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Offene Fragen in Islamabad

Terrornetzwerk Al Qaida geschwächt / Bedrohung durch regionale Gruppen und Einzeltäter

Von Olaf Standke *

Ein Jahr nach Tötung des Al-Qaida-Chefs hat Pakistan dessen Familie abgeschoben. Doch der Bin-Laden-Fluch liegt weiter über dem Land.

Die drei Witwen Bin Ladens und ein Dutzend Kinder verließen vor einigen Tagen Pakistan mit einer Sondermaschine Richtung Saudi-Arabien, das sie »aus humanitären Gründen« aufnahm. Die Frauen waren bei dem Killereinsatz eines US-Kommandos in der Garnisonsstadt Abbottabad am 2. Mai 2011 festgenommen worden. Seitdem standen sie in einer Villa in Islamabad unter Hausarrest und wurden wegen illegalen Aufenthalts in Pakistan zu 45 Tagen Gefängnis und einer kleinen Geldstrafe verurteilt. Beobachter gehen davon aus, dass man an einer schnellen Abschiebung interessiert war, bevor sie weitere Details über ihr Leben in Pakistan preisgeben konnten. Denn der Osama-bin-Laden-Fluch liegt weiter über dem Land.

Zwar wurde inzwischen auch sein Haus abgerissen, Ende Februar machten es Bulldozer dem Erdboden gleich. Doch wie der Terroristenführer nur 100 Kilometer von der Hauptstadt entfernt in Sichtweite einer der wichtigsten Militärakademien des Landes fast zehn Jahre lang ungestört leben konnte, hinterlässt weiter offene Fragen.

Vor allem: Warum versagte der pakistanische Geheimdienst ISI, wer waren Bin Ladens Komplizen? Offiziell gaben sich auch Regierung und das allmächtige Militär erstaunt; von einer bedauerlichen Panne der Sicherheitskräfte war die Rede, eine Untersuchungskommission wurde eingesetzt. Ergebnisse allerdings liegen bis heute nicht vor. Und Islamabad zeigt weiter wenig Interesse an einer Lösung des Konflikts im benachbarten Afghanistan.

Washington jedenfalls weihte die Pakistaner, immerhin wichtige Verbündete im Anti-Terrorkrieg, vorab nicht in die Kommandoaktion der Navy Seals mit zwei Tarnkappen-Hubschraubern ein. Durch eine vorgetäuschte Polio-Vorsorgeaktion soll zuvor ein pakistanischer Amtsarzt in Abbottabad der CIA geholfen haben, an bestätigende DNA-Proben der Bin-Laden-Familie zu kommen - er wurde später entlassen, ihm droht inzwischen ein Verfahren wegen Landesverrats. Islamabad war empört über das eigenmächtige Vorgehen der USA auf pakistanischem Territorium. Bis heute sind die bilateralen Beziehungen schlecht, zumal Washington die Forderungen nach einem Ende der völkerrechtswidrigen US-Drohneneinsätze in Pakistan ignoriert.

Bin Ladens Leiche wurde auf einen US-Flugzeugträger geflogen und an einer unbekannten Stelle im Arabischen Meer versenkt. Al Qaida existiert weiter, auch wenn Experten das Terrornetzwerk geschwächt sehen. Die Obama-Regierung will noch in dieser Woche Aufzeichnungen veröffentlichen, die im Versteck Bin Ladens beschlagnahmt wurden. In den Dokumenten beklagte er u.a., dass seine Organisation »Desaster nach Desaster« erleide, sagte Obamas wichtigster Anti-Terrorberater John Brennan am Montag in einer Rede in Washington.

Bin-Laden-Nachfolger Aiman al-Sawahiri sei es bisher nicht gelungen, alle Flügel der Organisation unter seinem Kommando zu vereinen, so eine französische Analyse. Allein der Zweig in Jemen habe offiziell seine Autorität anerkannt. Die Fähigkeit der Führung, selbst Anschläge zu organisieren, sei stark eingeschränkt. Heute konzentriere sie sich vor allem darauf, Inspiration für Ableger in Jemen, in Irak und in Nordafrika zu geben.

Was unter dem Namen Al Qaida firmiere, seien vielfach regionale islamistische Rebellengruppen, die kein gemeinsames Zentrum und Ziel haben. »Umso mehr Al Qaida unter Druck steht, desto schwieriger ist die Vorbereitung großer Anschläge und desto mehr wird man im Westen Individuen zur Planung und Ausführung von Angriffen zu rekrutieren suchen«, schrieb die Europäische Polizeibehörde Europol unlängst in einem Report.

Auch Robert Cardillo, Vize-Chef des Büros des Nationalen Geheimdienstdirektors (DNI) in Washington, geht davon aus, dass in Zukunft die meisten Terrorattacken von regionalen Gruppierungen verübt würden. Allerdings rechneten die Geheimdienste im kommenden Jahr nicht mit einem Anschlag mit chemischen, biologischen, radiologischen oder nuklearen Waffen in den USA. Doch stellten Einzelkämpfer, die sich mit Waffen versorgten, hauptsächlich ihren eigenen Zeitplan und ihre eigenen Ziele hätten, eine große Bedrohung dar. Solche Leute seien die »schwierigsten Ziele« für die Geheimdienste.

US-Drohnen »ethisch«

Barack Obamas Terrorabwehr-Spezialist John Brennan hat den Einsatz von Drohnen gegen Terrorverdächtige als »ethisch« und »legal« verteidigt. »Ja, die Regierung führt gezielte Angriffe gegen spezifische Al-Qaida-Terroristen durch, in voller Übereinstimmung mit dem Gesetz - und um Terroranschläge gegen die USA zu verhindern und amerikanische Menschenleben zu retten«, sagte er am Montag in Washington. Derart direkt hatte sich zuvor noch niemand in der USA-Regierung über das geheime Programm geäußert. Präsident Obama habe seine Administration um mehr Offenheit in dieser Frage ersucht. Der Berater machte zugleich klar, dass die Regierung den Drohneneinsatz nicht leicht nehme. »Wir prüfen auch, ob eine Entscheidung, auf einen Angriff zu verzichten, es erlauben könnte, dass eine Terrorattacke ausgeführt wird und möglicherweise viele Unschuldige getötet werden.« AFP/nd



* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 2. Mai 2012


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