Interessen in der Region durchzusetzen.

Die pakistanische Führung hat sich dafür vereinnahmen lassen?

Von 1977 bis 1988 herrschte in Pakistan ein Militärregime. Diktator Zia ul-Haq hatte gegen eine demokratisch legitimierte Regierung geputscht und tausende Oppositionelle verhaften lassen. In den frei werdenden politischen Raum rückten religiöse Organisationen und das Militär. Der Westen drückte trotz massiver Menschenrechtsverletzungen beide Augen zu. Ul-Haq revanchierte sich und wurde zum willfährigen Verbündeten im Kampf gegen den Kommunismus. So konnten mit Hilfe des pakistanischen Geheimdienstes Millionen US-Dollar und modernste Waffen an die in Afghanistan gegen die Rote Armee kämpfenden Mudschahedin weitergeleitet werden. Zudem wurden die Mudschahedin in Pakistan militärisch ausgebildet.

1988 zogen die sowjetischen Truppen aus Afghanistan ab.

Richtig. Und hier beginnt das eigentliche Problem. Die zahlreichen religiösen Schulen, die während des Afghanistan-Krieges mit dem Geld des Westens und der reichen Golfstaaten zu Trainingslagern für die Mudschahedin ausgebaut worden waren, hatten von heute auf auf morgen ihre Funktion verloren. Die einst mit dem Westen verbündeten religiösen Kämpfer wurden nicht mehr gebraucht. Doch es gab andere Kräfte wie die Taliban, die sich ihrer annahmen.

Pakistan hat das Taliban-Regime in Afghanistan 1996 als weltweit erstes Land anerkannt.

Darum geht es nicht. Wir sollten nicht vergessen, dass sich der Westen nach dem Ende des Kalten Krieges weder für die innenpolitische Situation in Pakistan noch die in Afghanistan interessiert hat, solange seine eigenen Interessen davon unberührt blieben. Mehr noch: Die USA haben den Taliban Tür und Tor geöffnet, als es um lukrative Erdölgeschäfte ging. Erst nach dem 11. September 2001 hat sich der Umgang schlagartig geändert.

Der Westen hat also ein Jahrzehnt lang das von ihm wesentlich mitverursachte Problem des militanten Islamismus ignoriert.

Der Geist ist aus der Flasche. Nun müssen wir ihn wieder in den Griff bekommen.

Wie könnte das geschehen?

Es bringt niemanden weiter, Pakistan allein für das Dilemma verantwortlich zu machen. Der Westen trägt eine wesentliche Mitschuld. Daher müssen sich die USA und die anderen Staaten ernsthaft mit den Problemen Pakistans beschäftigen.

Aber der Westen unterstützt Präsident Pervez Musharraf massiv im »Krieg gegen den Terror«.

Der Westen kann nicht vorgeben, ernsthaft an der Bekämpfung terroristischer Elemente in Pakistan interessiert zu sein, wenn er gleichzeitig einen Militärmachthaber unterstützt, der die demokratischen Freiheiten einschränkt...

... und inzwischen vehement gegen religiöse Eiferer vorgeht.

Eben nicht. Musharraf hält sein Regime mit Hilfe dieser Elemente am Leben. Er hat die demokratischen und säkularen Kräfte isoliert und in den vergangenen Jahren nichts getan, um die Institutionen der Extremisten zu zerschlagen. Auch die zu Gunsten der »Dschihadis« durchgesetzten Verfassungsänderungen sind weiterhin in Kraft. So lange die pakistanische Führung diese Strukturen nicht in Frage stellt, halte ich Veränderungen in unserem Land für ausgeschlossen. Die Festnahme von ein paar Hundert Fanatikern hilft da wenig.

Wie bewerten Sie die Rolle pakistanischer Extremisten bei den jüngsten Anschlägen in London?

Die Anschläge wurden nicht von Pakistanern ausgeführt. Alle vier Attentäter waren britische Staatsbürger. Sie wurden in England geboren, sind dort aufgewachsen und ausgebildet worden. Sicherlich waren sie für ein paar Monate in Pakistan, aber ich glaube nicht, dass unsere Gesellschaft irgendeine Schuld trifft. Dass es in Pakistan ein paar Tausend Muslime gibt, die die Ideologie des Terrors unterstützen, kann man nicht verallgemeinern.

Glauben Sie, dass die Islamisten eine Gefahr für die innere Stabilität und Sicherheit Pakistans sind?

Nein. Zwar ist ihre Zahl gestiegen. Auch sind sie besser organisiert und finanzstärker als in den Jahren zuvor. Doch sie sind nach wie vor mit den Geheimdiensten verzahnt – nicht nur dem pakistanischen, sondern auch den US-amerikanischen. Man könnte diese Elemente also in Schach zu halten. Die Frage ist, ob es den politischen Willen dazu gibt.

Gibt es ihn?

Ich bin der Ansicht, die politische Elite ist derzeit nicht dazu bereit.

Wie nimmt die pakistanische Bevölkerung die Extremisten wahr?

Pakistan ist kein fundamentalistischer Staat. Die Mehrheit hat immer für säkulare Parteien votiert. Und sie würde es wieder tun, wenn es freie und faire Wahlen gäbe. Ein demokratisches Pakistan könnte diese Elemente bei entsprechender Gesetzgebung erfolgreich bekämpfen. Gegenwärtig sehe ich dafür jedoch wenig Chancen. Nicht nur wegen der innenpolitischen Ausgangslage, sondern auch auf Grund der Politik der USA in Afghanistan und Irak, die manchen jungen Muslim in die Arme der Islamisten treibt.



Geschichte

Pakistan wurde am 14. August 1947 aus den vorwiegend von Muslimen bewohnten Gebieten Britisch-Indiens als neuer Staat gegründet. Damit kam die britische Kolonialmacht der seit 1940 von der Muslim-Liga erhobenen Forderung nach einem eigenen Staat nach. Es entstanden die 1600 Kilometer voneinander entfernt liegenden Landesteile West- und Ostpakistan. Die erste Verfassung trat im März 1956 in Kraft, mit der Pakistan als Islamische Republik proklamiert wurde.

Im Jahrzehnt nach der Unabhängigkeit beherrschte die Muslim-Liga die politische Szene. Das Militär übernahm erstmals im Jahr 1958 die Macht. Bis 1969 regierte General Ayub Khan. Sein Nachfolger Yahya Khan führte das Land bis 1971. Nach der Unabhängigkeit Ostpakistans (dann Bangladesch) übernahm in Pakistan die demokratisch gewählten Pakistanische Volkspartei (PPP) von Zulfikar Ali Bhutto die Regierung.

Nach einem Militärputsch kam 1977 General Zia ul-Haq an die Macht. In seiner Regierungszeit wurde Pakistan zu einem Frontstaat im Kampf gegen den sowjetischen Einfluss in Südasien. Allein 1981 erhielt das Land von den USA Militär- und Wirtschaftshilfe in Höhe von 3,2 Milliarden US-Dollar für einen Zeitraum von sechs Jahren.

Nach dem Tod ul-Haqs 1988 wurde Benazir Bhutto von der PPP Premierministerin. Sie regierte bis 1990 sowie von 1993 bis 1997. Nawaz Sharif von der Muslim-Liga war von 1990 bis 1993 sowie von 1997 bis 1999 Regierungschef. In seiner Amtszeit testete Pakistans 1998 erstmals Kernwaffen.

Die Periode gewählter Regierungen beendete im Oktober 1999 der Putsch von General Pervez Musharraf. Im Juni 2001 löste er das Parlament auf und übernahm das Präsidentenamt. Die Anschläge vom 11. September 2001 haben sein Regime salonfähig gemacht. Pakistan wurde zum treuen Vasallen der USA im »Krieg gegen den Terror«.

S.M.


* Aus: Neues Deutschland, 28. Juli 2005


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